2013-06-07 13:53:43

Missio-Experte: „Die Türkei steht jetzt am Scheideweg“


RealAudioMP3 Mit der Protestwelle in einigen türkischen Städten steht das Land an einem „Scheideweg“: Wenn es Erdoğan jetzt nicht gelingt, die Gesellschaft zusammenzuhalten, könnte das die wachsende Demokratie in der Türkei um Jahre zurückwerfen. So bewertet der Menschenrechtsreferent des Internationalen Katholischen Missionswerks missio in Aachen die angespannte Lage. Die Unruhen in mehreren türkischen Städten haben sich seit vergangenem Freitag ausgeweitet, bei Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten kamen mehrere Menschen ums Leben. Erdoğan müsse jetzt den Weg des Dialogs suchen, so Christoph Marcinkowski im Interview mit Radio Vatikan.

„Was wichtig ist, ist ein Premierminister, der die Türken zusammenbringt, also diese starke Polarisierung von 50 Prozent AKP und den anderen Parteien vermindert, und der das in die Tat umsetzt, was er versprochen hat. Ich hoffe, dass er in dieser Linie tätig wird. Die Alternative ist die Zeit vor 2002 mit starken innenpolitischen Auseinandersetzungen, auch auf der Straße, einem Rechts-links-Schema… Er muss jetzt das Land zusammenhalten!“

Kern des Unmutes der Demonstranten, die seit einer Woche in mehreren Städten des Landes auf die Straße gehen, sei der autokratische Führungsstil des Regierungschefs. Erdoğan war bei den letzten Wahlen mit mehr als 50 Prozent im Amt des Ministerpräsidenten bestätigt worden, er peilt das Präsidentenamt an. Viele Türken seien heute jedoch von ihm enttäuscht, so Marcinkowski:

„Er ist ja angetreten mit der Devise, der Ministerpräsident aller Türken zu sein, auch derjenigen, die ihn nicht gewählt haben. Und was sich jetzt bewahrheitet ist, dass er der Herausforderung praktisch nicht gerecht geworden ist. Zum Beispiel spricht er in Statements von ,wir‘ und ,denen‘ – von denjenigen, die der Regierungspartei AKP nahestehen, und den anderen, die nicht für ihn gestimmt haben.“

Vor allem in Istanbul, wo sich die Proteste an einem Bauvorhaben der Regierung entzündeten, hat Erdoğan weniger Rückhalt als in anderen Landesteilen: In der Hochburg der säkularen Gesellschaft der Türkei hatte der Regierungschef im März laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Pew nur 45 Prozent der befragten Bürger hinter sich, landesweit waren es hingegen 62 Prozent. Die aktuellen Proteste werden vor allem von jungen Leuten getragen: Nach Angaben der Istanbuler Bilgi-Universität sind zwei von drei Mitgliedern der Bewegung nicht älter als 31 Jahre. Marcinkowski bestätigt dies:

„Das war eigentlich schon eher die jüngere Generation, die ja auch ein Produkt der letzten zehn Jahre ist. Also Leute, denen es wirtschaftlich jetzt besser geht, und nicht nur die Mittelschicht. Denn diese Mittelschicht ist ja stärker ausgeprägt worden durch Erdoğans Regierung. Die republikanischen Nachkriegsphase der Türkei war nie so stabil, politisch und auch wirtschaftlich so potent wie unter Erdoğan, das muss man auch sehen.“

Aus diesem Grund forderten viele Menschen jetzt auch ihre demokratischen Rechte stärker ein, so der Experte, der glaubt, dass sich der Protest nicht nur auf die linksgerichteten traditionellen Erdoğan-Kritiker beschränkt. Die Bilgi-Universität gab derweil bekannt, dass 92 Prozent der Menschen, die an den Protesten teilnehmen, bei den letzten Wahlen nicht für die Regierungspartei AKP gestimmt hätten. Grundsätzlich sei die Tatsache, dass sich auf den Straßen der großen Städte der Türkei die Menschen zu Wort melden, positiv, hält Marcinkowski fest:

„Es ist eigentlich ein positiver Aspekt auch der Erdoğan-Gesellschaft, dass sich die Zivilgesellschaft hier äußern kann.

Marcinkowski erinnert an die Fortschritte, die das Land unter Erdoğan in verschiedenen Bereichen gemacht habe. Zum Beispiel in der Kurdenfrage, die heute zumindest kein absolutes Tabu mehr in der Türkei ist: „Man kann (heute in der Türkei, Anm. d. Red.) Kurdisch auf der Universität lernen. Er hat sich sehr offen gezeigt in den Anfangsjahren.“

Auch wirtschaftspolitisch habe der Ministerpräsident die Türkei auf einen guten Weg gebracht: „Er hat versucht, das staatliche System, das etatistische System, mit der islamisch geprägten Mehrheitsbevölkerung zu versöhnen, und da ist ihm auch Einiges gelungen, zum Beispiel die Entmachtung des Militärs, was man ja durchaus als positiv ansehen kann.“

Vor diesem Hintergrund könne man jetzt auch nicht von einem „türkischen Frühling“ analog zu Entwicklungen des so genannten „arabischen Frühlings“ sprechen, hält der Beobachter fest: „Die Türkei hat ein funktionierendes parlamentarisches System, es fehlt eben nur hier und dort bei der Implementierung dieses Systems.“

Um weiteres Blutvergießen zu verhindern, sei jetzt der Weg eines Dialoges mit der Protestbewegung unerlässlich, so Marcinkowski. Staatspräsident Abdullah Gül machte zum Beispiel einen Schritt auf die Protestierer zu: Er ließ verlauten, die Botschaft der Demonstranten sei bei der Politik angekommen. Dass Erdoğan einen ähnlichen Weg einschlagen wird, ist allerdings fraglich: Nach Rückkehr von seiner Auslandsreise sagte er jetzt vor Anhängern seiner islamisch-konservativen Partei AKP, die Demonstrationen hätten ihre demokratische Glaubwürdigkeit verloren und sich zum Vandalismus gewandelt. Seit vergangenen Freitag gingen Zehntausende Menschen in türkischen Städten gegen die Regierung auf die Straße, drei Menschen starben: zwei Demonstranten und ein Polizist.

(rv/die welt-online/diverse 07.06.2013 pr)








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