Papst zu den Priestern Casertas: Einheit, Volksfrömmigkeit und Glaube
Vor der Messe in Caserta hat Papst Franziskus am Samstagnachmittag die Priester der
süditalienischen Diözese getroffen. Es war ein intensiver Dialog in familiärer Atmosphäre
in der Palatinkapelle des Königsschlosses von Caserta, der „Reggia“. Franziskus antwortete
wie immer frei, die Priester durften ebenso freie Fragen an ihn richten. Hier eine
Arbeitsübersetzung.
Bischof D´Alise, Bischof von Caserta:
„Heiliger
Vater, ich habe nichts Schriftliches vorbereitet, weil ich wusste, dass Sie ein persönliches
und tiefes Gespräch mit Priestern wünschen. Ich sage Ihnen einfach: herzlich willkommen!
Das ist unsere Kirche mit unseren Priestern, wir werden danach die weiteren Teile
der Kirche sehen und die Eucharistie feiern. Dieser Augenblick ist sehr wichtig für
mich: seit zwei Monaten bin ich hier, und mein Bischofsamt mit Ihrer Anwesenheit und
Ihrem Segen zu beginnen, ist eine Gnade in der Gnade. Und nun erwarten wir Ihr Wort.
Da die Priester wissen, dass Sie sich ein Gespräch wünschen, haben sie Fragen für
Sie vorbereitet.“
Papst Franziskus:
„Ich habe eine Rede vorbereitet,
aber ich überreiche sie dem Bischof. Vielen Dank für die Gastfreundschaft. Danke.
Ich freue mich sehr hier zu sein und fühle mich ein wenig schuldig, weil ich euch
so viel Aufwand an eurem Patronatsfest verursacht habe. Mir war das nicht klar.
Als
ich den Bischof anrief, um ihm zu sagen, dass ich zu einem privaten Besuch bei einem
Freund hier, dem Pastor Traettino, vorbeikommen möchte, sagte er mir: ,Ach, gerade
am Feiertag der Stadtheiligen!' Und ich dachte sofort, dann wird in den Zeitungen
stehen: Zum katholischen Patronatsfest von Caserta besucht der Papst die Protestanten!
Eine schöne Schlagzeile, stimmt´s? Und so haben wir die Dinge in Ordnung gebracht,
das ging zwar ein bisschen schnell, aber euer Bischof hat mir da sehr geholfen, ebenso
wie die Mitarbeiter im vatikanischen Staatssekretariat. Als ich den Substituten anrief,
sagte ich ihm: ,Bitte nimm mir den Galgenstrick vom Hals.´ Und das hat er sehr gut
gemacht.
Ich bedanke mich für eure Fragen und schlage vor, dass wir
gleich beginnen. Wir schauen, ob wir zwei oder drei Fragen zusammen beantworten oder
jeweils nach jeder Frage antworten.“
Erste Frage: Die Einheit unter
den Bischöfen
„Heiliger Vater, herzlichen Dank! Ich bin Generalvikar
in Caserta und heiße Don Pasquariello. Meine Frage lautet folgendermaßen: Das Gute,
das Sie der katholischen Kirche bringen mit Ihren täglichen Morgenpredigten, den offiziellen
Dokumenten, besonders Evangelii Gaudium, zielen vor allem auf die spirituelle, innere,
persönliche Bekehrung. Das ist eine Reform, die meiner unmaßgeblichen Meinung nach
ausschließlich die Bereiche der Theologie, der Bibelauslegung und der Philosophie
betrifft. Über diese persönliche Bekehrung hinaus, die grundlegend für das Seelenheil
ist, würde ich persönlich einige Eingriffe von Ihnen, Heiliger Vater, für hilfreich
halten, die das Volk Gottes mehr miteinbeziehen, gerade weil es das Volk ist. Ich
möchte präziser sein: Unsere Diözese hat seit 900 Jahren absurde Grenzen: die Gebiete
einiger Dorfgemeinden sind auf zwei Bistümer aufgeteilt, zur Hälfte geteilt mit Capua
und Acerra. So gehört das Umfeld des Bahnhofs von Caserta zum Bistum Capua, obwohl
es wenige Meter vom Sitz der Stadtverwaltung liegt. Deshalb, lieber Heiliger Vater,
bitte ich Sie um einen lösenden Eingriff, damit unsere Pfarrgemeinden nicht mehr wegen
der sinnlosen Hin- und Herfahrerei leiden und die pastorale Einheit unserer Gläubigen
nicht länger herausgefordert wird. Sie haben in Evangelii Gaudium geschrieben,
dass solche Fragen von Bischöfen geregelt werden. Aber im Staatssekretariat sagte
man uns einst vor 47 Jahren: „Stimmt euch mit den Bischöfen ab, und wir werden das
unterschreiben.“ Das ist wunderbar. Aber wann werden sich die Bischöfe denn einigen?
