Die Kult-Krimireihe
„Tatort“ und vor allem die „Tatortkommissare“ sind so konzipiert, dass sie die Gesellschaft
repräsentieren. Das sagt die Göttinger Germanistin Claudia Stockinger. Sie befasst
sich wissenschaftlich mit Populärkultur, und ganz besonders mit der Funktion des Katholischen
in der Krimireihe Tatort. Der Tatort sei, als festes Sonntag-Abend-Ritual, für viele
bereits selbst zur Kirche geworden, zitiert sie Schauspieler Ullrich Tukur. Wieviel
Wahrheit tatsächlich in diesem saloppen Vergleich stecken mag? Pater Hagenkord von
Radio Vatikan hat Claudia Stockinger getroffen.
Frau Stockinger, sind sie ein
Tatort-Fan?
„Ich schaue seit den 90er Jahren regelmäßig Tatort, aber ich
weiß es nicht genau, ob der Fanbegriff hier zutrifft. Ich analysiere den Tatort gerne
und versuche gerne, ihn in Zusammenhänge einzubetten. Fankultur würde ja auch bedeuten,
dass man Unterschriften sammelt oder sich die Schimanski-Jacke zulegen und den Tatort
zur Religion macht. Das würde ich nie tun.“
Sie sind Literaturwissenschaftlerin.
Wie kommt man von da zum Tatort?
„Die Literaturwissenschaft ist gewissermaßen
für alles zuständig. Die Literaturwissenschaft hat sich in den letzten Jahren stark
kulturwissenschaftlich ausgerichtet und versucht, ihre philologische Lektürekompetenzen
auf einen erweiterten Textbegriff anzuwenden. Da liegt es relativ nahe, sich auch
mit Film oder in diesem Zusammenhang mit Fernsehen und dem Tatort zu beschäftigen.“
Was
ist das Interessante am Thema Religion im Tatort? Wie kommt man überhaupt darauf,
anstatt sich unterhalten zu lassen sich mit dem Thema Religion im Tatort zu beschäftigen?
„Tatsächlich
ist es so, dass ich bei diesem Projekt persönliche Sehinteressen oder meinetwegen
auch Leseinteressen mit meinem Beruf verbinden kann.
Es gibt einen ganz
interessanten Tatort aus München, Gesang der toten Dinge aus dem Jahr 2009. Das ist
ein Tatort, in dem es um Esoterik geht und um eine Art Patchwork-Religion, die alle
möglichen Strömungen aufnimmt. So spielt der Engel Gabriel eine Rolle in dieser Religion
aber im Grunde ist das jetzt keine katholische Welt. Sie gibt nur Bildwelten ab. Es
gibt da eine Figur, die außerhalb dieser esoterischen Zusammenhänge steht, und diese
Frau ist eine Marienverehrerin und tatsächliche eine Katholikin, ohne dass das sehr
ausgestellt wird. Der Kommissar Ivo Batic orientiert sich in seinen Ermittlungen an
den Vorhersagen dieser religiös musikalischen Frau, die aber im Tatort als Hellseherin
bezeichnet wird. Sie verlässt sich auf ihre Ahnungen, aber sie ist eindeutig katholische
identifiziert. Der Tatort nimmt das Ernst. Am Ende hat die Figur mit dem Kommissar
den Fall gelöst. Und das wird nicht kommentiert oder dementier, das hat auch keine
seriellen Konsequenzen, sie spielt nie wieder eine Rolle im Tatort, aber es gibt Tatorte,
wo so etwas bleibt. Das ist eine jüngere Entwicklung, und das finde ich so bemerkenswert.
