2014-12-07 10:35:00

Ein Krieg kennt keine Helden


„Die Erde bebt und zittert wie ein Stück Sülze, Leuchtkugeln erhellen die Dunkelheit mit ihrem weißen, gelben, grünen und roten Licht und lassen die langen, einsamen Pappelstümpfe unheimliche Schatten werfen. Und wir sitzen zwischen Bergen von Munition, teilweise bis zu den Knien im Wasser, und schießen und schießen, während rings um uns Granate um Granate den lehmigen Boden aufwühlt, unsere Stellung zerfetzt, Bäume ausreißt, das Haus hinter uns dem Erdboden gleichmacht und uns mit nassem Dreck bewirft, so dass wir aussehen, als kämen wir aus dem Moorbad. Das Rohr ist glühend heiß, die Kartuschen brennen noch, wenn wir sie aus dem Laderaum nehmen, und immer nur heißt es: Feuern! Feuern! Feuern!“

 

Die Batterie des Theologiestudenten und Artilleristen Gerhard Gürtler aus Breslau hatte mit Sperrfeuern dazu beigetragen, einen britischen Infanterieangriff abzuwehren und war dann selbst von der gegnerischen Artillerie unter Feuer genommen worden. Es ist der 10. August 1917. In einem Brief berichtet Gürtler von seinen Erlebnissen in der Flandernschlacht – sachlich zwar, aber auch verbittert. Dass sein Leben vom Zufall abhängt, weiß er. „Mein Geschütz ist das einzige, das keine Verluste zu beklagen hat“, schreibt er. Dann ebbt die Schlacht ab, und in der Batteriestellung werden die leeren Kartuschen eingesammelt, während neue Munition herangeschafft wird.

 

„Und jetzt kam das Nachspiel, wie es jede Schlacht – und nicht am wenigsten die Flandernschlacht – nach sich zieht: Sanitätssoldaten in langer Reihe mit ihren Tragbahren, die zur Hauptsammelstelle wollen, kleine und große Trupps Leichtverwundeter mit ihrem Notverband. Einige jammern und klagen, dass es einem den ganzen Tag im Ohre gellt und das Essen verleidet, und manche ziehen stumm, apathisch den schmutzigen, aufgeweichten Weg mit ihren schweren kurzen Stiefeln, die nur noch Drecksklumpen sind, wieder andere sind belebt, dass es jetzt auf längere Zeit in Ruhe geht. Das Schlachtfeld ist eigentlich nichts anderes als ein ungeheuerlich großer Friedhof. Außer Granattrichtern, zerfetzten Baumgruppen, zerschossenen Gehöften sieht man nur unzählige kleine weiße Kreuze über das Land hin, vor uns, hinter uns, rechts und links: „Hier ruht ein tapferer Engländer oder Kanonier…“. So liegt einer neben dem anderen Freund neben Freund, Feind neben Feind. Und in der Zeitung kann man lesen: „Friedlich ruhen sie an der Stätte, wo sie geblutet und gelitten haben, an der Stätte ihres Wirkens, unter den Augen ihrer lieben Kameraden, mit denen sie ins Feld gezogen, und der Donner der Kanonen grollt über ihre Gräber hin. Rache für ihren Heldentod, Tag um Tag, Nacht um Nacht…“ – Aber keiner denkt daran, dass auch der Feind noch schießt und dann die Granaten einschlagen ins Heldengrab, die Knochen mit dem Dreck in alle Winder verspritzen und sich der schlammige Grund nach Wochen über der Stätte schließt, die eines Gefallenen letzte Ruhestätte war, und nur noch ein schiefes weißes Kreuz die Stelle bezeichnet, wo er gelegen…“

 

Heroisierung der Krieger

 

Eine vorsichtige Auseinandersetzung mit dem auch 1917 noch in der offiziellen Sprache vorherrschenden Pathos sieht der Politikwissenschaftler Herfried Münkler in den Berichten des jungen Artilleristen Gerhard Gürtler. Er fasse zusammen, was man in deutschen Zeitungen über die Gräber der Gefallenen „im Feindesland“ lesen könne. Drei Begriffe tauchen dabei auf, alle drei Begriffe der Heroisierung: Kameraden, Heldentod beziehungsweise Heldengrab und Rache. Welche Bedeutung diese Begriffe im Ersten Weltkrieg haben, weiß der Grazer Historiker Werner Suppanz:

 