Papst Franziskus:
„Kirchenhistoriker sagen, bei den ersten
Konzilien hätten sich Bischöfe sogar mit Fäusten traktiert, am Schluss aber geeinigt.
Es ist nicht schön, wenn ein Bischof schlecht über einen anderen Bischof spricht oder
wenn sie Seilschaften bilden. Ich rede hier nicht von Einheit im Denken oder Einheit
im Geist, was ja etwas Gutes ist, sondern ich meine wirklich Seilschaften im negativen
Wortsinn. Die sind hässlich, weil so die Einheit der Kirche geradezu zerstört wird.
Das kommt nicht von Gott.
Und wir Bischöfe müssen ein Beispiel der
Einheit geben, so wie Jesus sie beim Vater für die Kirche erbeten hat. Man kann nicht
über andere schlecht sprechen: „Und der macht dieses, und der macht jenes.“ Nein,
geh zu der Person hin und sag es ihr ins Gesicht! Unsere Vorfahren stritten sich handfest
bei den ersten Konzilien, und ich habe es lieber, dass man sich anschreit und sich
dann wieder umarmt und nicht hinter dem Rücken weiter schlecht übereinander spricht.
Das sehe ich als Grundregel an: In der Einheit der Kirche ist die Einheit unter den
Bischöfen wichtig. Sie haben einen Weg nachgezeichnet, den der Herr für die Kirche
vorgesehen hat. Und die Einheit unter den Bischöfen fördert auch die Suche nach Konsens.
In
einem Land – das ist jetzt nicht Italien – gibt es eine Diözese, die neue Grenzen
bekommen hat, aber weil man sich nicht einigen konnte, wo der Domschatz aufbewahrt
werden soll, gibt es seit über 40 Jahren Gerichtsprozesse. Nur wegen dem Geld: Das
ist nicht zu verstehen! Da feiert aber der Teufel! Er ist der Gewinner in einer solchen
Situation.
Es ist schön, wenn Sie sagen, dass die Bischöfe immer einen
Konsens finden können: einen Konsens in der Einheit allerdings, nicht in der Gleichheit.
Jeder hat sein Charisma, jeder denkt anders und sieht die Dinge anders. Diese verschiedenen
Sichtweisen sind manchmal Frucht des Irrtums, oft aber auch unmittelbar Frucht des
Heiligen Geistes.
Der Heilige Geist wollte ja, dass es in der Kirche
diese Vielfalt an Charismen gibt. Derselbe Heilige Geist fördert die Verschiedenheit,
sorgt aber auch für Einheit; eine Einheit, in der jeder verschieden ist, ohne dass
jemand seine Persönlichkeit aufgeben müsste. Ich hoffe also, dass es in Ihrem Bistum
so weiter geht, wie Sie es geschildert haben. Wir alle sind doch gute Menschen, sind
getauft und haben in uns den Heiligen Geist, der uns hilft, voranzuschreiten.“
Zweite
Frage: Die Volksfrömmigkeit
„Ich bin Pater Angelo Piscopo, Pfarrer
der Gemeinde des Heiligen Apostels Petrus und Kathedra Petri. Meine Frage lautet:
Heiliger Vater, in der Apostolischen Exhortation Evangelii Gaudium laden Sie uns dazu
ein, die Volksfrömmigkeit zu fördern und zu stärken, die ein wichtiger Schatz der
katholischen Kirche ist. Gleichzeitig aber haben Sie auf die Gefahren hingewiesen
– die es leider in der Tat auch gibt – und zwar die Verbreitung eines individualistischen
und sentimentalen Christentums, das mehr auf althergebrachte Formen als auf die Offenbarung
achtet und keine Auswirkungen auf das soziale Leben hat. Was können Sie uns da raten
für eine Seelsorge, die die Vorrangstellung des Evangeliums wieder mehr betont, ohne
die Volksfrömmigkeit zu vernachlässigen? Danke, Heiliger Vater.“
Papst
Franziskus:
„Man hört, wir leben in einer Zeit, in der die Religiosität
unwichtig geworden ist, aber ich glaube das nicht so ganz. Es gibt ja diese Strömungen,
diese Schulen persönlicher Religiosität sozusagen, nach der Art der Gnostiker, deren
Seelsorge vorchristlichen Gebeten ähnelt, vor-biblischen Gebeten, ein gnostisches
Gebet, und der Gnostizismus ist in die Kirche gelangt mit jenen Gruppen persönlicher
Frömmigkeit. Ich nenne das ,Intimismus´. Diese Strömung tut uns nicht gut.
