Obwohl – oder weil - Ebola in Sierra Leone nun offiziell vorbei ist, wollen viele Menschen das Land verlassen. Denn die katastrophale Sozial- und Wirtschaftslage in Westafrika hält nach wie vor an: Das sagte der in Sierra Leone tätige Salesianerbruder Lothar Wagner am Montag der katholischen Presseagentur „Kathpress“. Eindringlich mahnte der Ordensmann zu einem grundsätzlichen Umdenken in der Entwicklungshilfe: Ohne Präventivmaßnahmen sei bereits im kommenden Frühjahr der Beginn eines Massenexodus „zehntausender“ junger Westafrikaner Richtung Europa zu befürchten: „Sie sitzen bereits auf ihren Koffern.“
Ebola ist in Sierra Leone überwunden, wie die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) am Samstag erklärt hat. „Die Ebola-Behandlungszentren sind leer, alle infizierten
Toten begraben, und auch in die Waisenhäuser kommen keine Kinder von Ebola-Opfern
mehr“, berichtete Wagner. 3.589 Ebola-Tote verursachte die Epidemie offiziell, „inoffiziell
ist die Opferzahl jedoch um ein Vielfaches höher: Viel mehr als sonst sind an Krankheiten
wie Malaria oder Typhus gestorben, da niemand die Erkrankten behandeln wollte“, erklärte
der Ordensmann.
Der aus Deutschland stammende Wagner leitet in Sierra Leones Hauptstadt Freetown die
Kinderschutzorganisation „Don Bosco Fambul“. Die Einrichtung betreibt die einzige
landesweite Gratis-Telefon-Hotline für Kinder und Jugendliche sowie Programme für
die rund 12.000 Ebola-Waisenkinder im Land. Therapeuten und Sozialarbeiter würden
für die Überlebenden dringend benötigt, so der Salesianer Don Boscos.
Paradies Europa
Hinzu komme, dass viele internationale Betriebe das Land aufgrund der Epidemie verlassen hätten, wodurch die Arbeitslosigkeit angestiegen und die Wirtschaft um 25 Prozent eingebrochen sei. Selbst in von Ebola verschonten Nachbarstaaten spüre man drastische Folgen, wie der Salesianer anhand des Beispiels Gambia aufzeigte: „Obwohl es hier keine Infektionen gab, droht nun ein Staatsbankrott, da der Tourismus völlig ausgefallen ist.“ Viele Familien seien auf Hilfsprogramme angewiesen in einem Land extremer Armut: Schon vor Ebola lebten zwei Drittel der Bevölkerung Sierra Leones von weniger als einem US-Dollar pro Tag.
Angesichts der Perspektivlosigkeit sei für viele Jugendliche Westafrikas die Migration zu einer denkbaren Option geworden, so Wagner. „Da bei ihnen das Gefühl vorherrscht, nicht gebraucht zu werden, hat das Interesse massiv zugenommen, das Land zu verlassen.“ Europa sei mit den Bildern der Syrienflüchtlinge ins Blickfeld gerückt, Wagner sprach von Vorstellungen über „paradiesische Zustände“: „Bei unseren Don Bosco-Einrichtungen häufen sich Anfragen, wie man zu einem Stipendium in Europa kommt - oder ob es stimmt, dass in Europa der Staat bei Arbeitslosigkeit ein Gehalt bezahlt. Was soll man da schon sagen?“ Viele Familien diskutierten schon jetzt, wer auf den weiten Weg nach Europa geschickt werden soll, und legten dafür Geld zusammen.
Papstwort über „Wirtschaft, die tötet“ trifft zu
Dringend benötige die gesamte Region „Fluchtprävention“durch Bekämpfung der Fluchtursachen
Hunger, Arbeitslosigkeit und Perspektivenlosigkeit, betonte Wagner. Nötig seien dazu
nicht so sehr finanzielle Investitionen, sondern vor allem die bessere Abstimmung
von Entwicklungs- und Handelspolitik, wo derzeit vieles im Argen liege: „So machen
etwa hoch subventionierte Reisimporte aus den USA vielen Reisbauern in Sierra Leone
das Leben schwer. Und Altkleider aus Europa zerstören wichtige Arbeitsplätze in der
heimischen Textilindustrie.“ Selbst Kleinkredit-Projekte würden im Land nicht greifen,
wenn die eigenen Produkte nicht verkauft werden könnten.
Profiteure dieser Situation seien allein die reichen
Staaten. „Wenn Papst Franziskus 'Diese Wirtschaft tötet' gesagt hat, so trifft dies
hier völlig zu“, mahnte der Ordensmann. Die Forderungen, die in der Enzyklika „Evangelii
gaudium“ enthalten seien, habe man „so klar noch von keiner NGO gehört“.
Wichtig sei, sich künftig an den Interessen der Menschen in den Armutsregionen der
Welt zu orientieren, betonte Wagner. Zielkataloge der staatlichen aber auch privaten
Entwicklungshilfe seien hingegen oft realitätsfern und vom „Eigeninteresse der Geber“
geleitet.
(kap/rv 09.11.2015 cz)
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