Ukraine: Hilfe zum Wiederaufbau unter schwierigsten Bedingungen
Die internationale Aufmerksamkeit ist auf die Ukraine erst mit dem Abschuss des Flugzeugs
MH17 wieder gewachsen und hat dazu geführt, dass Druck auf die Konfliktparteien –
allen voran Russland – ausgeübt wird. Dies sei zynisch, aber ein Faktum, so der Präsident
von Caritas-Ukraine, Andriy Waskovitsch, im Gespräch mit Radio Vatikan.
„Ja,
es ist etwas zynisch, das hat aber mit Identifizierung zu tun. Die Menschen denken
immer zunächst an sich und an ihr Umfeld. Dann erst denken sie an Konflikte, die etwas
weiter liegen. Ich war erstaunt als ich in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung
gelesen habe, dass Europa jetzt etwas tun müsse und zwar jetzt, nachdem unter den
200 Opfern viele Europäer bei der Flugzeugkatastrophe waren. Ich dachte mir das anders,
aber die Ukrainer werden wohl nicht als Europäer angesehen und heute verstehen wir
unter Europäer wohl einzig EU-Bürger. Das schreibt den Menschen einen anderen Wert
zu als den Wert den man Nicht-EU-Bürgern zuschreibt.
Während nun die Öffentlichkeit
darum rätselt, wer hinter dem Flugabschuss der malaysischen Fluggesellschaft steckt,
arbeitet die katholische Caritas am Wiederaufbau der zerstörten ostukrainischen Städten
und Dörfern. Caritasdirektor Waskovitsch war am Freitag in der von den russischen
Separatisten zerstörten Stadt Slowjansk, die wieder unter ukrainischer Kontrolle ist.
„Wir
sind in den Osten der Ukraine gefahren aus zwei Gründen: zum einen wollten wir sehen,
was wir in der zerstörten Stadt Slowjansk machen können als Caritas und als Erste-Hilfe,
die wir üblicherweise leisten. Ein zweiter Grund ist die Einführung eines neuen griechisch-katholischen
Bistums von Charkiw. Damit steht für die Caritas auch die Aufgabe einer neuen Regionalstelle
– also einer sogenannten eparchial-exarchial Caritas – zu gründen. Wir wollen dort
eine Caritas bilden und für die jetzige angespannte Situation im Osten des Landes
die Caritas auch nützen, als Basis für unsere Hilfsleistungen in dem ganzen Krisengebiet
im Osten.“
Wo ist der Ausweg?
Für viele Hörerinnen
und Hörer im Westen scheint die Lage in der Ukraine unverständlich und komplex. Viele
kontroverse Informationen sind zu hören. Doch eine Frage bleibt: wie kann der Konflikt
überwunden und die Gewaltwelle gestoppt werden?
„Der Ausweg wäre natürlich,
dass Russland aufhören würde, die separatistischen Bewegungen zu unterstützen oder
aufhören würde, Kämpfer in den Osten der Ukraine zu schicken. Das heißt, es gibt nur
einen politischen Ausweg, wo Russland gezwungen wird – wenn nötig, auch durch Sanktionen
– damit aufzuhören, die Lage in der Ukraine zu destabilisieren.“
Der Caritas-Präsident
spricht auch Klartext, was die Hintergründe des Konflikts in der Ukraine sind.
„Das
Problem des gesamten Konflikts ist, dass wir nicht wissen, was die eigentlichen Pläne
Russlands sind. Auf was will Russland hinaus? Wir sehen eine Destabilisierung der
Lage im Osten des Landes. Wir sehen Pläne von Russland darauf Einfluss zu nehmen,
dass die Ukraine nicht einen normalen Weg einer normalen Entwicklung eingehen kann.
Es muss eben versucht werden, dass man auch durch den Druck der Internationalen Staatengemeinschaft
auf Russland einwirkt, dass sie von diesen Vorhaben, die Ukraine zu destabilisieren,
abrückt und dass man versucht, Russland zu bewegen, einen normalen europäischen Kurs
zu gehen und zwar dass sie normale partnerschaftliche Beziehungen zur Ukraine aufbaut.
Fazit ist: Russland muss sich ändern.“
Hindernisse gibt es auch
in der Ukraine
Auf ukrainischer Seite ist gibt es aber auch Hindernisse,
die zu berücksichtigen sind. Die Ukraine steckte schon vor dem Konflikt nicht nur
in einer politischen sondern auch in einer
tiefen wirtschaftlichen Krise.