Man
fühlt sich dabei ruhig und ganz von Gott erfüllt. Das ist ein wenig wie New Age, auch
wenn es nicht dasselbe ist. Es gibt da zwar Religiosität, aber eine heidnische oder
gar häretische Religiosität, würde ich sagen. Wir brauchen uns nicht davor zu scheuen,
diesen Begriff auszusprechen, da die Gnostik eine Häresie ist, die erste in der Kirchengeschichte.
Wenn
ich von Religiosität spreche, dann spreche ich von jenem Schatz der Frömmigkeit, der
so viele Werte beinhaltet und die der große Paul VI. in Evangelii Nuntiandi beschrieb.
Stellt euch vor: Das Dokument von Aparecida, das bei der 5. Konferenz der lateinamerikanischen
Bischöfe erarbeitet wurde, hat, um die Inhalte zusammenzufassen, auf ein 40 Jahre
altes Dokument zurückgreifen müssen und eine Stelle aus Evangelii Nuntiandi zitiert,
das unübertroffene Dokument der Nachkonzilszeit. Es ist von unerhörter Aktualität.
Paul VI. beschrieb darin die Volksfrömmigkeit und hielt fest, sie müsse manchmal auch
evangelisiert werden. Das stimmt, denn wie bei jeder Frömmigkeit besteht das Risiko,
dass sie ein wenig hierhin und dorthin geht und keinen starken Glauben mehr vertritt.
Doch die Barmherzigkeit der Menschen kommt in ihre Herzen durch die Taufe und dies
ist eine große Antriebskraft, deshalb kann das Volk Gottes in seiner Gesamtheit nicht
irren und ist unfehlbar im Glauben, wie es in Lumen Gentium, Nummer 12 heißt.
Die
wahre Volksfrömmigkeit entsteht aus dem sensus fidei, wie es im Konzilsdokument heißt,
und leitet an in der Verehrung der Heiligen, der Muttergottes, auch mit volkstümlichen
Ausdrucksweisen im guten Sinn. Deshalb ist die Volksfrömmigkeit so tief verwurzelt.
Es kann keine aseptische Volksfrömmigkeit aus dem Labor sein. Sie geht immer von unserem
Leben aus. Es kann zu kleinen Fehlern klommen, da müssen wir achtgeben, doch die Volksfrömmigkeit
ist ein Instrument der Evangelisierung.
Denken wir an die Jugend von
heute. Meine Erfahrung, die ich in der anderen Diözese gemacht habe, war die, dass
die Jugend und die Jugendbewegungen in Buenos Aires nicht funktionierten. Weshalb?
Weil man ihnen sagte, treffen wir uns zum Reden, und am Schluss langweilten sich die
Jugendlichen. Doch als die Pfarrer sie in kleine Missionsarbeiten einbanden, Missionierungen
während der Schulferien, Katechese für Bedürftige oder in entlegenen Dörfern, die
keinen Pfarrer haben, dann machten sie mit. Die Jugendlichen wollen diesen missionarischen
Geltungsdrang und lernen dabei eine Form von Frömmigkeit, die man als Volksfrömmigkeit
bezeichnen kann: das Jugendapostolat ist eine Art Volksfrömmigkeit.
Die
Volksfrömmigkeit ist aktiv, sie ist - sagte Paul VI. - ein tiefer Sinn für den Glauben,
den nur die Einfachen und Bescheidenen imstande sind zu haben. Und das
ist doch großartig! In den Wallfahrtsorten etwa, da sieht man Wunder! Jeden 27. Juli
ging ich zum Heiligtum des Heiligen Pantaleo in Buenos Aires und nahm am Vormittag
die Beichte ab. Und jedes Mal kam ich erneuert zurück und beschämt von der Heiligkeit,
die ich in den einfachen Leuten fand, die sündhaft, aber heilig sind, weil sie ihre
Sünden bekannten und dann erzählten, wie sie lebten, wie es sich mit jenem Sohn, jener
Tochter verhielt, und wie sie Kranke besuchten. Diese Leute atmeten einen Sinn für
das Evangelium. In den Wallfahrtsorten gibt es diese Dinge. Die Beichtstühle der Wallfahrtsorte
sind Orte der Erneuerung für uns Priester und Bischöfe; sie sind ein Kurs spiritueller
Auffrischung, weil sie die Berührung mit der Volksfrömmigkeit haben. Wenn die Gläubigen
zur Beichte kommen, erzählen sie dir ihr Elend, aber du siehst hinter diesem Elend
die Gnade Gottes, der sie zu diesem Moment führt. Dieser Kontakt mit dem Volk Gottes,
das betet und pilgert, das seinen Glauben in dieser Form der Frömmigkeit zeigt, hilft
uns sehr in unserem priesterlichen Leben.
