2017-09-17 09:00:00

Menschen in der Zeit: Viktor Frankl – 20 Jahre nach seinem Tod


Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie entstammte einer jüdischen Familie. Er wurde am 26. März 1905 in Wien geboren. Seine Mutter bezeichnete Frankl stets als „die personifizierte Güte“, seinen Vater, Verwaltungsbeamter in Wien, als „die personifizierte Gerechtigkeit“. Für beide sehr religiöse Elternteile verspürte Viktor Frankl eine tiefe Liebe und Anhänglichkeit. Frankl hatte noch zwei Geschwister, seinen Bruder Walther und seine Schwester Stella. Alle, außer Stella, also der Vater, die Mutter, der Bruder und die erste Frau Viktor Frankls, kamen in den Konzentrationslagern der Nazis um. Viktor Frankl selbst war drei Jahre lang in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern interniert. Nach der Befreiung kehrte Frankl nach Wien zurück mit dem Gefühl, nach all dem Erlittenen nichts auf der Welt mehr fürchten zu müssen, außer seinen Gott.  

Frankl war schon als Kind ein Suchender, ein ewig Fragender, der immer etwas wissen wollte, immer mehr wissen wollte, wie er selbst sagte. Arzt wollte Frankl schon seit den frühesten Lebensjahren werden. Nach der Schule studierte er an der Universität seiner Heimatstadt. 1930 promovierte er zum Arzt und 1949 zum Philosophen. Von 1940 bis 1942 war Frankl Vorstand der Nervenstation des Spitals der israelischen Kultusgemeinde Rothschild-Spital in Wien. Bereits als Mittzwanziger ließ Frankl jene im Dritten Reich auf die Probe gestellte Lebenshaltung erkennen, die auch seine spätere Berufslaufbahn so nachhaltig prägte; nämlich, dem Leben trotz allen Leids einen Sinn abzugewinnen. Aber wie? Durch ein erfülltes Schaffen; durch Hingabe an etwas oder jemand anderen, durch die Umwandlung menschlichen Leidens in menschliche Leistung.

Wien, die Stadt von Viktor Frankl, ist historisch gesehen von drei wichtigen psychologischen Richtungen geprägt. Von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, von Alfred Adler, dem Individualpsychologen und von Viktor Frankl und seiner Logotherapie, auch die „Dritte Wiener Richtung“ genannt. Logotherapie, das heißt, dem Leben einen Sinn geben; die Seele durch individuelle Sinnfindung heilen; denn Frankl hat sich Zeit seines Lebens dem Sinn, dem logos, verschrieben. Nicht dem Unbewussten, nicht dem Lustprinzip und auch nicht der Macht. Für ihn ist der Mensch heilbar, wenn er zukunftsorientiert ist und darin einen ganz persönlichen Lebenssinn findet. Frankl, der Anti-Existenzialist; Frankl, der Kopernikus der ärztlichen Seelsorge also. Hören wir nun Prof. Frankl selbst in einer seiner großen Vorlesungen.

„Eigentlich, oder zumindest ursprünglich, wird der Mensch in seinem Leben und in jeder gegebenen Situation, mit der er konfrontiert ist, einen Sinn sehen, eine Sinnmöglichkeit, die er aufgerufen ist, zu verwirklichen, ein Sinnpotential. Erst wenn er frustriert ist in diesem Willen zum Sinn, wie ich das nenne, dann flüchtet er in den bloßen Willen zur Macht, dann ist er besonders prestigesüchtig; oder in die primitivste Form des Willens zur Macht; dann begnügt er sich mit dem Mittel zum Zweck, weil er keinen Zweck sieht, weil er des Sinnes gar nicht ansichtig geworden ist, oder der Andere, der begnügt sich dann mit Lust. Lust ist aber eine Nebenwirkung der Sinnerfüllung, eine Nebenwirkung des Lebens, eine Nebenwirkung des seinem-Gewissen-gefolgt-habens, aber kein ursprünglicher Antrieb. Im Gegenteil: Wenn ich die Lust, die eine Nebenwirkung ist und bleiben muss, anpeile als mein Ziel; wenn ich zum Beispiel sexuell nur koitieren möchte, nur meine männliche Potenz, oder als Frau meine Orgasmusfähigkeit zu dokumentieren, zu beweisen, mir selbst oder meinem Partner gegenüber, dann, in dem Moment, scheitern diese Menschen, weil sie die Lust, die Nebenwirkung, zum Ziel machen.“

Die von Viktor Frankl entwickelte Konzeption heißt schlechthin: Menschen helfen. Sein Werk ist weltberühmt. Logotherapie-Institute gib es überall auf der Erde und bis zum heutigen Tag gibt es nach Angaben des österreichischen Rundfunks über 150 Dissertationen über diese Therapieform. Frankl war gleichzeitig Professor an der United States National University in San Diego, Kalifornien, an der Harvard University in Cambridge und an der Southern Methodist University in Dallas, Texas. Seine 32 Bücher sind in insgesamt 26 Sprachen übersetzt worden, einschließlich Chinesisch und Japanisch.

