Die aktuelle Europadebatte
wird durch das Wort „verlassen“ geprägt. Erst wurde lange darüber gesprochen, ob Griechenland
und vielleicht noch andere Länder raus müssten aus der EU, jetzt stellt Großbritannien
die Frage, ob es nicht von sich aus gehen will. Ohne Europa auf die EU beschränken
zu wollen, tut es vielleicht gut, an die Anfänge zurück zu gehen. Wir wollen das in
dieser Sendung tun, und zwar mit einem Portrait des Papstes, der als erster für Frieden
und Verständigung in Europa steht, der aber – fast – unbekannt ist: Benedikt XV.,
Papst während des Ersten Weltkrieges, Mahner für den Frieden.
Eine untergehende
Welt
„Es muss das Schwert nun entscheiden; Mitten im Frieden überfällt
uns der Feind, darum auf, zu den Waffen!“ Kaiser Wilhelm II. spricht vom Schwert,
aber was den Menschen, die 1914 voller Elan in den Krieg zogen, begegnete, das waren
keine Schwerter, sondern ein voll industrialisierter Krieg. Die Maschinenwaffen, der
Soundtrack für eine zu Ende gehende Welt, der den vorläufigen Höhepunkt der stetigen
Aufrüstung bedeutete, die sich bereits im Jahrhundert davor abgezeichnet hatte.
Die
Historiker nennen es „das lange 19. Jahrhundert“: Was mit französischer Revolution
und Napoleon begann, setzte sich in den Nationalstaaten fort, in Industrialisierung
und Militarisierung, in einem völlig überzogenen Egoismus der Nationen Europas, in
Kolonialismus und in vielen, vielen Kriegen. Die in den 60er Jahren, Deutschland gegen
Österreich und der Bürgerkrieg in den USA, zeigten zuerst, wie sehr die Industrie
die Kriegführung bestimmte, Telegraf und Lokomotive wurden genauso wichtig wie Bajonett
und Stiefel. In den Schützengräben des Ersten Weltkrieges dann übernahmen diese von
der Hand des Nationalismus geführten Industriewaffen vollständig die Herrschaft, mit
furchtbaren Ergebnissen.
„Nun will man uns demütigen. Man verlangt, dass wir
mit verschränkten Armen zusehen, wie unsere Feinde sich zu tückischem Überfall rüsten.“
Wenn man Kaiser Wilhelm II. schwadronieren hört, kann man verstehen, wie sehr die
Zeit in ihrem verblendeten Nationalismus verhakt war. Und man könnte in diesem Zusammenhang
auch andere Staatschefs nennen: rund um den Krieg ertönte es stolz, martialisch, uniformiert,
national. Wie anders liest sich da eine Stimme, die seit 1914 immer wieder erklang,
die aber im Donner der Geschütze und angesichts der Taubheit der stolz geschwellten
Brust kein Gehör fand:
„Im Namen des allmächtigen Gottes, im Namen unsres himmlischen
Vaters und Herrn, … beschwören wir euch, euch von der göttlichen Vorsehung an die
Spitze der kriegführenden Völker Gestellte, endlich dieser grauenhaften Schlächterei
ein Ende zu setzen, die nun schon ein Jahr Europa entehrt.“ Es ist die Stimme des
Papstes, Benedikt XV. Vom Beginn des Krieges an und dann immer wieder äußert er sich
gegen den Krieg, schreibt und schreibt, denkt an den Frieden und will seinen Teil
zum Ende der „grauenhaften Schlächterei“ beitragen.