Dritte
Frage: Identitätskrise der Priester
„Erlauben Sie mir, dass ich
Sie Pater Franziskus nennen darf, weil Vaterschaft auch Heiligkeit beinhaltet, wenn
sie authentisch ist. Als ehemaliger Schüler der Jesuiten verdanke ich diesem Orden
meine kulturelle und priesterliche Bildung. Ich möchte zunächst einen persönlichen
Eindruck schildern und Sie dann etwas fragen. Der Steckbrief des Priesters im dritten
Jahrtausend: menschlich und spirituell im Gleichgewicht; missionarisches Bewusstsein;
offen für den Dialog mit den anderen Bekenntnissen, religiös oder nicht. Warum ich
das sage? Sie haben sicherlich eine kopernikanische Wende herbeigeführt durch Redeweise,
Lebensstil, Auftreten und Zeugnis zu großen Fragen der Welt, auch von Atheisten und
Fernstehenden. Meine Frage dazu: wie kommt es, dass eine Kirche, die wachsen möchte,
so oft dieser Gesellschaft hinterherhinkt, die dynamisch, konfliktreich und weit entfernt
von den christlichen Werten ist? Wir sind eine oft verspätete Kirche. Ihre linguistische,
semantische, kulturelle und evangelische Revolution verursacht bei uns Priestern eine
echte Existenzkrise. Welche fantasievollen und kreativen Wege empfehlen Sie uns, um
diese Krise in uns zu überwinden oder wenigstens zu mildern? Danke.“
Papst
Franziskus:
„Nun, wie ist es möglich, dass die wachsende und sich entwickelnde
Kirche vorwärts geht? Sie haben einiges genannt: Ausgleich, Dialog… Wie ist es möglich,
vorwärts zu gehen? Sie haben ein Wort benutzt, das mir sehr gefällt: es ist ein göttliches
Wort; wenn es menschlich ist, dann deshalb, weil es eine Gabe Gottes ist: Kreativität.
Das war ein Gottesgebot an Adam: Geh und lasse die Erde wachsen. Sei kreativ. Das
hat Jesus auch seinen Jüngern geboten, durch den Heiligen Geist, wir sehen das beispielsweise
in der Urkirche im Verhältnis zum Judentum: Paulus war sehr kreativ. Petrus hatte
einmal Angst, als er zu Cornelius ging, weil der etwas Neues machte. Aber trotzdem
ging Petrus hin. Kreativität ist das Stichwort.
Und wie kann man diese
Kreativität finden? Allen voran – und das ist die Voraussetzung, wenn wir im Geist
kreativ sein wollen, im Geist unseren Herrn Jesus Christus – gibt es keinen anderen
Weg als das Gebet. Ein Bischof, der nicht betet, ein Priester, der nicht betet, hat
die Tür schon verschlossen, hat den Weg der Kreativität bereits verbaut. Gerade im
Gebet, wenn der Heilige Geist dich etwas spüren lässt, kommt noch der Teufel hinzu
und lässt dich etwas anderes spüren; doch im Gebet finden wir die Voraussetzung, um
vorwärts zu gehen. Das gilt auch dann, wenn einem das Gebet langweilig vorkommt. Das
Gebet ist sehr wichtig. Und ich meine nicht nur die vorgegebenen Gebete, ich denke
auch an die Liturgie der Messe, die ruhig und mit Demut gefeiert wird, oder an das
persönliche Gebet mit dem Herrn.
Wer nicht betet, kann gewiss ein guter
Unternehmer der Seelsorge und Spiritualität sein, aber die Kirche ohne Gebet wird
zu einer Hilfsorganisation und hat nicht die Salbung durch den Heiligen Geist. Das
Gebet ist der erste Schritt, weil es eine Öffnung zum Herrn ist, um sich den Mitmenschen
zu öffnen. Und der Herr selber sagt: Mach dies, mach jenes… und daraus entsteht Kreativität,
die vielen Heiligen schwer fiel.
