Clemens Meyer: Im
Stein. Eine Besprechung von Stefan von Kempis „Wir fordern: Prostitution abschaffen!“
So titelt in ihrer neuesten Ausgabe die deutsche Frauenzeitschrift „Emma“. Auch der
von der katholischen Schwester Lea Ackermann gegründete Verband „Solwodi“ hat vor
ein paar Tagen eine Unterschriftenkampagne für eine Neuregelung des Prostitutionsgesetzes
gestartet, und die von der CDU-Abgeordneten Maria Böhmer geleitete „FrauenUnion“ macht
Druck, dass das Thema bei den Verhandlungen zur Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD
auf den Tisch kommt. „Die Zeit ist gekommen, dass wir ein Gesetz zum Schutz von Frauen
in legaler Prostitution sowie zur Bekämpfung von Zwangsprostitution und Menschenhandel
durchsetzen“, formuliert Böhmer. Das Gesetz der rot-grünen Regierung von 2002 hat
Deutschland aus Sicht der Kritiker „zu Europas Drehscheibe für Frauenhandel und zum
Paradies der Sextouristen aus den Nachbarländern“ gemacht. „Emma“ hält das Thema für
„genauso brisant wie die Pädophilie“.
Vor dem Hintergrund dieser aktuellen
Nachrichten empfehle ich Clemens Meyers meisterhaften neuen Roman „Im Stein“: ein
De Profundis unserer Zeit. Aus den Monologen und Gedankenprotokollen von Bordellbetreibern,
Prostituierten oder Polizisten aus Leipzig entsteht ein anrührendes, vor allem aber
tief bedrückendes Bild der Schattenseite unserer Gesellschaft. Nur um Lust und um
Geld geht es hier, alles Menschliche ist diesem System fremd. Besonders schmerzhaft
ist das völlige Fehlen von Fragen nach Gott oder dem Sinn des Lebens; nur hin und
wieder blitzt die andere Welt in der hiesigen Neonhölle auf. Ein Motorradrocker der
„Hells Angels“, der einen Nachtclub „beschützt“, wundert sich über den Mut von Christen
damals in der DDR: „Einige von denen haben sich was getraut... Schwerter zu Pflugscharen,
das habe ich schon verstanden... War aber nie meins gewesen. Ein Ideal, dem der Mensch
einfach nicht entspricht.“ Zynisch verwebt ein Radiomoderator namens „Ecki“, der seinen
Hörern die käuflichen Frauen Leipzigs empfiehlt, Auszüge aus dem „Hohenlied der Liebe“
des Alten Testaments mit seinen schlüpfrigen Bemerkungen. „Gott ist tot – Sex lebt“,
behauptet er.
Irgendwo in dieser Welt aus Falschheit und Gier sucht ein Vater
(Ex-Jockey mit Alkoholproblem) nach seiner verschwundenen Tochter, die als Minderjährige
in die Vorhölle von Sex und Drogen geraten ist. „Um die große dunkle Kirche reitet
er immer und immer wieder. Setzt sich dann auf eine Bank. Weil ihm schwindlig ist...
Wenig Licht, zwischen den Bänken, zwischen den Bäumen. Die dunkle Kirche. Der Norden
der Stadt. Wo er sie seit Jahren immer wieder sucht... Bis nach Berlin, wo sie den
Bundestag aus Glas und Stahl bauen, um neue Gesetze für die Huren zu verabschieden.“
Der verzweifelte Vater findet seine Tochter nicht, stattdessen paradieren Tausende
von Nachtgestalten, all die Jahre der Suche hindurch, an ihm vorbei. Mir kam beim
Lesen dieser Seiten der bittere Bibelvers in den Sinn „Rahel weinte um ihre Kinder
/ und wollte sich nicht trösten lassen, / denn sie waren dahin.“ Dieses Leipzig, in
dem eine Mehrheit der Bevölkerung religionslos ist, wird voraussichtlich der Gastgeber
des 100. Deutschen Katholikentags im Jahr 2016 sein.
„Mein Vater ist Italiener,
aus einer Gastarbeiterfamilie. Katholisch. Streng, wie man so sagt“, sinniert eine
junge Transsexuelle: „Ich verstehe nicht, warum er mich nicht mehr sehen will... Ich
denke immer, dass ich mein Kind lieben würde, egal, wie es ist... Weil man doch keine
Wahl hat.“ Wenn es „einen Gott oder sowas wie einen Gott“ gebe, „das einen zu dem
macht, was man ist, wie man ist“, dann sei der doch hoffentlich barmherziger als der
strenge Vater. Ein Roman, dessen Stimmen manchmal kaum zu ertragen sind, wahrhaftig
bis an die Schmerzgrenze. Ein erbarmungsloses Porträt unserer Zeit. Mit solcher Wucht
muss im Mittelalters Dantes „Inferno“ auf die Zeitgenossen gewirkt haben. Das
Buch ist im S. Fischer Verlag erschienen und kostet ca. 23 Euro. (rv 02.11.2013
sk)