Was für ein Mensch sitzt
da auf dem Papstthron? Als 2005 der Name des neuen Papstes Benedikt XVI. verkündet
wurde, da haben wir uns alle gefragt, warum Benedikt? Wer war der letzte Papst dieses
Namens? Und warum will gerade Joseph Ratzinger die Verbindung mit diesem fast unbekannten
Papst? Hören wir den Papst selbst dazu. 2006, in seiner Friedensbotschaft, erklärt
er seine Entscheidung:
„Der Name Benedikt selbst, den ich am Tag meiner Wahl
auf den Stuhl Petri angenommen habe, weist auf meinen überzeugten Einsatz für den
Frieden hin. Ich wollte mich nämlich sowohl auf den heiligen Patron Europas, den geistigen
Urheber einer Frieden stiftenden Zivilisation im gesamten Kontinent, als auch auf
Papst Benedikt XV. beziehen, der den Ersten Weltkrieg als ein ‚unnötiges Blutbad'
... verurteilte und sich dafür einsetzte, dass die übergeordneten Gründe für den Frieden
von allen anerkannt würden." (Friedensbotschaft 2006, 2)
„Gesegnet, wer
als erster den Ölzweig erhebt“
Die „übergeordneten Gründe für den Frieden“:
Benedikt XV. steht für Ausgleich, Versöhnung. Die gleiche Botschaft von 1915, aus
der wir schon gehört haben, zeigt, wie der Papst diesen Frieden gewinnen will. Noch
einmal Benedikt XV.: „Niemand sage, dass dieser grausige Streit sich nicht ohne Waffengewalt
schlichten ließe. (..) Möge doch jeder von sich aus dem Verlangen nach gegenseitiger
Vernichtung entsagen. (..) Warum wollen wir nicht von nun ab mit reinem Gewissen die
Rechte und die gerechten Wünsche der Völker abwägen? Warum wollen wir nicht aufrichtigen
Willens einen direkten oder indirekten Meinungstausch beginnen, mit dem Ziel, in den
Grenzen des Möglichen diesen Rechten und Wünschen Rechnung zu tragen, und so endlich
dieses schreckliche Ringen zu beendigen, wie das in andern Fällen unter ähnlichen
Umständen geschah? Gesegnet sei, wer als erster den Ölzweig erhebt und dem Feind die
Rechte entgegenstreckt, ihm den Frieden unter vernünftigen Bedingungen anbietet.“
(Rom, Vatikan, 28. Juli 1915.)
„Er war pragmatisch und er war Diplomat. Er
war meiner Meinung nach ein sehr politischer Papst mit Weitblick.“ Sabine Lauderbach
befasst sich in einem wissenschaftlichen Projekt an der Universität Mainz mit Benedikt
XV. „Ich würde sagen, dass er ein sehr aufgeschlossener Mensch war, ein offener Mensch,
der die Welt begriffen hat. Das Bemerkenswerteste an diesen Schreiben ist die Sprache.
Ich finde, dass die verwendete Sprache ziemlich drastisch ist, der Krieg wird als
Geißel und als Selbstmord des zivilisierten Europa bezeichnet. Er benutzt sehr bildreiche
und drastische Ausdrücke. Die Wortwahl in den Schreiben ist meiner Meinung nach einzigartig.“
Zwischen
allen Stühlen
Nur vier Monate lang war er Kardinal gewesen, als ein
kompliziertes Konklave ihn zum Papst wählte. Es war bereits Krieg, der 3. September
1914. Einen Monat zuvor hatte der Kardinal bereits zum Konklave eine Rede gehalten,
in der er die Notwendigkeit zum Frieden betonte; die Wählenden wussten also, was für
einen Papst sie bekommen würden. Und was begonnen hatte, das setzt er den gesamten
Kriegsverlauf über fort: Er schreibt über den Frieden.
„Es ist seine einzige
Möglichkeit, seine Meinung kund zu tun und es ist für ihn ein Sprachrohr. Er ist jemand,
der über Schriften, über Enzykliken und über Mahnrufe, die für Päpste ganz außergewöhnlich
sind, versucht, die Menschen zu erreichen und ihnen seine Meinung mitzuteilen und
sie zur Versöhnung und Frieden aufzurufen. Das ist das einzige Mittel, das er hat.
Finden diese Schreiben Gehör? Nein. Da muss man ein ganz klares ‚Nein’ sagen. Öffentliche
Schreiben waren eher ungeeignet, vor allem in der Anfangszeit, wenn man gegeneinander
prallende nationalistische Strömungen vor sich hat. Man muss sich das so vorstellen,
dass der Papst ein Schreiben veröffentlicht, dann liest der deutsche Episkopat dieses
Schreiben und er geht davon aus, dass das eine Zuwendung zum französischen Episkopat
ist, während dieser wiederum sagt, ‚Ach, das ist doch Blödsinn, was hier geschrieben
wird, damit zeigt er uns doch nur, dass er auf der Seite der Zentralmächte steht’.