Denken wir an den Seligen Antonio
Rosmini, der Die fünf Plagen der Kirche geschrieben hat. Er war ein sehr kreativer
Kritiker, gerade weil er viel betete. Er schrieb das, was ihn der Heilige Geist spüren
ließ, und aus diesem Grund musste er ins geistliche Gefängnis gehen, also sozusagen
zu seinem Haus: Er konnte nicht mehr sprechen, lehren oder schreiben, seine Schriften
standen auf dem Index. Heute ist er ein Seliger! Oft bringt dich die Kreativität ans
Kreuz. Wenn sie aber aus dem Gebet kommt, trägt sie Frucht. Nicht die gewissermaßen
formlose und revolutionäre Kreativität, heute ist es ja Mode, den Revolutionär zu
geben, nein, das kommt nicht vom Heiligen Geist. Wenn aber die Kreativität vom Heiligen
Geist kommt und im Gebet entsteht, kann sie dir Schwierigkeiten bringen.
Die
Kreativität, die durch das Gebet kommt, hat eine anthropologische Dimension der Transzendenz,
weil wir uns durch das Gebet der Transzendenz Gottes öffnen. Aber es gibt auch eine
andere Transzendenz: sich dem anderen, dem Nächsten öffnen. Wir sollen keine in sich
verschlossene Kirche sein, die auf den eigenen Bauchnabel schaut, eine autoreferentielle
Kirche, die nur sich selber betrachtet und nicht in der Lage ist, sich zu öffnen.
Wichtig ist eine doppelte Transzendenz: zu Gott und zum Nächsten hin. Aus sich hinauszugehen
ist kein Abenteuer, sondern ein Weg, den Gott den Menschen, dem Volk von Anfang an
gewiesen hat, als er Abraham sagte: Geh aus deinem Land hinaus. Aus sich herausgehen.
Und wenn ich aus mir herausgehe, treffe ich Gott und die anderen. Wie treffe ich die
anderen? Von weitem oder von nah? Man muss sie von nah treffen. Nähe. Kreativität,
Transzendenz und Nähe. Nähe ist ein Schlüsselwort. Nahe sein und vor nichts erschrecken,
denn der Mensch Gottes erschrickt nicht.
Paulus selber hatte keine
Furcht, als er so viele Götterabbildungen in Athen sah und sagte den Menschen: ihr
seid religiös, ihr habt so viele Götter… aber ich spreche von einem anderem. Er hatte
keine Angst, sich ihnen zu nähern und sogar ihre Dichter zu zitieren: wie sagten eure
Dichter? Er stand der Kultur nahe, aber auch den Menschen und ihren Gedanken, ihren
Leiden und Gefühlen. Oft ist diese Nähe ein Akt der Buße, weil wir mitunter lästige
oder verletzende Dinge zu hören bekommen.
Vor zwei Jahren erzählte
mir ein Priester, der in Argentinien als Missionar tätig war – er stammte aus Buenos
Aires und ging in den Süden, wo es seit Jahren keinen Priester gab und an ihrer Stelle
Evangelikale gekommen waren –, dass er zu einer Frau ging, die Lehrerin war und später
Schulleiterin im Dorf. Diese Frau hieß ihn Platz nehmen und begann ihn zu beleidigen,
nicht mit Schimpfwörtern, aber sehr hart. ,Ihr habt uns allein gelassen, ich brauche
das Wort Gottes und musste zu einem Protestanten hingehen, und deshalb wurde ich selber
Protestantin´, sagte sie. Dieser junge Priester, der sehr ruhig ist und auch einer,
der betet, sagte nach dem Zornausbruch der Frau zu ihr: ,Nur ein Wort: Vergebung.
Vergib uns, vergib uns. Wir haben die Herde allein gelassen.´ Und die Frau änderte
ihre Tonlage. Sie blieb Protestantin, aber der Priester sprach nicht darüber, welche
Konfession die richtige sei. In jenem Augenblick ging es auch gar nicht darum. Aber
am Schluss lächelte die Frau und sagte: ,Pater, möchten Sie einen Kaffee?´ - ,Ja,
nehmen wir gemeinsam einen Kaffee.´ Als dann der Priester wegging, sagte sie: ,Warten
Sie, Pater.´ Im Schlafzimmer öffnete sie den Schrank und zeigte ihm ein Madonnenbild.
,Sie müssen wissen, dass sie mich nie im Stich gelassen hat. Ich habe dieses Bild
vor dem protestantischen Pastor versteckt, aber hier im Haus ist sie nun mal da.´
Diese Anekdote lehrt uns, dass die Nähe, die Sanftmut dazu geführt hat, dass diese
Frau wieder mit der Kirche versöhnt ist, denn sie fühlte sich von der Kirche verlassen.
Und ich stellte ihm eine Frage, die man niemals stellen soll: Wie ist es ausgegangen?
Der Priester unterbrach mich und sagte: ,Ach, ich fragte nicht weiter: Sie besucht
weiterhin die protestantische Kirche, aber man sieht, dass sie eine Frau ist, die
betet, und dann macht der Herr, was er will.´ Er ging nicht weiter und hat sie nicht
eingeladen, wieder der katholischen Kirche beizutreten. Das ist diese umsichtige Nähe,
die weiß, wo die Grenzen liegen.