„Das Heldentum hat in der Propaganda und in den Medien eine ganz zentrale Rolle gespielt. Wenn es zum Beispiel darum gegangen ist, aufzurufen für Spenden für die Kriegsfürsorge. Dann ist das meistens unter dem Motto gelaufen: Das sind unsere Helden, die ihr Leben oder ihre Gesundheit für das Vaterland geben, aber sie erwarten nun auch, dass sie etwas zurückbekommen. Deswegen spendet für die Witwen und Waisen, spendet für die medizinische Versorgung der Kriegsversehrten, spendet auch dafür, dass der Staat rüsten kann und diejenigen, die nicht mehr kämpfen können, auf diese Art entlastet und ihr Kampf auf diese Art weitergeführt werden kann.“

 

Wohl kaum ein Krieg kommt ohne Heldenbilder aus. „Sie stehen sowohl für die Norm dessen, was von einem Soldaten erwartet, als auch für das, was im Übermaß von ihm eingefordert wird, für die herausragende Ausnahme, die besondere Erwähnung verdient und für die der Soldat mit Orden dekoriert und aus der Masse der vielen herausgehoben wird“, analysiert der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Doch in kaum einem Krieg war das Heroisieren von Soldaten und kriegerischen Handlungen so wichtig wie in dem von 1914 bis 1918. Der österreichische Historiker Werner Suppanz erkennt hier auch eine „Vermassung“ des Heldentums.

 

„Der Begriff des Helden schließt in erster Linie Männer ein, einfach dadurch, dass sie Soldaten waren, die ihre Pflicht für das jeweilige Vaterland erfüllt haben. Aber im Ersten Weltkrieg erleben wir so etwas wie einen ersten totalen Krieg, einen Krieg, der zunehmen totaler wird und die gesamte Gesellschaft erfasst. Alle in der Gesellschaft sollten an den Kriegsanstrengungen teilnehmen, und das betrifft wirklich alle – von Kindern bis zu Alten, und selbstverständlich auch die Frauen. Wenn sie entsprechenden Einsatz zeigten, dann waren sie  auch Helden und Heldinnen im Hinterland an der Heimatfront.“

 

 

Helden der Masse

 

„Der Erste Weltkrieg selbst hat eine ganz charakteristische Veränderung gebracht: Während vorher der Held in erster Linie eine herausragende Einzelperson war - wir kennen das von den antiken Helden –, ändert sich das im Ersten Weltkrieg, so dass jeder Einzelne – also das betrifft in erster Linie jeden einzelnen Mann als Soldaten, aber darüber hinaus auch Frauen und nicht-kämpfende Personen – allgemein zum Helden oder zur Heldin werden konnten.“

 

Noch heute erinnern „Heldendenkmäler“ an den „Großen Krieg“ von 1914 bis 1918, die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts, wie ihn der amerikanische Diplomat und Historiker George Kennan genannt hat. Doch so sehr, wie der Erste Weltkrieg das Heldentum befeuerte, so sehr kämpfte die Gesellschaft währenddessen und danach auch um den richtigen Umgang mit ihren „Helden“ – diese waren oft physisch und psychisch versehrt und angewiesen auf soziale Leistungen. Neue Forschungen zeigen den Umgang mit traumatisierten Soldaten zur damaligen Zeit und wie relevant die Debatte um die Heldenverehrung auch heute noch ist.

 

„Diese Frage der Legitimität des Heldengedenkens halte ich gerade aus heutiger Sicht für eine ganz wichtige. Denn wir erleben heute noch, wie auf Kriegerdenkmälern, die heute noch oft als Heldendenkmäler bezeichnet werden, die Helden eines Landes oder einer Gemeinde gefeiert werden: Die werden heute noch als Helden repräsentiert, wenn wir uns die Denkmäler anschauen. Es ist aber gleichzeitig eine Zeichensetzung aus einer anderen Zeit, in der dieser Kult des Heroismus noch eine ganz zentrale Rolle gespielt hat. Heute hingegen befinden wir uns meiner Meinung nach, zumindest in Europa, in sogenannter post-heroischer Gesellschaft, in der dieser Wert des Heldentums, diese Verehrung des Heroischen eine weitaus geringere Rolle spielt.“

 

„Ich halte die Forschungen zum Konzept des Heldentums deswegen für so wichtig, weil es ein ganz zentraler Bestandteil der Frage ist: Wie geht man mit Kriegserfahrungen um, wie verarbeitet auch eine Gesellschaft Kriege, vor allem von diesen gewaltigen Ausmaßen und Auswirkungen, wie sie der Erste Weltkrieg gehabt hat?“