Wie es von den Parteien empfunden wird, steht er nicht über den Parteien, sondern
gerät mitten unter sie.“
Die Jahre ziehen ins Land, in den Schützengräben wird
gestorben und man missversteht die Absichten des Papstes. Die Franzosen nennen ihn
„pape boche“, benutzen also das Schimpfwort für die Deutschen, die Italiener „austriacante“,
die Deutschen und Österreicher schimpfen auf den „Franzosenpapst“. Den Papst lässt
es nicht kalt, dass er so gegen die Wände rennt, so Sabine Lauderbach:
„Er
gerät immer wieder an Punkte, wo er sich wo er sich die eigene Einflusslosigkeit eingesteht,
wo er zum Beispiel in einem Konsistorium vor seinen Kardinälen sagt, dass es scheinbar
keinen Sinn hat, immer und immer wieder zu mahnen, dass keiner auf ihn und auf die
Stimmen aus dem Vatikan hört. Es ist eine große Enttäuschung zu spüren, dass dem so
ist. Aber er überwindet diese Phasen immer wieder, diese Phasen der Verzweiflung,
wenn man es so nennen will, und kommt immer wieder in regelmäßigen Abständen mit einem
Mahnruf heraus und veröffentlicht wieder etwas und ruft Katholiken, aber auch alle
anderen, immer wieder zum Frieden auf.“
Idealismus und Pazifismus sind sicherlich
ein Beweggrund für Benedikt XV., daneben die katholische Lehre vom gerechten Frieden,
die er immer wieder anführt. Es sind aber auch ganz praktische und sehr menschliche
Gründe, die ihn bewegen. „Im ersten Weltkrieg haben sich 200 Mio. Katholiken gegenüber
gestanden. Man sagt, dass es 124 Mio. auf Seiten der Entente [Frankreich, England
und Russland] und 64 Mio. auf Seiten der Zentralmächte [Österreich und Deutsches Reich]
waren. Das waren insgesamt zwei Drittel aller Katholiken der damaligen Zeit. Die standen
sich gegenüber, haben dem Nationalismus gefrönt, haben sich bekämpft, haben sich gegenseitig
getötet, und in der Mitte steht dieser Papst. Was soll er tun?“
Praktisch
und idealistisch, modern und traditionsbewusst
Mahnen. Das ist alles,
was bleibt. Seine Enzykliken und Botschaften richten sich an alle kriegführenden Mächte.
Darüber hinaus gibt es aber immer wieder auch konkrete Interventionen von ihm, zum
Beispiel schreibt er dem König von England und beklagt die Einführung der Wehrpflicht
für alle - das würde einer Militarisierung der Gesellschaft Vorschub leisten.
„Das
sind keine Einzelmaßnahmen. Er richtet sich auch an die französischen Bischöfe oder
die deutschen, er richtet sich an den Erzbischof von Warschau; es sind immer bestimmte
Situationen und Ereignisse, die ihn dazu veranlassen, mit einzelnen Personen Kontakt
aufzunehmen, aber das so öffentlich, dass alle anderen das auch registrieren.“
Hier
wird ein Zug deutlich, der sich immer wieder durch seine Schriften und Aufrufe zieht:
Eine Kombination von Idealismus und Pragmatik. Er will Frieden und Versöhnung, denkt
aber immer auch konkret. Noch einmal Sabine Lauderbach:
„Grundsätzlich hat
er natürlich vorneweg immer die Versöhnung gefordert, die Versöhnung und die Verständigung
zwischen den Völkern, zwischen den Menschen. Er hat immer betont, dass alle Menschen
Brüder und Söhne des gleichen Vaters sind. Er war aber ganz pragmatisch und realistisch
der Meinung, dass dazu noch mehr gehört, nämlich die Lösung der wirtschaftlichen Fragen
und insbesondere der Reparationsfragen, der Ausbau ökonomischer Beziehungen, die Freiheit
der Verkehrswege und der Meere, die Zusammenarbeit – wirtschaftlich, gesellschaftlich,
kulturell. Es ging um Austauschbeziehungen und es ging darum, Verflechtungen zu schaffen.
Das war ein ganz realistischer Ansatz, wie ihn andere große Europäer, wenn wir sie
denn so nennen möchten, auch vertreten haben. Er war auf der einen Seite ganz pragmatisch,
aber immer begründet im katholischen Lehramt und den Traditionslinien auf der anderen
Seite.“
Kritik am Krieg, Kritik am Frieden
Aber auch hier
scheitert er. Als der Krieg endlich vorbei ist, die Zentralmächte kapituliert hatten
und es an die Gestaltung einer Friedensordnung ging, musste die Kirche draußen bleiben.
Benedikt XV. darf an dem Projekt, für das er so lange gearbeitet und geschrieben hatte,
nicht teilnehmen: Am Frieden machen. Italien war auf Seiten Englands und Frankreichs,
der Entente. Dafür bekam es zugesichert, dass der Papst nicht an Nachkriegskonferenzen
teilnehmen dürfe, um die so genannte ‚römische Frage’ nicht öffentlich stellen zu
können, also die Frage nach einem Kirchenstaat. Dementsprechend hart fällt Benedikts
Kritik am Ausgang dieser Verhandlungen, dem Versailler und anderen Verträgen, aus.
