Papst trifft Missbrauchsopfer: „Es muss ein Beispiel für alle Bischöfe und Oberen
sein“
Drei Stunden lang
hat Papst Franziskus an diesem Montag, den 7. Juli, sechs ausgewählten Opfern von
Missbrauch durch Priester zugehört. Die beiden Deutschen unter ihnen wurden von dem
Jesuiten und Psychologie-Professor Pater Hans Zollner begleitet. Pater Bernd Hagenkord
sprach mit Zollner über diese lange, intensive und emotionsgeladene Begegnung im Haus
des Papstes.
„Als Eindruck bleibt mir, dass es sehr dicht war und dass die
Atmosphäre zunächst sehr angespannt war, vor allem bei den Betroffenen von Missbrauch.
Manche wollen nicht, dass man sagt, sie seien Opfer, deswegen sage ich ‚Opfer und
Betroffene’. Ich kann schon sagen, dass von allen, die ich gesehen habe, und auch
bei den beiden, wo ich als Übersetzer mit dabei war, die Stimmung und das Empfinden
danach von einer großen Dankbarkeit war, von einer großen Gelöstheit und von einer
Hoffnung, dass es weitergeht, auch wenn nicht alles gelöst ist. Das war ein ganz wichtiger
Schritt, wie es jemand formuliert hat, dem Papst gegenüber zu sitzen, dem Papst sagen
zu können, was an Missbrauch geschehen ist und dem, was sie in den Reaktionen der
Bistumsleitungen erlebt haben und was sie unter Umständen noch weiter verletzt hat
- im Vatikan, in Sichtweite des Petersdoms, im Herzen der Kirche - das dem obersten
Hirten der Kirche sagen zu können, wie sehr sie das verletzt hat, dass ein Priester
sie missbraucht hat. Für mich ist die bewegendste Erkenntnis einfach, dass es diese
Art von Zuhören braucht, um an diese Art von tiefer Verwundung und Verletzung überhaupt
irgendwie heranzukommen und eine Möglichkeit zu finden, Vertrauen, das so bitterlich
enttäuscht worden ist, wie jemand auch gesagt hat: zerstört worden ist, vielleicht
in gewisser Weise wieder aufbauen zu können.“
Die Begegnung zwischen dem
Papst und diesen Opfern und Betroffenen von Missbrauch geht ja auf die nicht mehr
ganz so neue Päpstliche Kommission zurück, der sie angehören. Sie haben sich am Sonntag
getroffen. Was war der Hintergedanke, ein solches Treffen im Vatikan zu arrangieren,
mit einer ausgewählten, kleinen Gruppe von Betroffenen und Opfern? Was wollten Sie
dadurch erreichen?
„Es war für uns in der Kommission ganz klar, dass es
so bald wie möglich eine Begegnung des Heiligen Vaters mit Opfern und Betroffenen
von Missbrauch geben muss. Diese Idee kam speziell auch von Frau Collins, die selber
ein Opfer von Missbrauch ist und Mitglied der Päpstlichen Kommission zum Schutz von
Minderjährigen ist. Die Idee ist einerseits zu signalisieren: der Papst hört zu, der
Papst ist bereit, das, was Hirten der Kirche an Verbrechen und Sünde begangen haben,
auch anzuhören, es aufzunehmen, es in gewisser Weise mitzutragen und damit seiner
obersten Hirtenfunktion gerecht zu werden. Auf der anderen Seite einer kleine Zahl
von Betroffenen und Opfern die Möglichkeit zu geben, einen Schritt weiter hin zur
Versöhnung zu gehen, wie das auch jemand so formuliert. Und drittens dem Heiligen
Vater direkt vor Augen und zu Gehör zu bringen, was es bedeutet, Missbrauchsopfer
zu sein und was es auch für Folgen haben muss, sowohl was die Aufsichtspflicht, die
Verantwortung von Bischöfen und Ordensoberen angeht, als auch was die Aufnahmekriterien
für Priesteramtskandidaten angeht. Wie das auch jemand von den Betroffenen formuliert
hat: Es ist halt notwendig, alles zu tun, damit keine Opfer entstehen.“
Eine
leise Kritik an dem Treffen und am Papst ist ja, dieses Treffen sei zwar sehr gut
und sehr symbolisch, aber wo ist jetzt die Realität? Was bewirkt das? Bringt das den
Prozess der Aufarbeitung voran?
„Auf der persönlichen Ebene kann ich selber
sagen, auch weil ich die beiden deutschen Beteiligten begleitet habe, die hier angereist
sind: von dem Moment an, als sie erfuhren, dass sie eingeladen werden konnten, hat
ein Prozess begonnen, in dem sie einerseits nochmals alles wieder erlebt haben. Auch
die ganze Wut, der ganze Schmerz, die ganze Enttäuschung, das zerstörte Vertrauen
ist nochmals sehr lebendig geworden und hat sie sehr mitgenommen. Die Geschichten,
die in dem einen Fall 40 und im anderen Fall 15 Jahre zurückliegen, kamen nochmals
vor Augen und wurden so gespürt und lebendig wie damals. Dass sie dann aber auch –
ich konnte das begleitend sehen – einen Prozess durchgemacht haben, wo sie Schritt
für Schritt auch für sich Klärungen finden konnten. Zum einen einfach auch über den
Schmerz und die Enttäuschung und die Erwartung an dieses Treffen zu reden, und dann
auch zu formulieren, welche Erwartungen sie – nicht an den Heiligen Vater – haben,
sondern was sie auch für sich selber erwarten von diesem Ereignis und zum Beispiel
ob es einen Sinn hat, an die Öffentlichkeit zu gehen mit dem Namen, ihrer selbst oder
des Missbrauchstäters, und dann so zu einer inneren Empfindung zu kommen – es ist
gut so jetzt für mich, ich habe einen wichtigen Schritt für mich selber getan über
eine Hürde hinweg, die bisher für mich so stark war, dass ich mich nicht an einen
inneren Kern des Schmerzes herangetraut habe. Und heute ist das auch möglich geworden.