Wenn wir Frankl als Menschen näher betrachten, seine Werke lesen, seine Vorträge hören, dann sehen wir einen Menschen, der durch einen scharfsinnigen Geist, durch klares Denken und prägnante Begriffe hervorsticht. Diese wache Geistigkeit wird unterstrichen durch eine meisterhafte Rhetorik, die den Zuhörer schon bei den ersten Worten mitreißt und in seinen Bann zieht. Schon bei den ersten Worten konnte man in seinen Vorträgen das Gefühl haben: Hier spricht ein Großer. Frankl war auch ein sehr religiöser und gläubiger Mensch, aber er spricht darüber nicht oder kaum. In seiner tiefen religiösen Haltung ist sein Blick einzig auf Gott gerichtet, ist er mit seiner Intimität hingegeben an Gott. Diese Intimität gehört nur Gott, gehört nicht in anderer Menschen Hand. Und in welchem Verhältnis steht Frankl zu den großen Religionsgemeinschaften? Zur christlichen Religion fühlt er sich hingezogen, weil sie, wie keine andere, den positiven Wert des Leidens sieht. Seine Zugehörigkeit zur jüdischen Religion war nicht bekennend, aber traditionsbewusst. Sein persönlicher Glaube hingegen war sehr tief.

Man würde Viktor Frankl Unrecht tun, würde man in sein Lebenswerk und seinen Lebensstil nicht auch den Humor, die Heiterkeit, den Frohsinn mit einbeziehen. Ja, er hatte durchaus Sinn für Humor, und spricht ihn auch unverhohlen aus, etwa wenn er sagt:

„Der seinerzeit sehr bedeutende und in Amerika verstorbene Individualpsychologe, also Alfred Adlers Schüler Rudolf Dreikurs, der hat einmal gesagt: Ich bin Psychiater geworden, weil mir lieber ist, ich hab die Schlüssel zur Irrenanstalt in meinen Taschen, als die anderen haben sie in den Taschen. Wenn Sie mich nach meiner, sagen wir seriöseren, Auffassung fragen, muss ich sagen: Ein Psychiater wäre gar nicht Psychiater geworden, wenn er nicht irgendwelche psychopathologischen Züge in sich selbst entdeckt hätte, und sich dadurch für Psychiatrie überhaupt zu interessieren begonnen hätte. Aber ich muss hinzusetzen: Auch wenn er’s geworden wäre, er hätte es nicht bleiben können, wenn er nicht diese psychopathischen Züge von sich aus gekannt hätte, denn nur dann ist und bleibt er ein guter Psychiater, weil er umso mehr Einfühlungsvermögen hat für seine Patienten, weil er irgendwie alles ein bissl auch von sich selber kennt.“

Bekannt ist die Tatsache, dass Sigmund Freud alle Briefe, die er vom jungen Viktor Frankl erhielt, ausnahmslos beantwortete. Viktor Frankl war stolz darauf:

„Und einmal hab‘ ich ihm, noch als Mittelschüler, ein kleines Manuskript beigelegt; ohne die geringste Ambition selbstverständlich, ich war nicht größenwahnsinnig; und war ganz erstaunt und überrascht, um nicht zu sagen verlegen, als er mir dann zurückschrieb: Ja ich danke Ihnen, Herr Frankl, für Ihren Brief; das Manuskript habe ich mir erlaubt, weiterzuleiten an die Redaktion der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse, und dort ist es zwei Jahre später, 1924, auch tatsächlich erschienen. Im selben Jahr, wo es erschienen war, bin ich eines Tages im Votivpark, der interessanterweise jetzt zumindest teilweise Sigmund-Freud-Park heißt, und es steht auch seine Büste dort; da bin ich also durch den Park gegangen, neben der Universität; und da auf einmal seh‘ ich einen alten Herrn vorbeigehen, nervös mit dem schwarzen Spazierstock und silbernen Griff den Boden bearbeitend, und ich hatte schon den Eindruck, er murmelt etwas; aber es war kein Murmeln, es waren Verzerrungen seiner Kiefermimik, seiner Gesichtsmimik, weil er ja furchtbare Schmerzen trotz der 36 Operationen an seinem Kieferkrebs gelitten hat. Und ich denke, zum Teufel mal, der schaut ja genauso aus wie Sigmund Freud. Ich kannte ihn bis dahin ja nur von Fotografien; aber das kann ja unmöglich sein: Zerbeulter Hut, ein abgetragener grüner Mantel – warte einen Moment, hab‘ ich mir gesagt, gehen wir ihm nach, wenn er abbiegt in die Berggasse, kann es nur Sigmund Freud sein. Ich geh ihm nach, in Amerika sagt man: „I became a follower of Sigmund Freud“, das heißt, ich bin ihm nachgegangen, ich bin ihm gefolgt, und der follower heißt: ein Schüler, ein Nachfolger. Und er macht die Wendung in die Berggasse; darauf spreche ich ihn an und sag: Verzeihung, hab ich die Ehre, Herrn Professor Freud zu sprechen? Da sagt er: Ja, das bin ich. Sag ich: Meine Name ist Viktor Frankl. Sagt er: Moment! Viktor Frankl? (Tschernin)-gasse 6, Tür 25, zweiter Bezirk von Wien. Stimmt’s? Sag ich: Ja, genau. Er hat meine Adresse von der Korrespondenz, der jahrelangen, sich gemerkt.“