„Hinzu kommt, dass die derzeitige Regierungskoalition
auseinandergebrochen ist. Wir wissen nicht genau, ob das objektive Gründe hat oder
ob es nicht der Versuch ist, eine Neugestaltung der politischen Machtstrukturen in
der Ukraine zu bewirken, als ob es doch nicht darum geht, dass die einzelnen Parteien
auf eine bessere Position hin denken. Das ist verwunderlich, wenn man bedenkt, dass
in der Ostukraine Soldaten und auch Zivilisten sterben und es im Parlament möglicherweise
darum geht, welche Partei welche Position in einer Regierung haben könnte. All das
drückt auf die Stimmung in der Ukraine ein. Es herrscht also keine gute Stimmung.“
Der
Präsident von Caritas-Ukraine, Andriy Waskovitsch, kann es nicht verstehen, wie es
zur aktuellen chaotischen Situation kommen konnte.
„Nachdem vor ein paar
Wochen ein neuer Staatspräsident gewählt wurde und Petro Poroschenko die Wahlen gewonnen
hatte, hatten wir das Gefühl, dass trotz der sehr komplizierten Lage und des Kriegszustandes
im Osten des Landes wir dennoch auf dem richtigen Weg sind. Jetzt sind einige Ereignisse
eingetroffen, die die Situation noch komplexer gemacht haben: zum einen ist der Flugzeugabschuss
im Osten zu nennen, mit den damit verbundenen Schwierigkeiten, die Toten dort zu bergen,
ein zweiter Grund ist die internationale Lage, die an sich sehr angespannt ist. Und
ein dritter Punkt ist der neuerliche Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze. All
das spannt die Lage sehr an.“
Die Menschen brauchen eine Perspektive
Deshalb
wolle die katholische Caritas konkret mithelfen und den Opfern des Konflikts materiell
und personell beistehen, er selber sei länger im Osten des Landes unterwegs gewesen
und habe das Ausmaß der Zerstörungen gesehen. Und von dem, was er in der zerstörten
Stadt Slowjansk gesehen und erlebt habe, sei er zu einem Schluss gekommen, was die
Caritas als nächstes unternehmen müsse, so Waskovitsch:
„Es sind sehr viele
Fensterscheiben zerstört. Wir wollen deshalb den Menschen helfen, die Fenster einzubauen.
Es ist ganz wichtig, dass die Leute wieder das Gefühl haben, dass sie eine Perspektive
bekommen und das Gefühl haben, dass sie wieder in einer Wohnung leben können, die
eine bestimmte Sicherheit für sie bietet. Solange diese zerstörten Fenster da sind,
solange die Fenster dunkle Löcher in diesen Häusern sind, haben die Menschen nicht
dieses Gefühl und es ist ganz wichtig, dass die Leute wieder eine Perspektive bekommen
und sehen, dass es wieder zu einem friedlichen Leben geht und diese Traumata, die
sie durchlebt haben, wieder vergessen können.“
Slowjansk galt wochenlang
als Hochburg der sogenannten pro-russischen Separatisten. Heftige Kämpfe und die Entführung
von OSZE-Mitarbeitern standen in den Schlagzeilen, doch wie die Lage heute dort aussieht,
wird von westlichen oder russischen Medien nicht mehr berücksichtigt.
„Viele
Menschen kehren jetzt wieder langsam in ihre Häuser zurück. Die Stadt hatte etwa 140.000
Einwohner gehabt bevor sie von den pro-russischen Kräften eingenommen wurde. Man spricht
davon, dass etwa zwei Drittel der Stadtbevölkerung aus der Stadt geflohen waren. Diejenigen,
die wieder zurückkommen, finden also eine zerstörte Stadt wieder. Im Stadtbild sind
sehr viele zerstörte Häuser zu sehen, vor allen Dingen sind viele Wohnungen mit zerbrochenen
und zerschossenen Fenstern. Ich habe Schulen gesehen, die von Granaten zerschlagen
wurden. Und es ist eine Stimmung da, wo die Menschen sagen: wer kann uns helfen? Wie
können wir das Ganze wieder aufbauen?“
Und da komme nun die Caritas ins
Spiel, so Andriy Waskovitsch. Denn dies sei die Grundaufgabe des katholischen Hilfswerkes:
den Menschen in Notsituationen beizustehen.