 

Kriegsneurose

 

Nach Forschungen der Berliner Historikerin Gundula Gahlen bewirkte der Erste Weltkrieg erstmalig das Auftreten von massenhaften psychischen Erkrankungen – Kriegsneurose wurde zu einer Metapher des Krieges. Der industrialisierte Massenkrieg habe den Soldaten das Gefühl vermittelt, dass ihnen Kontrollmöglichkeiten weitgehend genommen waren, die kontinuierliche existenzielle Bedrohung der Front habe die Entwicklung psychischer Leiden gefördert. Dadurch, dass der Krieg zu weiten Teilen ein Stellungskrieg war, seien die Soldaten im Schützengraben wehrlos der Kriegsgewalt ausgesetzt gewesen. Diese Kriegsgewalt habe dadurch besondere existenzielle Ängste bei den Soldaten erzeugt. Allein in der deutschen Armee seien hunderttausende Militärangehörige betroffen gewesen, so Historikerin Gahlen.

 

„Die Hauptsymptome im Ersten Weltkrieg waren die sogenannten Schüttel- und Lähmungserscheinungen, und dadurch kommt auch dieser Begriff der „Kriegszitterer“ im Ersten Weltkrieg. Dies führte dazu, dass man im Ersten Weltkrieg oft Soldaten gefunden hat, die im Schützengraben nichts mehr machen konnten, die manchmal auch aus den Gräben heraus gerannt sind ins Niemandsland und dann dem sicheren Tod entgegen gegangen sind. Und diese Erscheinungen wurden alle zu dem Begriff „Kriegsneurose“ gepackt. Es gab dazu auch noch Erschöpfungsneurosen, die unter dem großen Begriff der Neurasthenie gelaufen sind, und auch diese gehörten zu dem Begriff der Kriegsneurose: wirklich alle Arten von psychischem Leiden, die im Lazarett behandelt wurden.“

 

Im Ersten Weltkrieg wurden neue Verfahren entwickelt, mit denen man diese psychischen Leiden behandelt hat. Neben den „aktiven Behandlungsmethoden“, die dazu da waren, die als „Kriegshysterie“ bezeichneten Leiden zu behandeln, gab es auch traditionelle Behandlungsmethoden, worunter vor allem Ruhe, Beruhigungsmittel, Beruhigungsbäder und Urlaub fielen. Die neuen Verfahren zielten jedoch darauf ab, die Soldaten in möglichst kurzer Zeit wieder von ihren Symptomen zu befreien – unter anderem mit suggestiver Hypnose, elektrischem Strom oder Zwangsexerzieren.

 

Hypnose, Bäder, Zwang und Ruhe

 

„Und all diese Methoden haben die Rolle des Arztes besonders herausgestellt. Der Arzt hatte die Theorie, dass er die Kranken durch diese Kraft, durch diese Behandlung, wieder in die Gesundung bekommt, indem er ihnen entweder suggeriert, ihre Krankheit sei nicht real, oder ihnen suggeriert, dass er sie mit seiner ärztlichen Energie aus dieser Krankheit herausbekommt.“

 

Je länger der Krieg dauerte, je brutaler er wurde, desto mehr Männer versuchten, sich dem Kriegsdienst, den Zumutungen des vermeintlichen Heldentums, zu entziehen. Dies wirkt sich auch auf die Diagnose und die psychiatrische Behandlung der traumatisierten Soldaten aus.

 

„Der Rang des Soldaten spielt dahingehend eine entscheidende Rolle, dass die Offiziere – anders als die Mannschaftssoldaten – bei ihrer Beziehung zwischen Arzt und Patient eine herausgehobene Position bekamen. Was vor allem daran zu sehen ist, dass sie eben mitentscheiden konnten, wie sie behandelt wurden und ob sie mit diesen aktiven Behandlungsmethoden behandelt werden sollten. Wenn Offiziere das nicht wollten, mussten sie das nicht machen, währenddessen bei Mannschaftssoldaten hier wenig Entscheidungsspielraum war. Eine zweite Besonderheit ist  bei Offizieren, dass Misstrauen in der Beziehung zwischen Arzt und Patienten hier fast nicht zu sehen ist, während die Sorge des Arztes, dass er von einem einfachen Soldaten hinters Licht geführt wird, dass er gar nicht krank sei, sondern nur aus dem Krieg aussteigen wollte, ganz häufig in den Krankenakten zu finden ist.“

