Menschen in der Zeit: Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius
Friedrich Christian
Delius wurde 1943 in Rom geboren, wo sein Vater Pfarrer an der Deutschen Evangelischen
Kirche war. Nach dem Beruf des Lektors entschied er sich für die freie Schriftstellerei.
2011 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt, dem bedeutendsten Literaturpreis
im deutschen Sprachraum. Er lebt in Berlin und Rom. In diesen Tagen feiert er seinen
70. Geburtstag.
Wenn man Menschen verstehen will, stellt man ihnen gerne
die erste Frage über ihr Elterhaus: welche Erinnerungen tragen Sie mit besonderer
Nachhaltigkeit an Ihre Mutter, an Ihren Vater?
„Meine Sicht als Schriftsteller
ist natürlich immer eine differenzierte, die versucht alle Aspekte zu sehen und zu
berücksichtigen. Dass ich geprägt worden bin durch das evangelische Pfarrhaus, das
sieht man meiner Art wie ich mich gebe und wie ich auftrete an. Auch meinem Schreiben.
Ich habe daran gute Erinnerungen und gute Prägungen, aber auch weniger gute Erinnerungen.
Ich habe versucht darüber zu schreiben, unter anderem in meinem Buch “Der Sonntag
an dem ich Weltmeister wurde”, wo ich aus der Sicht eines 11-Jährigen, vom Stand des
Bewusstseins eines 11-Jährigen über meine Eltern geschrieben habe”.
Wie
haben Sie zum Beispiel die Doppelrolle Ihres Vaters als evangelischer Pfarrer und
leiblicher Vater als Kind aufgenommen?
„Ja, das ist eine ganz schwierige Geschichte,
die man als Kind nicht so genau bemerkt, die man erst versteht, wenn man später darüber
nachdenkt und versucht, sich über seine frühen Gefühle klar zu werden. Diese Doppelrolle
ist schon etwas Schwieriges, d.h. man weiß ja nie so genau: spricht nun die göttliche
Autorität durch ihn, oder spricht er jetzt als der leibliche Vater. Das hat sicher
dazu beigetragen, dass ich auch immer ein recht schwieriges Verhältnis mit meinem
Vater hatte, was ich nie richtig mit ihm aussprechen konnte, weil er schon recht früh
starb, nämlich mit 48 Jahren – da war ich siebzehn. Also ich konnte mich nicht mehr
mit ihm darüber und über anderes auseinandersetzen”.
Während Sie über Ihren
Vater kein Buch geschrieben haben, haben Sie über Ihre Mutter aber eine Erzählung
geschrieben: In diesem Buch über Ihre Mutter schildern Sie in einem einzigen langen
Satz den Gang einer hochschwangeren Frau durch die Straßen Roms…..Hatten Sie eine
engere Bindung mit Ihrem Vater oder mit der Mutter?
„Ich hatte insofern eine
engere mit meiner Mutter, als viele Jahre länger mit ihr gelebt habe als mit meinem
Vater und sie deshalb besser und näher kannte. Dass ich ihre Geschichte geschrieben
habe, im Jahre 1943 in Rom, ist eigentlich auch der Versuch, das Leben dieser Eltern
in Rom damals, also im faschistischen Rom und nicht im Nazi-Deutschland, zu beschreiben
und näher zu erfassen. Es ist ja auch die Liebesgeschichte dieser Eltern”.
Als
10-Jähriger – so schreiben Sie in einem Selbstportrait - geben Sie als Beruf ‘Dichter’
an. Nach und nach gewinnen Sie – ich zitiere - mit ‘gelähmter Zunge’ die Macht über
die Wörter. Können Sie und diesen inneren, psychologischen Werdegang kurz beschreiben?
„„Mit
gelähmter Zunge” heißt, dass ich als Kind ein starker Stotterer war, sehr schüchtern
und mich nicht getraut habe zu reden, was ich aber auch im nachhinein sehe als eine
gewisse Vorsicht im Umgang mit den Worten, eine gewisse Sorgfalt, dass ich mir länger
überlegt habe, vielleicht als andere, was ich sage und wann ich etwas sage. Das ist
jetzt die positive Formulierung. Und dass ich dann doch so viele Wörter und Formulierungen
in mir gespeichert habe, dass ich dann in der Pubertät anfangen konnte, das aus mir
herauszulassen und in Gedichte und dann nach und nach auch in Litratur umzusetzen”.