Und ich konnte dem begegnen, und das ist ein weiterer Schritt, wie gesagt, hin auf
einer größere Lösung und – wie das jemand ausgedrückt hat – Erlösung hin. Ich weiß,
dass Leute sagen, das ist einfach nur Augenwischerei, das waren ja nur sechs Leute,
was ist mit all den anderen? Ich glaube, das was natürlich zum einen eine ganz starke
Botschaft für die sechs war, die hier waren. Aber auch für viele Opfer und Betroffene
von Missbrauch, die daran auch partizipieren können. Ich habe die Leute, die hier
waren, auch eingeladen, das mitzuteilen, auf welche Art und Weise müssen wir noch
sehen. Aber ich glaube, es ist auch eine sehr starke Botschaft, wenn der Papst selbst
an diesem Montagmorgen sich drei Stunden Zeit genommen hat, um sechs Leuten zuzuhören
und ihren Schmerz ausgehalten hat, und sie angesehen hat in diesem Schmerz und geschwiegen
hat, dabeigesessen ist, und einfach das, was er auch am Anfang der Predigt gesagt
hat, den Blick Jesu ausgehalten hat, der Petrus anschaut, in dem Moment in dem Petrus
ihn verleugnet hat, und merkt, was da an Schmerz und gleichzeitig an Erwartung, von
Erlösungsbereitschaft da ist.“
Das sind jetzt sechs Betroffene, aber was
heißt das weltkirchlich, wenn es nicht nur Symbol ist?
„Ich glaube es ist
sehr klar geworden, wenn der Papst Missbrauchsopfern zuhört, dann kann das nicht nur,
sondern dann muss das ein Beispiel für alle Bischöfe sein, für alle Ordensoberen und
Verantwortlichen in der Kirche, die so einer Person begegnet, die durch einen Priester
zutiefst verletzt ist. Das ist menschlich gesprochen sehr schwierig auszuhalten. Der
Papst hat sich dem gestellt. Und das ist auch eine Ermutigung, ich würde sagen eine
starke und deutlich Aufforderung an Bischöfe, es ihm gleichzutun und sich die Zeit
zu nehmen. Für mich selber war das mit das Bewegendste auch zu hören, von diesen Personen,
die über sich selbst, ihren Weg und ihre Leben gesprochen haben, dass der tiefste
Schmerz dieser Personen vielleicht darin liegt, dass es ein Priester war, der sie
missbraucht hat, in den sie Vertrauen gesetzt hatten. Und dass damit ihr Vertrauen
und ihre Möglichkeit zu glauben, sich Mitglied einer Kirche fühlen zu können, zerstört
worden ist und ihre Fähigkeit zum Beispiel zu beten. Und dass das jetzt durch diese
Einladung, durch das Herkommen, alle Begegnungen, durch - wie es jemand formuliert
hat - durch die Achtsamkeit, die spürbar war in den ganzen Begegnungen, auch mit der
Gruppe, der Kommission, die anderen Betroffenen und Opfern, dass das vielleicht eine
Tür geöffnet hat, um eben wieder mit Gott reden zu können.“
Abschließende
Frage zur Kommission: Was werden die nächsten Schritte sein?
„Der nächste
konkrete Schritt ist, dass wir eine Liste gemacht haben von möglichen weiteren Mitgliedern,
die sich hauptsächlich aus Kontinenten rekrutieren werden, die bisher nicht vertreten
waren, Afrika und Asien. Wir hoffen, dass diese Mitglieder so bald wie möglich ernannt
werden können und beim nächsten Treffen im Oktober auch dabei sein können. Erst dann
können wir von der eigentlichen Kommission reden. Diese Kommission wird sich dann,
ich hoffe bald, damit abschließend beschäftigen können, was sind die Statuen, welches
Rechtsstatut hat es, welche Möglichkeiten hat die Kommission beratend einzugreifen,
welche Struktur wird das operativ haben. Wir hoffen, dass wir bald ein Büro haben
werden mit jemandem, der die Treffen, die bisher praktisch von Pater Oliver selber
organisiert werden mussten, übernehmen kann. Dann gibt es verschiedene Arbeitsgruppen,
auch darüber haben wir gesprochen, schon bei der letzten Pressekonferenz im Mai, die
die verschiedenen Themenfelder, die mit dem Thema Missbrauch in der Kirche zu tun
haben werden, in gewissem Sinn eigenverantwortlich vorantreiben werden. Da geht es
um Erziehung, Bildung, Fortbildung, um Fragen der Priesterbildung, um rechtliche Fragen,
welche Verantwortung etwa hat der Heilige Stuhl, wie können die Bischöfe zur Verantwortung
gezogen werden, was der Papst ja heute auch sehr stark in seiner Predigt erwähnt hat,
welche Mitverantwortung hat ein Bischof, ein Oberer. Ich bin sehr froh, dass wir ein
sehr gutes Klima der Zusammenarbeit haben, mit sehr deutlichen Positionen, die ausgetauscht
werden. Kardinal O`Malley ist ein sehr guter Moderator und Mediator. Wir werden darauf
achten, dass es eine gleiche Zahl von Männern und Frauen gibt auch in der größeren
Kommission, die noch vier bis fünf weitere Personen umfassen wird.“