Massengrab Mittelmeer: „Papstkritik wohl platziert“
In den letzten 15
bis 20 Jahren sind 21.000 Flüchtlinge auf dem Mittelmeer umgekommen. Diese erschreckende
Zahl gab jetzt der Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration
(OIM), William Lacy Swing, im Gespräch mit der Vatikanzeitung „Osservatore Romano“
bekannt. Allein Anfang Oktober kamen bei einem Schiffbruch vor Lampedusa über 360
Migranten ums Leben, am vergangenen Freitag riss das Meer vor Italiens Küste wieder
34 Menschen mit in den Tod. Angesichts der zahlreichen Boote, die sich in diesen Tagen
Richtung Europa aufmachen, muss erste Priorität sein: Leben retten. Das unterstreicht
William Lacy Swing im Gespräch mit Radio Vatikan.
„Ich denke da an die lebensrettenden
Maßnahmen. Dann erst werden andere Fragen sein: Wie können wir die Migranten unterstützen,
wenn sie einmal an den Küsten gelandet sind? Sie an die Küste zu bringen, ist wichtig.
Dann braucht es natürlich viel mehr Dialog zwischen den Herkunftsländern, Transitländern
und Zielländern.“
Die Flüchtlingsproblematik stand im Zentrum eines Treffens
zwischen William Lacy Swing und dem Papst an diesem Montag. Bei der Privataudienz
im Vatikan habe er Franziskus für dessen „starken und beständigen Einsatz“ für die
Migranten gedankt, so Lacy Swing. Franziskus habe als erster Papst die Mittelmeerinsel
Lampedusa besucht, und das unmittelbar nach der Papstwahl, so der OIM-Generaldirektor
würdigend. Papst Franziskus hatte damals mit Blick auf die Flüchtlingsfrage vor einer
„Globalisierung der Gleichgültigkeit“ gesprochen. Eine berechtigte Kritik, findet
Lacy Swing:
„Ich teile sicher seine Sicht (…) und bekenne: Wir haben nicht
genug getan, aus irgendwelchen Gründen sind wir, ist die industrialisierte Welt sehr
viel misstrauischer geworden gegenüber Migrationsbewegungen, obwohl wir sie doch brauchen.
Wir brauchen qualifizierte Menschen, um Jobs zu besetzen und um die Wirtschaften zum
Laufen zu bringen. Ich habe dem Papst also gesagt, dass seine Kritik wohl platziert
war.“
Irregulär, nicht illegal Laut italienischer Gesetzgebung
gelten alle Einwanderer ohne Papiere und Aufenthaltsgenehmigung als „illegal“. Swing
wendet sich entschieden gegen eine Kriminalisierung der Einwanderer:
„Unsere
Position ist dazu immer gewesen, dass irreguläre Migration und irreguläre Migranten,
die keine Papiere haben, nicht als kriminelle Elemente behandelt werden und nicht
kriminalisiert werden dürfen. (…) Wir haben immer das Wort ,irregulär‘ benutzt. Der
Begriff ,illegal‘ suggeriert, dass es sich nicht um Menschen handelt, wir sehen Menschen
jedoch als menschliche Wesen und denken, dass ,irregulär‘, weil eben ohne Papiere,
hier der exaktere Begriff ist, ,Illegal‘ führt dagegen zu Gedankenprozessen, die Migranten
kriminalisieren, und das wollen wir verhindern.“
Migration sei historisch
gesehen positiv für die Zielländer, nicht negativ, unterstreicht Swing. Und er verurteilt
deutlich die „Mythen“, die in der Öffentlichkeit über Migranten existieren: „Sie nehmen
uns die Arbeitsplätze weg“, „sie tragen zu steigender Kriminalität bei“, „sie bringen
Krankheiten in unser Land“ – für diese Vorurteile gebe es keinerlei Beweise und wissenschaftliche
Basis, so der OIM-Direktor. Mit Blick auf die Herkunftsländer der Migranten plädiert
er für verstärkte Maßnahmen, um das Leben der Menschen in diesen Ländern zu verbessern:
„Die
Situation in den Herkunftsländern ist sehr wichtig, denn man muss die Gründe analysieren,
die Menschen dazu bringen, ihr Leben zu riskieren und sich auf hohe See zu begeben,
die Frage stellen, ob es nicht mehr gibt, was getan werden kann, um sie zu unterstützen.
Da müssen wir unsere Hilfsprogramme ansehen und schauen, was man in Sachen Existenzsicherung
noch mehr machen kann.“
Angesichts der jüngsten Flüchtlingsdramen auf dem
Mittelmeer wird auf EU-Ebene derzeit über verschiedene Maßnahmen nachgedacht, um dem
Problem zu begegnen, darunter über die Verstärkung der Grenzkontrollen und die Einrichtung
von Korridoren für die sichere Passage von Flüchtlingen. Die Internationalen Organisation
für Migration wolle sich hier aktiv in die Gespräche einbringen, so Swing, um menschenwürdige
und effektive Lösungen zu finden. Die Europäische Union sei hier ein „strategischer
Partner“. Die Staatengemeinschaft bemühe sich in der Frage beispielhaft, so der Experte
mit Blick auf andere Kontinente in der Welt.
Vielfältige Kooperationen
mit der katholischen Kirche Die 1951 gegründete OIM ist eine zwischenstaatliche
Organisation mit Hauptsitz in Genf. Ihre Aufgabe sind Forschung, Beratung und Hilfestellungen
für eine technische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Migration auf nationaler und
internationaler Ebene. Hierbei geht es insbesondere auch um eine menschenwürdige Behandlung
von Migranten. Der OIM gehören derzeit 149 Staaten an, seit 2011 auch der Vatikan,
mit dem die OIM etwa im Bereich des Kampfes gegen Menschenhandel kooperiert. Swing
wird Anfang November wieder im Vatikan sein, um an der von Franziskus einberufenen
internationalen Konferenz zum Thema teilzunehmen. Derzeit biete die OIM weltweit Schulungen
an, um Ordensschwestern in diesem Bereich auszubilden, berichtete Swing im Interview
mit Radio Vatikan. Die Kooperation mit katholischen Hilfsnetzwerken weltweit sei sehr
fruchtbar, ergänzte er.