Mit 35 Jahren haben Sie die Lektorenarbeit aufgegeben und sind freier Schriftsteller
geworden. War das ein natürlicher Schritt auf Ihrem Berufsweg oder ein mutiger Sprung
ins Wasser?
„In unserer Generation haben wir nie an so etwas wie Karriere gedacht,
also ich bin nicht einem Plan gefolgt, sondern ich habe mir gedacht, ich möchte eigentlich
versuchen, nachdem ich eben acht Jahre Lektor war, ob ich schreiben kann. Ich hatte
bis dahin noch keine Prosa geschrieben, noch keinen Roman geschrieben, ich hatte eine
Idee von einem Roman, und dachte: ich will das mal fünf Jahre probieren, und wenn
es dann nicht geht, wenn ich keinen Erfolg habe, wenn ich verzweifle an dem, was ich
da vorhabe, dann kann ich immer noch Lektor bleiben. Insofern habe ich das eher lässig
angegangen, nicht als Sprung ins Wasser. Ich gehöre ja noch zu der Generation, die
das Privileg hatte, dass sie auf dem Arbeitsmarkt willkommen war. Ich hätte auch bei
vielen anderen Verlagen als Lektor weiter arbeiten können. Der Versuch, meine eigene
Stimme zu finden und zu entwickeln und nicht nur sozusagen der Helfer und Diener von
anderen Autoren zu sein”.
Friedrich Christian Delius, Sie sind Autor von knapp
30 Büchern, die den Gang der deutschen Geschichte von der Studentenrevolte bis in
die Gegenwart hinein beschreiben. Über 20 Jahre trennen uns bereits von politisch-sozialen
Großereignissen wie die Wiedervereinigung Deutschlands und beinahe ein halbes Jahrhundert
von den berühmt-berüchtigen 68-Jahren. Sie sind Zeuge einer Zeit, die Europa verändert
hat und Sie haben diese Zeit durch Ihre Literatur erklärbar gemacht. Hat die Gesellschaft
die Politik verändert oder umgekehrt, die Politik die Gesellschaft?
„Das ist
für mich eine akademische Frage. Ich denke, dass diese 68er Bewegungen in den verschiedenen
Ländern, in de USA, in Frankreich, Italien und natürlich auch in Prag die Gesellschaften
sehr verändert haben und im wesentlichen doch einen guten Schritt vorangebracht haben.
Auch sogar unter kapitalistischen Begriffen war das eine Modernisierung. Die ganze
Unternehmenswelt z.B. hat sich verändert, die früher viel autoritärer war, die Unternehmer-Wirtschaft
ist eine Manager-Wirtschaft geworden, um von der Studentenrevolte einmal gar nicht
zu reden. Es hat sich vieles aus der Zeit der Starre herausentwickelt. In Deutschland
hat es zusätzlich die Rede über die verdrängte Vergangenheit belebt und das war dringend
notwendig”.
Wer war eigentlich in den 68er Jahren auf der richtigen, wer auf
der falschen Seite?
„Ja, wobei ich eigentlich wenig anfangen kann mit ‚die
Linke’ und ‚die Rechte’. Ich rede lieber von den einzelnen Menschen, darüber kann
ich reden. Wenn ich meine Generation angucke – die hat natürlich auch gelernt, sehr
viel gelernt. Und zwar, dadurch dass einige, ganz wenige, sich so radikal der Gewalt
zugewandt haben, haben viele gelernt, was es heißt, eine ordentliche Verfassung zu
haben, wie sie das Grundgesetz der Bundesrepublik zum Beispiel darstellt. Ich denke,
das ist in Italien auch nicht viel anders gewesen. Dass man einfach gelernt hat, wie
wichtig eine liberale, demokratische Verfassung ist, wie hoch dieses Gut ist, was
wir in einer Demokratie haben, was anderswo erkämpft wird. Also, ich sehe ganz viele
aus meiner 68er Generation, die sehr hellhörig dadurch geworden sind für alles was
antidemokratisch sich in verschiedensten Ländern entwickelt, die dort dagegen protestieren,
die aus den 68er Jahren sehr viel gelernt haben”.
Hat sich die deutsche Wiedervereinigung,
das hervorragenste Ereignis Europas, wenn nicht der Welt, in der Realität bereits
vollzogen?