Mit dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich im März 1938 brach über Frankl ein neuer Lebensabschnitt voll Schwierigkeiten und Belastungen herein. Es war, als ob Frankl vom Schicksal in die Zange genommen würde. Ihm war sehr rasch klar, dass er unter dem „neuen Regime“ keine Erfüllung würde finden können. Er wollte, wie so viele andere auch, in die Vereinigten Staaten auswandern; doch da kam ein Wink von oben: Hören wir die bewegende, ja, erschütternde Episode von Frankl selbst.

„Eines Tages, kurz bevor die Amerikaner in den Krieg eingetreten waren, habe ich eine Einladung bekommen, ich soll zum amerikanischen Konsulat kommen und mein Visum abholen. Ich hatte Jahre hindurch auf dieses Visum gewartet und als es kam, waren meine Eltern freudestrahlend: Endlich kann der Vicky ins Ausland. Mein Bruder, meine Schwester, waren schon emigriert. Na, und ich freu‘ mich auch im ersten Moment; im nächsten Moment steigt der Graus in mir auf. Das heißt: Ich hab mir überlegt, ja was wird denn dann sein? Meine Eltern standen ja mit mir unter Deportationsschutz. Ich war damals Primarius der neurologischen Nervenabteilung im Rothschild-Spital, das war das jüdische Spital damals, und als solcher war ich davor bewahrt, jeden Augenblick nach Polen oder Auschwitz oder weiß Gott was geschickt zu werden. Und meine Eltern, solange das Rothschild-Spital natürlich besteht, meine Eltern waren mitgeschützt. Und wenn ich jetzt emigriert wäre, hätten sie diesen Schutz verloren. Da habe ich mich gefragt: Ja, wo liegt meine Verantwortung? Ich muss offen gestehen, es war ein Dilemma. Ich hab‘ hin und her überlegt; dann hab ich den Judenstern abgedeckt, mit einer Aktentasche, und hab mich zu dem bis heute noch jeden Mittwoch von sieben bis acht Uhr abends stattfindenden Orgelkonzert in den Stephansdom gesetzt. Um zu meditieren. Es hat nichts genützt.“

Als man das Rothschild-Spital 1940 schließt, wird Viktor Frankl mit seinen Eltern und seiner ersten Frau ins Konzentrationslager deportiert. Mutter, Vater und Frau müssen sterben. Frankl rettet sich. Aus seinen Notizen rekonstruiert Frank sein erstes Buch, das 1946 unter dem Titel „Ärztliche Seelsorge“ erscheint. Danach diktiert er in nur neun Tagen ein Buch über seine Erfahrungen im Konzentrationslager. „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ – ein absoluter Bestseller. Das Leben ist nach Viktor Frankl nicht nur sinnvoll zu gestalten, durch Schaffen, Leben, Lieben; sondern auch durch das rechte Leiden unabänderlichen Schicksals. Wie nahe lebte er an der christlichen Lehre. Wie nahe an den wiederholten Worten Papst Johannes Pauls II. Auch Vergänglichkeit und Tod machen menschliches Handeln nicht sinnlos; vielmehr werden die verwirklichten Sinnmöglichkeiten ins Vergangensein sozusagen hineingerettet.

Professor Viktor Frankl starb vor 20 Jahren 92-jährig in Wien. Hoch geehrt auf der ganzen Welt. Hören wir nun abschließend sein Testament von ihm selbst.

„Ich möchte ganz allgemein sagen, dass der Mensch immer etwas braucht, auf das hin er gerichtet ist; etwas, das nicht wieder er selbst ist; etwas, oder jemand. Das heißt eine Aufgabe, die er sich wählt und die er dann zu erfüllen hat. Und ein anderer Mensch, ein Partner, dem er in Liebe hingegeben ist. Also im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer Person verwirklicht der Mensch sich selbst. Ich möchte sagen: Ich habe den Sinn meines Lebens darin gesehen, anderen zu helfen, in ihrem Leben einen Sinn zu sehen.“

(rv 17.09.2017 ap)








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