Franziskus: Die „Mystik“ in der katholischen Soziallehre
Eine „Sozialenzyklika
im Kleinen“ hat Papst Franziskus an diesem Donnerstagabend in Form einer Videobotschaft
verbreitet. Er richtete sich darin an ein „Festival der Glaubenslehre“, das derzeit
in Verona stattfindet, und fasste einige Punkte der katholischen Soziallehre zusammen,
die er mit neuen Perspektiven und Interpretationen versah. Im Einzelnen sprach der
Papst über sein Bild der Globalisierung, über die gesellschaftliche Rolle jugendlicher
und alter Menschen, über Solidarität, die heutzutage geradezu als „Schimpfwort“ gelte,
und er ermutigte ausdrücklich die Wirtschaftsform der christlichen Genossenschaft.
Franziskus verglich die Menschheit mit einer Kugel, die entweder glatt oder
höchst facettiert und vielseitig sein könne.
„Ich mag es, mir die Menschheit
als facettierte Kugel zu denken, deren viele Formen in ihrer Pluralität die eine menschliche
Familie ausdrücken. Und das ist die echte Globalisierung. Die andere Globalisierung
– die der glatten Kugel – ist eine Gleichschaltung.“
Die Anerkennung der
Unterschiede, fuhr der Papst fort, wertet den Menschen auf. Das sei das Gegenteil
zur Gleichschaltung. Eine gleichschaltende Globalisierung hingegen neige dazu, beispielsweis
Jugendliche und alte Menschen auszumustern.
„Heute gelten Jugendliche und
Alte als Ausschuss, weil sie nicht der Produktionslogik einer funktionalistischen
Sicht der Gesellschaft gehorchen. Man sagt, sie sind „passiv“, sie produzieren nicht,
in der Ökonomie des Marktes sind sie keine Subjekte der Produktion.“
Dabei
berge jeder Jugendlichen und jeder alte Mensch einen großen Reichtum: beide seien
die Zukunft eines Landes, sagte Franziskus. Die Jugendlichen hätten die Kraft, voranzugehen;
die Alten seien „das Gedächtnis des Volkes, die Weisheit“. Eine Gesellschaft, die
den Jugendlichen ihre Kraft verweigere und keine Verwendung für die Weisheit und die
Erinnerung der Alten habe, könne nicht harmonisch wachsen und sich wirklich weiterentwickeln.
Abermals ging der Papst auf das Problem der Jugendarbeitslosigkeit ein.
„In
einigen Ländern haben 40 oder mehr Prozent der Jugendlichen keine Arbeit. Das ist
eine Belastung für die Zukunft. Wird das nicht bald gelöst, so haben wir die Gewissheit
einer zu schwachen Zukunft oder einer Nicht-Zukunft.“
Die Soziallehre der
Kirche biete hier einen überaus hilfreichen Bezugspunkt, „um sich nicht zu verlieren“,
so Papst Franziskus.
„Wer in der Wirtschaft und der Finanz wirkt, ist sicherlich
vom Profit angezogen, und wenn er nicht achtgibt, gerät er in den Dienst des Profits
an sich und wird Sklave des Geldes. ... Es braucht Mut, Nachdenken und die Kraft des
Glaubens, im Markt zu stehen, im Markt zu stehen mit einem leitenden Gewissen, das
die Würde der Person in den Mittelpunkt stellt und nicht den Götzen Geld.“
Das
alles sei nicht unmittelbar evident, räumte der Papst ein. Wenn aber der eine dem
anderen helfe, dann werde sich die Ausrichtung am Gemeinwohl auch in den Ergebnissen
niederschlagen.
„Wird die Soziallehre gelebt, dann generiert sie Hoffnung.
Auf diese Weise kann jeder in sich die Kraft finden, mit der Arbeit eine neue soziale
Gerechtigkeit zu fördern. Man könnte festhalten: Die Anwendung der Soziallehre der
Kirche enthält eine Mystik. Ich wiederhole das Wort: eine Mystik. Sie scheint dir
unmittelbar etwas wegzunehmen; wenn du die Soziallehre anwendest, scheint sie dich
aus dem Markt und den geltenden Regeln hinauszuführen. Sieht man hingegen auf die
Gesamtergebnisse, dann bringt diese Mystik einen großen Gewinn. Denn sie ist imstande,
Entwicklung zu schaffen, und zwar gerade weil sie verlangt, sich der Arbeitslosen
anzunehmen, der Schwäche, der sozialen Ungerechtigkeiten, und weil sie den Verzerrungen
einer ökonomistischen Vision widersteht.“
Die Soziallehre der Kirche akzeptiere
nicht, dass „die Gewinne allein dem gehören sollen, der produziert, und dass die soziale
Frage dem Staat, den Hilfsorganisationen und den Freiwilligendiensten überlassen wird“.
Genau aus diesem Grund sei das Wort Solidarität ein Schlüsselwort der Soziallehre,
so Franziskus.
„Aber wir riskieren heute, das Wort Solidarität aus dem
Lexikon zu streichen, weil es ein unbequemes Wort ist, fast, wenn ich das sagen darf,
ein Schimpfwort.“
Vor kurzem habe er im Vatikan Vertreter von Genossenschaften
empfangen, sagte der Papst. Diese Form des Wirtschaftens gebe Hoffnung.
„Ich
denke, es ist eine gute Nachricht für alle zu hören, dass sich, um auf die Krise zu
antworten, zwar die Gewinne vermindert haben, aber das Niveau der Beschäftigung gleich
geblieben ist. Die Arbeit ist zu wichtig. Arbeit und Würde der Person gehen im Gleichschritt.
Solidarität muss auch angewendet werden, um Arbeit zu garantieren, und die Genossenschaft
ist ein wichtiges Element in der Vielfalt der Arbeitgeber. Heute sind Kooperativen
auch auf europäischer Ebene Gegenstand von mancherlei Missverständnissen. Doch ich
meine, diese Form der Präsenz in der Welt der Produktion für überholt zu halten, kommt
einer Verarmung gleich, die der Gleichschaltung Raum lässt und die Unterschiede und
die Identität nicht fördert.“
Franziskus gestand an dieser Stelle auch
eine familiäre Sympathie für die Betriebsform der Genossenschaft ein. 1954 habe er
im Alter von 18 Jahren seinen Vater einen Vortrag über christliches Genossenschaftswesen
halten gehört. Seit damals habe er sich dafür begeistert, „ich habe gesehen, dass
das der Weg ist“, der Weg zur „Gleichheit bei allen Unterschieden“, ein langsamer,
aber sicherer Weg. Ausdrücklich lud der Papst dazu ein, die Wirtschaftsform der christlichen
Kooperativen neu zu denken. Katholische Genossenschaften als Umsetzung der Sozialenzyklika
„Rerum Novarum“ bezeugten die Kraft des Glaubens, „der damals wie heute dazu in der
Lage ist, konkretes Handeln einzugeben, um auf die Bedürfnisse der Menschen zu antworten.“