Eine persönliche Erinnerung an den verstorbenen Patriarchen der serbisch-orthodoxen
Kirche, Pavle I., von Tihomir Popovic: "An jenem 1. Juni
2000 war alles ungewöhnlich. Der Serbische Patriarch Pavle I., ein Mensch von denkbar
bescheidener Ausstrahlung und monastischer Lebensweise, sollte gerade an einem Tag
nach Hannover kommen, an dem in derselben Stadt auch die Eröffnung der Weltausstellung
stattfand. Und dann sollte dieser stille Mensch, der in Belgrad am liebsten zu Fuß
ging, zur Kirche auch noch mit einem Hubschrauber fliegen, da auf den Straßen Hannovers
wegen der EXPO-Eröffnung erhöhte Staugefahr herrschte.
Wenn es aber je gelungen
war, einen Anflug mit dem Hubschrauber in Bescheidenheit, Stille und Unauffälligkeit
zu vollziehen, dann gelang dies Patriarch Pavle am 1. Juni 2000, als er nach Hannover
kam, um die serbische orthodoxe Kirche des Hl. Sava zu weihen. Das Kirchenoberhaupt
traf zu früh ein, noch bevor die Gemeindehonoratioren einen ordentlichen Empfang auf
dem einige Hundert Meter von der Kirche entfernten Landeplatz organisieren konnten.
Als er ausstieg, versuchten einige der schnell zu ihm geeilten Gemeindeglieder, ihn
etwas aufzuhalten, um dann in einer würdevollen Prozession in Richtung Kirche zu schreiten.
Der Patriarch war aber offensichtlich darauf bedacht, schnell in die Kirche zu kommen
und begab sich dahin mit einer solchen Geschwindigkeit, die auch so manchem jüngeren
Mann in seiner Begleitung zu schaffen machte. Er wirkte eher wie ein Mönch, der sich,
dem Ruf des klepalo folgend, beeilt, in das Gotteshaus zu gelangen, als der Vorsteher
einer Kirche mit mehreren Millionen Gläubigen in der ganzen Welt.
Die
Konzentration, mit der Patriarch Pavle, ein großer Liturgiker und Kenner des orthodoxen
Kirchengesangs, Gottesdienste zelebrierte, ist beinahe sprichwörtlich. Auch in Hannover
erinnert sich der Gemeindepfarrer, Vater Milan Pejic, mit Bewunderung – und jetzt
auch mit Wehmut – der Hingabe, die der Patriarch beim Zelebrieren ausstrahlte. Nach
der Weihe und der Hl. Liturgie veranstaltete die Kirchengemeinde ein Festessen mit
allem, was in der serbischen Tradition dazu gehört: Gespart wird bei den Serben auch
bei geringeren Gästen nicht, geschweige denn, wenn das Kirchenoberhaupt zu Besuch
kommt. Der Patriarch blieb aber seinen asketischen Gewohnheiten treu, aß nur ein wenig
Weißkohl und Brennnessel und zog sich bald in eine Wohnung im Gemeindehaus zurück.
Dort besuchte ich ihn, um ihn auf die bevorstehenden Termine mit deutschen Gesprächspartnern
vorzubereiten.
Meine stärkste Erinnerung an diese Begegnung mit Patriarch Pavle
I. ist die von – Schönheit! Der Patriarch war ein wirklicher „Kaludjer“ (serb. = Mönch),
ein „Kalogeros“, ein schöner alter Mensch: „Kalos“ war er natürlich nicht im Sinne
einer klassischen physischen Schönheit, sondern sein wahres Schönsein des Geistes
fand einen ungewöhnlich klaren Ausdruck in seinen in sich ruhenden Gesichtszügen,
seinen andachtsvollen Gebärden und in seinem meditativ-durchdringenden Blick. Er wirkte
auf mich wie ein geistlicher Vater und er verstand sich auch als der geistliche Vater
aller orthodoxen Serben. Auch in den Gesprächen, die Patriarch Pavle an jenem 1. Juni
2000 nach der Weihe der Kirche in Hannover führte, und bei denen ich in seiner Begleitung
sein durfte, war er vor allem darauf bedacht, sich um das geistige Wohl der Serben
in Deutschland zu erkundigen, dieses Wohl zu mehren und all denjenigen zu danken,
die dazu beigetragen hatten, dass es gefördert wird.
Unter anderem begegnete
der Patriarch Margot Käßmann, der hannoverschen Landesbischöfin und jetzigen Ratsvorsitzenden
der Evangelischen Kirche in Deutschland, Josef Homeyer, dem nunmehr emeritierten Bischof
von Hildesheim, sowie Vertretern des Vatikans und der Niedersächsischen Landesregierung.
Ganz besonders interessierte sich Patriarch Pavle dabei für die Stellung des Religionsunterrichts
im niedersächsischen Bildungssystem. Er war zutiefst dankbar, dass man in einigen
Bundesländern Deutschlands den orthodoxen Religionsunterricht an staatlichen Schulen
anbietet. Denn zu jenem Zeitpunkt war das selbst in Serbien nicht möglich: Das Land
war immer noch in den Händen eines Regimes, das der direkte Nachfolger des kommunistischen
Einparteiensystems war. Dass es den Serben „in der Fremde“ leichter möglich war, ihre
religiöse Identität zu pflegen als in der Heimat, schien den Patriarchen tief zu beeindrucken.
Er griff das Thema immer wieder auf und wirkte voller Liebe für die Menschen, die
seinem Volk etwas ermöglichten, das ihm zu jenem Zeitpunkt nicht einmal im eigenen
Land möglich war.
Patriarch Pavle konnte gut mit Politikern sprechen, war aber
kein homo politicus im gewöhnlichen Sinn des Wortes. Seine Interessen waren ausschließlich
geistig und geistlich und sein soziales und politisches Denken stand unter dem alles
beherrschenden Vorzeichen der christlichen Ontologie. So mag es jeden, der Patriarch
Pavle kannte, schmerzen, dass in den Meldungen deutschsprachiger Medien anlässlich
seines Todes immer wieder die – immer sehr vagen – Hinweise auf seine vermeintliche
Unterstützung des serbischen Nationalismus oder gar eine indirekte Verstrickung in
die Kriege der neunziger Jahre auftauchen. Auch nach seinem Tod scheint der Patriarch
auf diese Weise das Kreuz seines Volkes zu tragen: Die Taten, die er während seiner
Zeit als Patriarch verurteilte, werden in einem Moment mit ihm in Verbindung gebracht,
in dem er sich nicht mehr irdisch verteidigen kann. Er trägt dieses Kreuz genauso
wie die orthodoxen Gotteshäuser im Kosovo-Metohija, die seit 1999 zerstört werden,
weil sie von Serben für Serben errichtet wurden, nicht weil sie orthodoxe Kirchen
waren. Vielleicht können wir Serben uns in Zukunft daher bemühen, unsere Schulden
selbst zu tragen, um nicht nur unsere Besten mit diesen zu belasten."
(Der
Autor wirkt als Hochschullehrer in Hannover und Osnabrück, ist Vizepräsident des Rates
und Vorstandes der Serbischen Orthodoxen Diözese für Mitteleuropa - Deutschland, Österreich,
Liechtenstein und die Schweiz - sowie Verantwortlicher Redakteur ihres Informationsdienstes.
Veröffentlichungen zur Musikgeschichte und– theorie, der Kulturgeschichte Südosteuropas
und Integrationspolitik in Deutschland.) (rv 20.11.2009)