Aber Nähe bedeutet auch Dialog; man
muss dazu Ecclesiam Suam lesen [die erste Enzyklika Papst Pauls VI.], in der das Lehramt
über den Dialog spricht, was andere Päpsten aufgegriffen haben. Der Dialog ist sehr
wichtig, aber um miteinander zu sprechen, braucht es zwei Voraussetzungen: Ausgangspunkt
ist die eigene Identität, und dann die Empathie gegenüber den anderen. Wenn ich meiner
Identität nicht sicher bin und einen Dialog aufnehme, riskiere ich, meinen Glauben
einzutauschen. Man kann nicht in einen Dialog treten, ohne zuerst von der eigenen
Identität auszugehen.
Auch die Empathie gehört dazu, also keine Vorverurteilungen
machen. Jeder Mann, jede Frau hat etwas Persönliches weiter zu geben; jeder Mann,
jede Frau hat eine eigene Geschichte, eine eigene Situation, und wir müssen ihnen
zuhören. Danach wird uns die Wachsamkeit des Heiligen Geistes aufzeigen, was wir antworten
sollen.
Dialog bedeutet nicht Rechtfertigung zu betreiben, auch wenn
man das manchmal tun muss, weil uns Fragen gestellt werden, die eine Erklärung brauchen.
Der Dialog ist etwas Menschliches. Es sind die Herzen, die Seelen, die den Dialog
führen, und das ist wichtig! Das heißt, keine Angst vor dem Dialog mit anderen zu
haben. Man sagt über einen Heiligen scherzhaft – vielleicht Philipp Neri, aber ich
erinnere mich nicht genau – dass er auch mit dem Teufel in einen Dialog treten konnte.
Weshalb? Weil er die Freiheit besaß, allen zuzuhören, aber immer ausgehend von der
eigenen Identität. Er war so selbstsicher, aber sich sicher zu fühlen, bedeutet nicht,
Proselytismus betreiben. Der Proselytismus ist eine Falle, auch Jesus verurteilt ihn,
als er den Pharisäern und Sadduzäern sagte: „Ihr, die um die Welt geht, um einen Proselyten
zu suchen …“ Das ist eine Falle. Papst Benedikt hat eine so schöne Bezeichnung, die
er in Aparecida benutzte und ich glaube auch zu anderen Anlässen wiederholte: Die
Kirche wächst nicht durch Proselytismus, sondern durch Anziehung. Und was ist das
für eine Anziehung? Das ist diese menschliche Empathie, die vom Heiligen Geist gelenkt
wird.
Und wie sieht das Profil des Priesters in diesem säkularisierten
Jahrhundert aus? Er ist ein kreativer Mann, der die Gebote Gottes befolgt – „er schafft
die Dinge“ – ein Mann der Transzendenz, sowohl mit Gott im Gebet als auch mit den
Mitmenschen, und das immer; ein Mann der Nähe, der sich den Menschen nähert. Menschen
wegschicken ist nicht priesterlich, und die Menschen sind einer solchen Haltung manchmal
überdrüssig, trotzdem kommen sie zu uns. Aber wer die Menschen annimmt und bei ihnen
ist, mit ihnen spricht, tut das, weil er sich seiner Identität sicher ist. Seine Identität
bringt den Priester dazu, das Herz zum Mitgefühl zu öffnen. Das ist, was ich zu Ihrer
Frage sagen kann.“
Vierte Frage: Glaubenszeugnis
Verehrter
Heiliger Vater, meine Frage betrifft den Ort, wo wir leben: die Diözese, mit unseren
Bischöfen, die Beziehungen zu unseren Brüdern. Und ich frage Sie: dieser historische
Augenblick, den wir erleben, hat Erwartungen an uns Geistliche und zwar, dass wir
ein klares Zeugnis bekennen, das auch offen und freudig ist – wozu Sie selber uns
eingeladen haben – und dies gegenüber der Neuheit des Heiligen Geistes. Ich frage
Sie: Was könnte Ihrer Meinung nach das Spezifische, das Fundament der Spiritualität
eines Diözesanpriesters sein? Ich meine einmal gelesen zu haben, Sie hätten gesagt:
Der Priester ist kein Kontemplativer. Das war früher anders. Nun, können Sie uns etwas
mitgeben, was zu Wiedergeburt und Wachstum unserer Diözese beitragen könnte. Und mich
persönlich interessiert es, wie wir heute den Menschen gegenüber, weniger Gott gegenüber,
treu sein können.