Ich
beobachte das eigentlich auch erst seit 1992. Nein: Mir ist das jetzt erst aufgefallen
aber der Tatort ist von 1992, "Sommernachtstraum". Da geht es um Satanisten. Es gab
auch mal einen in Köln, "Rabenherz" von 2009, da bleibt immer ein unerklärlicher Rest,
der nicht aufgelöst wird. Im Rabenherz gibt es auch wieder ein Katholikin - das Katholische
gibt da offensichtlich mehr her - die Krankenschwester ist und die todkranke Leute
per Handauflegen heilt. Das weiß keiner und sie will es eigentlich auch niemandem
mitteilen, sie ist eigentlich eine überforderte und sehr einfache Frau. Aber das Handauflegen
tut den Leuten gut. Im Tatort gibt es dann einen Fall, in dem jemand von den Toten
aufersteht, ohne dass das kommentiert wird. Die Dame selbst ist wird als Beichtmutter
von den Patientenmissbraucht. Sie überfordert das irgendwann alles und am Ende ist
sie auch die Mörderin. Interessant ist nur, dass der Hauptkommissar Schenk under cover
im Krankenhaus tätig ist und das mitbekommt, auch das Händerauflegen. Er verwickelt
die Krankenschwester in ein Gespräch und lässt eine Behandlung über sich ergehen,
und es wirkt. Und da ist etwas, was in diesem Tatort in keiner Weise gelöst wird sondern
am Ende rät Schenk seinem Kollegen, das auch eimal zu versuchen. Da findet fast schon
so etwas wie Mission statt.
Das sind Offenheiten oder Unerklärlichkeiten,
die der Tatort auf einmal zulässt, ohne dass er daraus auf irgend eine Weise ein Programm
machen kann, was aber seinem eigentlichen Konzept - Aufklärung, Regionalität, Realismus
usw. - absolut zuwiderläuft. Das wäre in den 70er oder 80er Jahren nie möglich gewesen.“
Man
sagt ja etwas flapsig, das kontinuierliche Schauen vom Tatorten ersetzt ein Soziologie-Studium,
es würde das verarbeitet was die Gesellschaft umtreibt, wahrscheinlich noch mehr als
in in anderen, wahrscheinlich auch noch und über mehrere Jahrzehnte hinweg. Spiegelt
dieses veränderte Zugreifen auf Religion auch eine veränderte Wahrnehmung in unserer
Gesellschaft wieder? „Ich habe schon den Eindruck, ja. Weil ich glaube, dass
die Tatort Kommissare so konzipiert sind, dass sie die Gesellschaft repräsentieren,
also nicht die Täter oder die Opfer, oder die Familien. Aber der Zuschauer - zumindest
sind so die Sympathielenkungen - ist immer auf der Höhe und auch auf der Seite des
Kommissars, mit dem er ermittelt, oder mit der Kommissargruppierung, die jetzt so
organisiert sind, dass es verschiedene Identifikationsfiguren gibt. Es ist nicht mehr
nur ein väterlicher Kommissar, wie in den 1970er Jahren, sondern verschiedene Kommissare,
teilweise auch weibliche, sodass vielleicht für jeden oder jede etwas dabei ist.
Da
kann man jetzt in Bezug auf Religion durchaus auch feststellen, dass Religion etwas
ist, das einerseits nicht mehr den Status der gesellschaftlichen Normalität hat, was
aber andererseits so interessant ist, dass man sich damit auseinandersetzen will.
Auch der Zwang oder das Interesse an der Konfession oder am Bekenntnis hat auch in
den Tatort Einzug erhalten.
Der Tatortkommissar als Figur in der Tradition
des Aufklärers und Rationalisten Sherlock Holmes stehend hält eigentlich davon überhaupt
nichts. Von Religion nicht, aber auch nicht von Übersinnlichem, oder von nicht rationalisierbaren
Erklärungsversuchen. „Ich glaube nur an Beweise“: Das ist so ein Stereotyp, so ein
Wort, das häufig vorkommt. Oder sie kämpfen gegen den Hokus-Pokus an, wie das im Tatort
München zum Beispiel oft der Fall ist. Und dann muss sich aber im Tatort der Kommissar
plötzlich selbst bekennen, er muss dann auf einmal, wie Kommissar Eisner in Wien mit
seinem Kollegen 10 Minuten lang darüber nachdenken, ob sie beide eigentlich an Gott
glauben oder wie er es mit der Kirche hält.“
Sie haben in ihrer Arbeit
festgestellt, dass das Katholische vor allem deswegen immer wieder vorkommt, weil
es da Kerzen und Weihrauch gibt und wegen der schöneren Bilder, aber kann es nicht
auch sein, dass da immer auch Mauern sind, hinter die man nicht gucken kann. Es gibt
ja auch Klostertatorte. Das ist doch auch so ein Mysterium, hinter das man gucken
will, das das Interesse am Katholischen weckt.„Tatsächlich ist es so, dass man
den Eindruck hat, dass das Katholische noch etwas fremder oder widerständiger oder
bedrohlicher zu sein scheint, als andere Konfessionen. Und da wird auch ganz schön
deutlich, dass der Tatort, wenn er sich mit dem Katholischen beschäftigt, eigentlich
auch teilweise sich mit etwas Sektenähnlichem zu beschäftigen glaubt.Da sind die Darstellungen
einer Sekte wie Satanskult gar nicht so unterschiedlich zu der Darstellung eines Lebens
im Kloster.