„Selbstverständlich besteht auch ein Land wie Deutschland in seiner
Verschiedenheit. Die Schlewig-Holsteiner und die Bayern haben sich bis heute auch
nicht besonders vereinigt und deshalb müssen die Sachsen mit den Leuten vom Niederrhein
auch nicht einig oder jedenfalls ähnlich sein. Das ist ja immer eine Sache die im
Fluss ist, dass sich Menschen in einem Land aneinander reiben und hie und da auch
Vorteile haben gegeneinander. Das ist ganz normal. Denken Sie an Nord- und Süditalien,
das ist ja heute noch eine viel größere Differenz als zwischen dem früheren Westdeutschland
und dem früheren Ostdeutschland”.
Haben die Menschen von heute die Privilegien,
die unsere Generation in Europa erleben durfte – Frieden, Wachstum, Wohlstand – in
der rechten Weise genützt?
„Ich denke, was meine Generation noch zu wenig getan
hat, ist, der folgenden zu vermitteln, wie wichtig diese Privilegien sind und dass
sie nicht selbstverständlich sind. Dass sie in der Geschichte erkämpft wurden, mit
sehr viel Blut, mit sehr viel Unterdrückung. Und das weiter zu geben, dass man an
einer Demokratie ständig arbeiten muss, und nicht einfach sagen kann, wir wollen hundert
Prozent haben, das hat meine Generation noch versäumt, aber das kann ja noch nachgeholt
werden”.
Vor zwei Jahren wurden Sie mit dem Gerog-Büchner-Preis geehrt,
dem bedeutendsten Leiteratur-Preis im deutschen Sprachraum. Die deutsche Akademie
für Sprache und Dichtung begründete dies u.a. damit, dass Sie als kritischer, findiger
und erfinderischer Beobachter in Ihren Romanen und Erzählungen, die Geschichte der
deutschen Bewusstseinslage im 20. Jahrhundert erforscht haben. Bei der Verleihung
des Büchnerpreises hat mich eine Aussage von Ihnen sehr beeindruckt: Sie sagten bei
dieser Gelegenheit: ‚Ich freue mich mehr als ich sagen kann’. Das ist ein nicht alltägliches
Bekenntnis für einen Literaten, dem dieser bedeutende Literaturpreis zuerkannt wird.
„Ja,
so war das. Wenn ich daran zurückdenke, wie ich da angefangen habe als 16-17Jähriger
meine Gedichtchen zu schreiben und das Schöne und das Mühsame dieser Anfänge mich
versucht habe, durch das Schreiben mich selber,also meine Identität zu finden, und
wenn man das ein paar Jahrzehnte gemacht hat, und auch ein paar Prügel dafür eingesteckt
hat, Prügel auch von der literarischen Kritik, ich meine damit auch oft sehr böse
Angriffe literararischer Art, dann fühlt man doch auf einmal, dass man sagen kann,
o.k. Du hast es eigentlich ganz gut gemacht”.
Herr Delius, Sie sprechen vor
dem Mikrophon von Radio Vatikan, dem Sender des Papstes. Wie haben Sie den Papstwechsel
rein emotional wahrgenommen?
„Ich war natürlich wie alle also höchst überrascht
über diesen Rücktritt und über diese Art des Rücktritts und noch über diese schnelle
Art. Ich war ebenso überrascht, dass da ein neuer Papst auftritt, der offenbar andere
Wege, neue Wege gehen will: also das ist doch ein ganz erheblicher Wechsel und wir
werden sehen, was dabei herauskommt”.
Die alte Sehnsucht der Menschen nach
Orientierung und Geborgenheit ist auch im 21. Jahrhundert nicht geringer geworden.
Wie kann und wie muss die Kirche in Ihren Augen wieder anziehender, aktraktiver, ja
glaubhafter werden? Welche Funktion hat der Glaube in unserer Zeit?
„Ich bin
eigentlich nicht jemand, der darauf Antworten geben kann, Ich habe -sagen wir einmal-
in meiner Jugend eine Überdosis an Religion mitbekommen, sodass ich mich in diesen
Fragen doch eher zurückhalte. Ich will auch niemandem -auch keiner der verschiedenen
Kirchen - irgendwelche Vorschläge machen. Das sollen diese selbst entwickeln aus ihren
eigenen Möglichkeiten und aus ihrer eigenen Vorstellungskraft. Ich möchte mich da
nicht zu einem Ratgeber aufschwingen”.