 

Die hohe Zahl der psychischen Erkrankungen zerstörte das Bild des heroischen Soldaten nicht völlig, aber es verändert es. In der Öffentlichkeit sorgt der Anblick von bettelnden Soldaten mit Schüttelerscheinungen für Erschrecken, andererseits jedoch auch für die Reaktion, dass diese Soldaten ihren Beitrag fürs Vaterland geleistet hätten, dass sie ruhmreich gehandelt hätten und dass man sie nun auch versorgen müsse.

 

„Das ändert sich im Verlauf des Krieges etwas – in und insbesondere nach dem Krieg, weil dann immer stärker in der Öffentlichkeit auch so eine Stimmung erzeugt wurde, dass jetzt diese Invaliden und insbesondere auch diese psychisch Versehrten nicht mit ihren Symptomen in die Öffentlichkeit treten sollten. Dass sie sie nicht mehr zur Schau stellen sollten, weil man dieses dauernde Gejammere nicht mehr ertragen konnte.“

 

Zu ähnlichen Erkenntnissen ist auch der Grazer Historiker Werner Suppanz gekommen.

„Die Frage, wie geht man zum Beispiel mit den Kriegsversehrten, die alles andere als heroisch wirkten, um, das hat zum Beispiel gerade auch in Österreich die politischen Lager entzweit. Während es für ein konservativ-nationalistisches Lager klar war: Die haben ihre körperliche Unversehrtheit, ihre Gesundheit für das Vaterland hingegeben, das macht sie zu Helden. Aus sozialdemokratischer oder allgemein linker Sicht, die tendenziell pazifistisch war und die den Krieg als Verbrechen aufgefasst hat, waren gerade die Kriegsversehrten ein Beispiel dafür, wie unhaltbar, ja, wie lächerlich eigentlich dieses Sprechen vom Heldentum ist.“

 

 

Schlachtfeld und Friedhof sind eins

 

Auch der Artillerist Gerhard Gürtler, der junge Theologiestudent aus Breslau, lehnt die Überhöhung des Leidens und Sterbens im Krieg ab. Schlachtfeld und Friedhof sind zu diesem Zeitpunkt längst eins geworden, statt „stillem Frieden“ werden die Gräber der getöteten Soldaten immer wieder erschüttert. „Das klassische Pathos des Heroischen, das auf die gefeierte Heimkehr des Helden oder die Sakrifizierung seines Grabes ausgerichtet ist, wird durch das Kriegsgeschehen selbst widerlegt“, schreibt Politikwissenschaftler Münkler dazu.

 

„Herfried Münkler, der den Begriff der heroischen Gesellschaft und der post-heroischen Gesellschaft geprägt hat, spricht von einer großen Gefahr. Er meint, dass heroische Gesellschaften, in denen das Heldentum eine so große Rolle spielt, deutlich kriegsbereiter sind und ein Bedürfnis nach Kriegsführung haben als eben post-heroische Gesellschaften. Denn Heldentum und Ehre sind eng miteinander gekoppelt, Ehre ist ein ganz zentrales gesellschaftliches Gut in diesen heroischen Gesellschaften, das auch ständig aufrechterhalten und vermehrt werden soll. Deswegen neigen heroische Gesellschaften – und das sind auch fast alle europäischen Gesellschaften der Zeit um 1900 – dazu, bereitwillig, man kann auch sagen leichtsinnig, in den Krieg zu gehen.“

 

 

Was ist ein Held?

 

Was ist ein Held? Nach der aktuellen Definition würde als ein solcher gelten, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt genau das Richtige tut – und zwar aus Eigeninitiative. Das, was man auch als „Zivilcourage“ bezeichnen könnte. Im Ersten Weltkrieg jedoch war das genaue Gegenteil der Fall, jeder konnte, jeder sollte Held sein. Doch dass der Krieg keine Helden kennt und erst recht niemanden zum Helden macht, weiß auch Theologiestudent Gürtler. Er weiß, dass er zu kämpfen hat, dass ihm nichts anderes übrig bleibt. „Und immer nur heißt es: Feuern! Feuern! Feuern!“ Er nimmt es hin. Und stirbt – vier Tage nach dem Schreiben seines Briefs.

 

(rv 07.12.2014 kin)

 








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