Es kommt Hauptkommissar Flemming in „Heilig Blut“ 1996 ins
Kloster, um dort einen Mord aufzuklären. Und er hat alle Vorurteile dieser Welt mitgebracht.
Insbesondere das Vorurteil, dass er sich jetzt hier eigentlich in einem geschlossenen
System bewegen muss, das von lauter unselbstständigen und unfreien, kranken Menschen
bewohnt wird, und die Äbtissin „Mutter Clementia“ macht ihm ganz deutlich, dass sie
keine Sekte seien. Das ist ein interessantes Thema, denn eine Sekte ist es immer dann,
wenn man unfrei ist. Und Clementia sagt: „Die Frauen sind freiwillig hier.“ Und der
Kommissar sagt dann „Ja, das sagen alle.“
Das Katholische scheint so
interessant zu sein, dass man eben auch mal gerne hinter die Klostermauern guckt,
und die Hauptkommissarin dann wenigstens für eine Zeit lang mit den Schwester mit
leben darf, um herauszufinden, dass das eigentlich auch nur ganz normale Frauen sind,
die alle die gleichen Probleme wie du und ich haben. Das wird dann auch explizit gemacht
und es wird dann auch ganz deutlich gemacht, dass das eine ganz normale Lebensform
ist und das macht der Tatort auch sehr schön. Er macht auch hier das Katholische nicht
lächerlich.“
Die meisten Tatort Kommissare sind ja moderne, meistens städtische
Menschen, die Berliner wie die Münchner und die Kölner auch. Die müssen sich dann
manchmal mit solchen Themen beschäftigen. Ist das eine Art und Weise, wie dem normalen,
modernen Menschen heute begegnet?
„Ich hab schon den Eindruck, dass man
da sehr viel lernen kann, wie sich gerade zum Beispiel das Verhältnis zu Religion
geändert hat. Dasselbe gilt aber auch für Kleidung oder das Verhältnis der Eheleute
zueinander, das sich in den Tatorten sich fulminant in den letzten 40 Jahren ändert.
Deswegen ist er auch so alteritär für die jungen Leute heute, wenn sie sich die Tatorte
der 70er oder 80er Jahre anschauen.“
Ich hab mal versucht so ein paar Begriffe
zu sammeln, die die beiden Sachen verbinden könnten, also katholische Kirche oder
christliche Religion und den Tatort. Und das sind die großen theologischen Begriffe:
Schuld, Sühne, Erlösung, Glauben und Wissen, Herausfinden, Bekehrung, Strafe, Gericht,
Heilung. Da ist doch sehr viel Verbindendes drin. Bedient sich der Tatort bei der
Religion, wird er da bespielt? Oder werden umgekehrt jetzt die theologischen Begriffe
aus der Populärkultur gefüllt?
„Ich glaube, dass die Tradition sehr viel
älter ist, ich kann etwa aus der Lektüre etwa von Kriminalliteratur seit dem ausgehenden
18. Jahrhundert sehr schön sehen, dass Aufgabenfelder der Kriminaler oder Kommissare
oftmals sehr ähnlich sind den Aufgabenfeldern der Psychologen und Psychiater von heute
und zu großen Teilen dann meines Überblicksfeldes seit dem 18.Jht dann auch der Priester
oder auch Pastoren.
