Ein Naher Osten ohne Christen – diese düstere Vision könnte inzwischen nach Ansicht
verschiedener Kirchenführer der Region tatsächlich Wirklichkeit werden. Papst Franziskus
hat die Bedrohung der christlichen Gemeinschaften kurzerhand zum Thema der nächsten
Kardinalsversammlung am 20. Oktober gemacht. Die Heiligsprechungen, um die es auf
dem Konsistorium ursprünglich gehen sollte, rückten damit in den Hintergrund: Ziel
der Versammlung wird sein, Kräfte zu bündeln und gemeinsam die Stimme zu erheben für
einen effektiven Einsatz gegen die Terrormiliz des Islamischen Staates (IS), die inzwischen
weite Teile Syriens und des Irak kontrolliert.
Systematische Vertreibung?
Der
armenische Katholikos von Kilikien, Aram Keshishian I., verweist in einem aktuellen
Interview auf einen gemeinsamen Plan der verschiedenen islamistischen Terrorgruppierungen
zur Vertreibung aller Christen aus dem Nahen Osten. Im Gespräch mit dem griechisch-orthodoxen
Kirchenjournalisten Makis Adamopoulos beklagte das geistliche Oberhaupt der armenischen
Christen im Orient und einer weltweiten Diaspora die Vernichtung von Gemeinden, Strukturen
und Institutionen aller christlichen Kirchen, die fast zwei Jahrtausende lang die
Herrschaft von Arabern, Türken und zuletzt diktatorischer Regime überdauert hatten.
Es sehe danach aus, als sei über das nahöstliche Christentum wirklich eine „Endzeit“
hereingebrochen, so der armenische Katholikos von Kilikien wörtlich.
„Keine
Hoffnung auf Rückkehr“
Für den Irak hat sich diese Lage schon fast
bestätigt. 70.000 syrische Katholiken, das sind fast drei Viertel dieser Christen
im Irak, sind von der Gewalt der Dschihadisten betroffen, berichtet im Interview mit
Radio Vatikan Patriarch Ignatius Josef Younan, der derzeit an der Weltbischofssynode
im Vatikan teilnimmt. Nach der Flucht gebe es für die Familien kein Zurück mehr, urteilt
das Oberhaupt der syrisch-katholischen Kirche. Für die christlichen Gemeinschaften
des Nordirak sei die Lage „katastrophal“:
„Sie wissen nicht, wo sie hingehen
können. Wir haben nur unsere Kirche in Bagdad, und wir wissen nicht, wie wir unseren
Leuten helfen sollen, vor allem den Jugendlichen, die in einer Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit
leben.“
In Syrien sind laut Angaben des Patriarchen zwischen 35 bis
40.000 Katholiken von der Gewalt betroffen. Es gebe keine Region im gesamten Nahen
Osten, in der die Lage der Christen so fatal sei wie derzeit in Syrien und im Irak.
Die Zwangskonvertierungen und Diskriminierungen, die Gewalt und Vertreibungen im Nordirak
kämen insgesamt einer „Art Genozid“ gleich, so der Patriarch:
„Sie
wurden von ihrem Land vertrieben, und wir haben – was sehr traurig ist zu sagen –
keinerlei Hoffnung darauf, dass diese Menschen jemals zurückkehren werden können.
Und wenn sie zurückkehren – wer garantiert für ihre Sicherheit?“
Die
Kräfte bündeln
Younan setzt wie andere Kirchenführer des Nahen Osten
große Hoffnungen in das Konsistorium im Vatikan. Zusammen wolle man alle Hebel
in Gang setzen und alle Möglichkeiten ausschöpfen, um den Christen im Nahen Osten
zu helfen. Dazu genutzt werden müssten die diplomatischen Beziehungen des Heiligen
Stuhles, sein mediales Netzwerk sowie sein Einfluss in der internationalen Gemeinschaft,
so der Patriarch im Gespräch mit Radio Vatikan.