Papst Franziskus:
„Sie haben von der ,Neuheit
des Heiligen Geistes´ gesprochen. Das stimmt. Aber Gott ist der Gott der Überraschungen,
er überrascht uns immer, immer, immer. Lesen wir das Evangelium und wir finden eine
Überraschung nach der anderen. Jesus überrascht uns, weil er immer vor uns kommt:
er wartet auf uns, liebt uns vor uns, wenn wir ihn suchen, ist er schon auf der Suche
nach uns. Wie die Propheten Jesaja und Jeremias sagten, aber ich kann das jetzt nicht
wortwörtlich zitieren: Gott ist wie die Mandelblüte. Sie blüht als erste im Frühling.
So ist auch Jesus der erste, der aber auf uns wartet. Das ist die Überraschung. Oft
suchen wir Gott hier, doch Er erwartet uns dort drüben.
Und dann zur
Spiritualität der Diözesanpriester: der kontemplative Priester, aber nicht einer der
in der Klausur lebt, so meine ich das nicht. Nun, der Priester muss insofern kontemplativ
sein, indem er dies sowohl gegenüber Gott als auch gegenüber den Menschen ist. Er
ist ein Mann, der seine Augen und sein Herz mit dieser Kontemplation füllt und immer
mit der Frohen Botschaft vor Gott und die menschlichen Probleme vor den Menschen stellend.
In diesem Sinne muss er kontemplativ sein. Wir sollen das nicht verwechseln: ein Mönch
ist etwas anderes.
Aber wo befindet sich das spirituelle Zentrum des
Diözesanpriesters? Ich würde sagen in der Bezogenheit zum Bistum. Er muss offen sein
für die Diözese. Die Spiritualität eines Ordensmannes zum Beispiel besteht darin,
für Gott und den anderen in der Gemeinschaft offen zu sein. Das gilt für kleinere
und auch für große Kongregationen. Doch die Spiritualität des Diözesanpriesters ist
die Öffnung gegenüber dem Bistum. Und ihr Ordensleute, die in den Pfarrgemeinden arbeitet,
müsst zwei Dinge tun, die die Bischofskongregation und die Ordenskongregation in einer
Überarbeitung von Mutuae relationes [dem Grundlagendokument zu den Beziehungen zwischen
Orden und Bistümern] behandeln, da der Ordensmann zu den beiden Dikasterien gehört.
Doch
kehren zurück zur Bedeutung des Bistums: was heißt das? Es bedeutet, eine Beziehung
mit dem Bischof pflegen und im Austausch mit anderen Priestern zu sein. Die Beziehung
zum Bischof ist wichtig und notwendig. Ein Diözesanpriester kann nicht vom Bischof
getrennt sein. ,Aber der Bischof mag mich nicht, der Bischof hier, der Bischof da…´
Ein Bischof kann vielleicht einen negativen Charakter haben, aber er ist und bleibt
dein Bischof. Und du musst auch in jener nicht positiven Haltung einen Weg finden,
um mit ihm in Kontakt zu bleiben. Das kommt ja selten vor.
Ich bin Diözesanpriester,
weil ich im Kontakt bin mit meinem Bischof, so lautet die Devise. Das sehen wir bei
der Priesterweihe, bei der man das Gehorsamsgelübde ablegt: ich verspreche dir und
deinen Nachfolgern zu gehorchen´. Bistumsbezogenheit bedeutet eine Beziehung zum Bischof,
die gefördert und geschützt werden muss. Meist gibt es keine katastrophalen Probleme,
sondern nur den normalen Alltag.
Ein zweiter Aspekt der Bistumsbezogenheit
ist die Beziehung zu anderen Priestern. Es gibt keine Priesterspiritualität ohne diese
beiden Aspekte: Beziehung zum Bischof und zu den Priestern. Die sind notwendig. ,Mit
dem Bischof läuft es gut, aber zu Priesterversammlungen gehe ich nicht, dort werden
Dummheiten gesagt.´ Aber dann fehlt dir etwas, du hast dann nicht die wahre Spiritualität
des Diözesanpriesters.
Das ist alles, es ist leicht und gleichzeitig
auch nicht. Es ist schwierig, weil es nicht einfach ist, mit dem Bischof immer gleicher
Meinung zu sein… und wenn nötig, dann soll man halt diskutieren! Und man darf dabei
auch laut sein. Wie oft streiten Vater und Sohn, aber am Schluss bleiben sie doch
Vater und Sohn. Wenn aber die Diplomatie ins Spiel kommt, wird der Heilige Geist verdrängt,
weil dann die Freiheit des Geistes fehlt. Man muss den Mut haben zu sagen: ich sehe
das nicht so, ich bin anderer Meinung, und dabei auch so bescheiden sein, sich korrigieren
zu lassen. Das ist sehr wichtig.