Der schönste Bereich, den man dann beobachten kann,
ist der der Gespräche zwischen den Tätern oder mutmaßlichen Tätern, oder teilweise
auch den Opfern auf der einen und den Kommissaren auf der anderen Seite. Die laufen
wie Beichtgespräche ab. Teilweise wird das auch explizit gemacht, da heißt es „Ich
lege Ihnen jetzt meine Beichte ab“. Die Personen suchen dann die Absolution beim Gegenüber,
obwohl der ja im Grunde gar nicht dafür zuständig wäre, im Grunde müsste man das ja
auf den Richter verlagern aber das interessiert die Kriminalliteratur nicht. Aber
es ist diese Tradition, die der Tatort aufgreift.
Und das sieht man
oft schon seit den 1970er Jahren, dass die Tatortkommissare Beichtvaterfunktionen
übernehmen, um dann für den Zuschauer erkennbar Gerechtigkeit wieder herzustellen.
Im Tatort geht es permanent um Gerechtigkeit, es geht um Gut und Böse, es geht um
Sinnfragen, existenzielle Fragen. Und die Tatort Kommissare setzen sich oftmals explizit
in die Rolle einer Person, die man jetzt allgemein vielleicht als Kirchenvertreter
bezeichnen würde.
Zum Beispiel gibt es einen Tatortkommissar im Hessischen
Rundfunk, der Felix Murot heißt und auch selbst eine kirchliche Sozialisation hat,
ein großartiger Kommissar. Der Kommissar ist Sohn eines protestantischen Pastors,
er ist mit Verwerfungen aus dem Elternhaus geschiedenen, aber er kann sich diesem
Einfluss nicht entziehen. Er hat an einer Stelle, in der ersten Einspielung von der
Folge „Wie einst Lilly (2010)“, sich selbst mit seinem Vater verglichen und gesagt:
„Wir arbeiten im selben Bereich, es geht um Erlösung“. Er erlöst die Leute von ihrer
Schuld, genauso wie sein Vater einst die Leute von ihrer Schuld erlöst hat. Und solche
Parallelen gibt es ganz oft.
Damit wird wenig ausgesagt über die Religiosität
des Kommissars oder die Religiosität der Folge. Interessant ist aber, dass im säkularen
Bereich Funktionen auftauchen, die sonst von der Kirche wahrgenommen worden sind und
das finde ich auffällig.
Gleichzeitig ist immer klar und es wird von
den Kommissaren auch immer klar gemacht, dass – auf der strukturellen Analogieebene
- dass es gar nicht so einfach ist, auszumachen, was Gut und Böse eigentlich ist.
Das sind dann auch die guten Tatorte, die das verkomplizieren und sehr differenziert
darstellen. Und der Tatort ist dann auch in der Lage Figuren Gerechtigkeit widerfahren
zu lassen indem er ihre Geschichte erzählt und zu erzählen, warum jemand zum Täter
wird.“
„Interessant ist eben auch, dass zunehmend, seit Mitte der 1990er
auch Religion tatsächlich zum Tatort wird.Während es früher
eine andere Rolle spielte. Es hingen Kruzifixe in Amtsstuben oder so und man erkennt
dann auch die Regionalität des Ortes an solchen Symbolen. Aber es spielte keine inhaltliche
Rolle. Wenn in den 1970er Jahren ein muslimischer Gastarbeiter betete, dann sollte
da nicht der Islam vorgeführt oder erklärt oder vielleicht sogar lächerlich gemacht
werden, sondern, es sollte nur gezeigt werden, dass hier ist ein muslimischer Gastarbeiter,
also ein Fremder ist. Es wurden interkulturelle Differenzen aufgezeigt, aber keine
interreligiösen, das war uninteressant. Religion war noch so etwas wie gesellschaftliche
Normalität.“ „Interessant ist, und meine Hoffnung als Aufklärerin und Pädagogin
ist genau das, dass dort auch sehr viele Informationen mitgegeben werden, mit denen
man nicht rechnet, die aber dann durchaus hilfreich sind. So bekommt man viel mit
über Religion. Also ich als Katholikin freue mich immer wenn der Katholizismus im
Tatort gerecht dargestellt wird.Das finde ich gut.“
Claudia Stockinger
bekommt für ihre Forschungsarbeit „Religion im Tatort“, den sie im Rahmen einer Untersuchung
der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) publizierte, in diesem Jahr den Bad Herrenalber
Akademiepreis.