„Durchaus,
und zwar in der Enzyklika ‚Pacem Dei Munus’ vom Mai 1920 – zu Pfingsten erschienen
– auch diese Enzyklika war wieder ein Sprachrohr, das er genutzt hat, seinen Missmut
über die Verträge oder über die Ergebnisse der Verträge auszusprechen. Man muss sich
das so vorstellen: Benedikt hatte Hoffnung, dass bei den Nachkriegsverträgen gerade
für Europa eine Neuordnung gefunden wird, die dauerhaft und stabil sein könnte und
den Frieden bringen würde. Die Beschlüsse der Konferenz standen dem diametral entgegen,
was er sich vorgestellt hatte. Es gab keine Überwindung des Nationalismus, sondern
Nationalitäten wurden gestärkt. Ein großes Problem war die Reparationsfrage, die man
im Vatikan immer wieder thematisiert hat. Man fand, dass die Reparationen zu hoch
sind. Man wollte, dass sie verringert werden und dass Deutschland in der Lage ist,
sich auch wirtschaftlich wieder zu entwickeln. Es wurden keine Beschlüsse getroffen,
was Abrüstung anging. Es war ein Vertragswerk, dass beim Heiligen Stuhl immer wieder
in die Kritik geriet.“
Insbesondere eine der Ideen Benedikts XV. scheint auch
heute sehr modern: Abrüstung. „Die Abrüstung ist von ihm als eine der Voraussetzungen
definiert worden, damit ein Frieden dauerhaft sein kann, gerade in Europa.“
Ein
Europäer
Benedikt war auch für die Idee des Völkerbunds als ein Mittel
der Verflechtung und der Friedenssicherung; deshalb trat er für die Teilnahme auch
der Verliererstaaten ein, wieder etwas, was die Sieger nicht wollten. Er war nicht
grundsätzlich gegen Nationalstaaten, er wollte sie aber in ein größeres Netzwerk eingebunden
wissen. Damit war er vielleicht sogar realistischer als seine Nachfolger auf dem Stuhl
Petri:
„Man muss bei Benedikt vorausschicken, dass er zum Beispiel anders als
Pius XII. nicht daran geglaubt hat, dass die Nationen überwunden werden können. Er
hat gesagt ‚Nationen sterben nicht’, während Pius gedacht hat, dass man die Nationen
eigentlich ein einer Art Bund auflösen könnte. Benedikt glaubt an den Nationalstaat,
er glaubt auch daran, dass der Nationalstaat etwas Gutes sein kann, wenn der Nationalismus
eben nicht übersteigert ist, sondern in normalen geregelten Bahnen verläuft, falls
man das überhaupt so sagen kann.
Auch das sind ungemein aktuell klingende Gedanken.
Wahrscheinlich ist er beides: Modern, indem er die Welt seiner Zeit begriffen hat,
und gleichzeitig verankert im Denken der Kirche und den Traditionen des Friedens.
Dazu in seinen Konzepten pragmatisch und idealistisch zugleich. Umgesetzt werden konnte
davon nichts, es blieb das Mahnen. 1931, als sich die nächste Nationalisierung und
Militarisierung in Deutschland ankündigte, druckte deswegen auch der spätere Friedensnobelpreisträger
Carl von Ossietzky den schon mehrfach gehörten Text von 1915 noch einmal in seiner
Zeitschrift ‚Weltbühne’ ab.
Ein gescheiterter Papst? Man darf Benedikt XV.
nicht auf seine Friedensanstrengungen reduzieren, er setzt das erste Kirchenrechtsbuch,
den Codex von 1917 in Kraft und organisiert die kirchliche Mission radikal neu, indem
er auf den Aufbau eines lokalen Klerus setzt und nicht mehr auf das Senden von Missionaren,
alles bedeutende Weichenstellungen. Aber es sind eben doch die Ereignisse des Krieges
und die Nachkriegsjahre, die sein Pontifikat und damit ihn selber geprägt haben.
„Was
von ihm bleibt, ist das, was man eine pazifistische Leitlinie nennen könnte, die sich
durch die Pontifikate ins aktuelle Pontifikat zieht. Er spürt eine Verantwortung für
die Menschen und in dem Fall kann man ihn schon als Europäer bezeichnen, als jemanden,
der bereits im Ersten Weltkrieg an eine europäische Vereinigung glaubt. Er glaubt
daran, dass das, was später tatsächlich in der EWG und heute in der EU möglich ist,
möglich sein kann. Und daran glaubt er schon 1916 und 1917.“