Wer ist der größte Feind dieser Beziehungen?
Das Geschwätz. Oft denke ich – weil auch ich selber diese Versuchung zum Geschwätz
habe, wir haben das alle, der Teufel weiß, dass es ein Same ist, der ihm Früchte einträgt
– ich denke, ob es das nicht vielleicht die Folge eines zölibatären Lebens ist, das
steril und nicht fruchtbar gelebt wird. Ein einsamer Mann endet in Bitterkeit, wird
nicht fruchtbar und beginnt über andere zu schwätzen. Das tut nicht gut und ist ein
Hindernis in der Beziehung zwischen Priester und Bischof.
Das Geschwätz
ist der größte Feind der Spiritualität gegenüber der Diözese. Aber du bist ein Mann,
wenn du also etwas Schlechtes über den Bischof zu sagen hast, geh hin und sage es
ihm. Dann wird es negative Konsequenzen geben. Du wirst das Kreuz tragen, aber sei
ein Mann! Wenn du ein reifer Mann bist und in deinem Bruder, der Priester ist, etwas
siehst, was dir nicht gefällt oder was du für falsch hältst, dann geh hin und sag
es ihm ins Gesicht. Und wenn du siehst, dass er es nicht verträgt korrigiert zu werden,
sag es dem Bischof oder dem besten Freund jenes Priesters, damit dieser ihm dabei
helfen kann, sich zu korrigieren. Aber sag es nicht den anderen, denn das heißt, einander
schmutzig zu machen. Und der Teufel ist glücklich über das „Festmahl“, denn so trifft
er geradezu das Herz der Spiritualität des Diözesanklerus.
Meiner Meinung
nach richtet Geschwätz viel Schaden an. Das ist jetzt keine post-konziliare Neuerung,
bereits der Heilige Paulus musste sich damit auseinandersetzen. Erinnert ihr euch
an den Satz: ,Ich bin Paulus, ich bin Apollo…´? Das Geschwätz war schon zu Beginn
der Kirchengeschichte ein Thema, weil der Teufel nicht will, dass die Kirche fruchtbar,
vereint und freudig ist. Was ist aber das Zeichen, dass die Beziehungen zwischen Bischof
und Priester gut sind? Es ist die Freude. So wie die Bitterkeit ein Zeichen dafür
ist, dass die Spiritualität fehlt, so ist die Freude ein Zeichen für eine gelungene
Beziehung. Man kann diskutieren, man kann böse werden, doch die Freude soll darüber
stehen und die Beziehung zwischen Priester und Bischof fördern.
Noch
ein Wort über das Zeichen der Bitterkeit. Einmal sagte mir ein Priester hier in Rom:
„Ich sehe, dass wir oft eine Kirche der Wütenden sind, dauernd aufgebracht, einer
gegen den anderen. Wir haben immer etwas, um uns aufzuregen.“ Das bringt Traurigkeit
und Bitterkeit: die Freude fehlt. Wenn wir in einem Bistum einen Priester sehen, der
so wütend lebt und mit dieser Spannung, denken wir, na der nimmt zum Frühstück Essig,
zu Mittag eingelegtes Essig-Gemüse und am Abend einen schönen Zitronensaft. Deshalb
geht sein Leben nicht gut, weil er das Bild einer Kirche der Wütenden ist. Hingegen
ist die Freude das Zeichen dafür, dass es gut geht. Natürlich kann man auch einmal
wütend werden, manchmal ist das sogar gesund. Aber der ständige Zustand der Wut ist
nicht vom Herrn und führt zu Traurigkeit und Spaltung. Am Ende haben Sie von der „Treue
zu Gott und zum Menschen“ gesprochen. Das ist dasselbe, was wir vorhin besprochen
haben. Es ist die doppelte Treue und die doppelte Transzendenz: Gott treu sein und
ihn suchen, sich ihm im Gebet öffnen, sich erinnern dass er treu ist, er kann sich
selbst nicht verleugnen, er ist immer treu. Und dann sich dem Menschen öffnen: das
ist Empathie, Respekt, Erspüren, das richtige Wort mit Geduld sagen. Wir müssen aus
Liebe zu den wartenden Gläubigen stehenbleiben…
Ich danke euch, wirklich,
und bitte euch für mich zu beten, denn auch ich habe die Schwierigkeiten, die jeder
Bischof hat, und muss jeden Tag den Weg der Umkehr einschlagen. Wenn wir für einander
beten, hilft uns das, weiterzugehen. Danke für die Geduld.