„Die Caritas hat in den letzten
Wochen, seitdem die Stadt wieder unter Kontrolle der ukrainischen Armee und Regierung
ist, haben wir versucht vor allen Dingen, die nötigste Hilfe zu leisten. Das war vor
allen Dingen der Wasserzufuhr garantieren. Die Wasserversorgung in der Stadt – sowie
auch die Elektrizität und die Kommunikationsversorgung – waren unterbrochen. Wir haben
versucht das Wasserproblem zu lösen, indem wir 53 Tonnen Wasser an die Orte gebracht,
die von der Wasserversorgung vollkommen abgebrochen waren.“
Besonders emotional
beeindruckt sei er von den Gesprächen mit den Menschen vor Ort gewesen, so Waskovitsch.
„Wir
sind an einem Haus vorbeigekommen, das von einer Granate zerstört wurde. Es war ein
Einfamilienhaus. Wir sind in den Garten des Hauses gegangen, dort sahen wir, wie die
ganze Familie versucht hat, den Schutt aufzuräumen. Es war eine Familie mit vier Kindern
im Alter von zehn bis 14 Jahren. Es war erstaunlich diese Familie zu sehen, die sofort
sich daran gemacht hat, einfach wieder irgendwie etwas aufzubauen. Diese Menschen
haben nicht geklagt, sie sagten einfach: Gott sei Dank haben wir überlebt. Der Familienvater
hat uns erzählt, dass er in dem Haus war während geschossen wurde und als ein Nachbarhaus
getroffen wurde von einer Granate, hat er sich entschlossen, das wichtigste mitzunehmen,
hat die Familie in den Wagen genommen und ist zu Angehörigen außerhalb der Stadt gefahren.
Am nächsten Tag fiel die Granate auf sein Haus und hat das Haus vollkommen zerstört.
Und nun versuchen sie, irgendwie im unteren Geschoss Wohnräume einzurichten. In der
Zwischenzeit leben sie bei Bekannten und Familienangehörigen.“
Hilfen
für Bewohner der Städte und für Binnenflüchtlinge
Viele solcher Geschehnisse
hat Waskovitsch im Osten der Ukraine erfahren, viele Erlebnisse hat er von Betroffenen
gehört.
„Das sind nur Einzelschicksale, aber sie vertreten so stark das
Schicksal einer ganzen Stadt. Man sieht, dass die Menschen dort nun versuchen, irgendwie
zurechtzukommen, aber sie bedürfen natürlich auch der Hilfe und die Caritas wird versuchen
ihnen dabei zu helfen diese Stadt wieder aufzubauen.“
Deshalb sei die neue
Caritasstelle in Charkiw ein konkreter Schritt, damit nicht nur eine Stadt sondern
eine ganze Krisenregion wieder eine Zukunft habe, fügt Waskovitsch an.
„In
Charkiw, wo wir die neue Caritasstelle bilden wollen, sind sehr viele Binnenflüchtlinge
und auch sie brauchen Hilfe. Auch ihnen wollen wir als Caritas tätig werden. Wir haben
im Übrigen auch Hilfe von unseren internationalen Netzwerken aber auch von Caritas
Europa und auch vom US-amerikanischen Caritasverband ,Catholic Relief Service´. Sie
helfen uns nicht nur materiell, damit wir Hilfe auch leisten können für die Menschen
in der Ostukraine, sondern sie helfen uns auch im Know-how-Bereich. Es gibt viele
Organisationen in der Caritasfamilie, die Kenntnisse haben, wie man in solchen Krisensituationen
am Besten Hilfe leisten kann und sie stellen uns teilweise auch solche Spezialisten
zur Verfügung, die uns beraten, wie wir diese Arbeit auch organisieren können im Osten
des Landes.“
Und was wird aus der Ukraine? Das fragen sich die Menschen
dort, aber auch im Ausland. Die Caritas werde auf jeden Fall mithelfen, das Land im
Sinne der christlichen Nächstenliebe aufzubauen. Zurück zum Flugzeugabschuss der malaysischen
Fluggesellschaft und den rund 300 Toten: Man dürfe nicht die „anderen“ Opfer vergessen,
so Caritas-Präsident Andriy Waskovitsch.
„Es sind mehr als 1.000 Menschen
bereits in diesem Konflikt ums Leben gekommen. Europa wacht wieder auf. Die Welt wacht
wieder auf, wenn auch der Konflikt dieses internationale Ausmaß angenommen hat, nachdem
ein Flugzeug mit sehr vielen Menschen aus verschiedenen Staaten abgeschossen wurde.
Das ist wirklich zynisch und ein bisschen erschreckend, weil es zeigt, dass wir doch
sehr selektiv diese Probleme angehen.“