"Option für die Armen ist Option für Gott" - Interview mit dem Theologen Gustavo Gutierrez
Er gilt als Vordenker
der so genannten "Theologie der Befreiung" - und als enger Freund des Regensburger
Bischofs Gerhard Ludwig Müller. Gustavo Gutierrez ist ein überraschender Mann. Wir
sprachen mit dem Dominikanerpater u.a. über die bevorstehende Papstreise nach Brasilien.
Die
V. Generalversammlung des lateinamerikanischen Bischofsrates CELAM steht vor der Tür.
Was kann sie der Kirche Lateinamerikas bringen?
"Nun, das ist die fünfte Generalversammlung;
frühere haben sehr klare Optionen ausgesprochen mit Blick auf die Probleme, auf die
eine Verkündigung des Evangeliums trifft. Sie waren vor allem sensibel für die Herausforderung
der Armut; die neue Generalversammlung wird auch andere Themen, die mit der Verkündigung
des Evangeliums zusammenhängen, behandeln. Die CELAM-Tagungen haben das Leben der
Kirche Lateinamerikas jedesmal sehr geprägt - das kann man auch von der kommenden
erwarten."
Der Titel der kommenden Generalversammlung ist ziemlich komplex:
"Die Schüler Jesu in der katholischen Kirche, Missionare der Hoffnung, für eine Neuevangelisierung
von Lateinamerika und der Karibik zu Beginn des dritten Jahrtausends" - was kann denn
das bedeuten?
"Naja, der Titel ist schon lang, aber das Thema heißt doch: Wie
kann man im Lateinamerika von heute Schüler Jesu und Missionar sein? Darüber wird
all diese Monate gearbeitet."
Der Papst reist zum Start der CELAM-Konferenz
nach Brasilien- wie werten Sie diesen Besuch?
"Das wird sicher eine große Freude
- ein wichtiger Besuch. Papstreisen zu den CELAM-Konferenzen sind ja mittlerweile
eine gewisse Tradition. Der Papst hat selbst sehr darauf bestanden, dass die kommende
Konferenz in Brasilien ausgerichtet wird, dort also, wo die nach Spanisch zweite große
Sprache des Kontinents gesprochen wird, nämlich das Portugiesische. Ohne Zweifel wird
seine Eröffnungsrede die späteren Dokumente der CELAM-Generalversammlung stark prägen."
In
Lateinamerika gibt es ein drängendes soziales und wirtschaftliches Problem, dazu viele
radikal-linke Bewegungen, die oft auch anti-klerikalen Einschlag haben. Welche Rolle
kann die Kirche in diesem Zusammenhang spielen?
"Nun, die Situation ist etwas
komplexer, als Sie sie geschildert haben. Es gibt auch weitere Probleme, zum Beispiel
das An-den-Rand-Drängen der alten Kulturen Lateinamerikas; das ist in einem Land wie
Peru, wo ich lebe, sehr spürbar, wo es eine große indigene Bevölkerung gibt. Auch
in Bolivien und Ecuador, auch in Mexiko. Das Problem liegt also viel tiefer als nur
im sozialwirtschaftlichen Bereich. Wir brauchen darauf eine kreative Antwort. Ich
würde auch nicht sagen, dass die neuen linken Bewegungen in Lateinamerika besonders
anti-klerikal sind. Das gibt es zwar, aber es ist doch auch eine große Präsenz von
Katholiken zu spüren, die versuchen, nach dem Evangelium zu leben. Es gibt in Lateinamerika
heute ein sehr reiches christliches Leben, Basisgemeinschaften zum Beispiel; und es
gibt allerdings ein für die Kirche sehr ernstes Problem, nämlich eine steigende Zahl
von Morden an Christen - sie werden getötet, weil sie zur Kirche gehören. Auch Bischöfe
sind unter ihnen, dazu viele Priester und Laien. Doch auch diese Morde bedeuten einen
Reichtum, denn diese Menschen geben ein immenses Zeugnis für Christus, trotz aller
Schwierigkeiten. Also eine für Lateinamerika und die dortige Kirche sehr komplexe
Situation - um all das wird es in Aparecida gehen."
Spricht die Kirche in Lateinamerika
deutlich genug? Hört man ihre Stimme? Wo sind die größten Herausforderungen?
"Die
Kirche hat viele verschiedene Stimmen und gibt damit ganz unterschiedlich akzentuierte
Antworten. Kirche, das sind ja auch die im sozialen Bereich engagierten Laien - sie
geben Antworten auf die Lage in Lateinamerika, die sehr von der Linie der früheren
CELAM-Treffen geprägt sind. Ich meine die "Option für die Armen". Viele Katholiken
liegen auf dieser Welle, und das ist eine kirchliche Antwort. Es gibt natürlich auch
Statements derer, die die Kirche auf unterschiedlichen Ebenen repräsentieren, und
da sehen wir Schwankungen von einem Land zum anderen. Aber die CELAM-Treffen haben
sehr starke Grundlinien vorgegeben: Kampf für die Gerechtigkeit als integraler Bestandteil
der Evangelisierung. Evangelisierung läßt sich nicht reduzieren, der Einsatz für Gerechtigkeit
gehört zu ihr. Das Evangelium nach Matthäus ruft uns eindringlich dazu auf, "das Reich
Gottes und die Gerechtigkeit" zu suchen. Dem sind die CELAM-Treffen bisher gefolgt,
und ebenso viele einzelne Bischofskonferenzen. Die Verteidigung der Menschenrechte
ist manchmal sehr schwierig, hart und auch teuer, aber für die Kirche ist das zu einem
der großen Themen geworden. Natürlich gibt es bei einem so großen Thema auf einem
so immensen Kontinent immer noch viel mehr zu tun; aber es ist auch schon viel geschehen!"
Sie
sind einer der bekanntesten Vertreter der so genannten "Theologie der Befreiung";
wie sehen Sie diese heute? Spielt sie noch eine Rolle, oder haben sich die Dinge zu
sehr geändert?
"Ich glaube, die theologische Reflexion über Befreiung läßt
sich nicht vom Leben der Kirche in Lateinamerika trennen; da gibt es eine tiefe, innere
Verbindung. Diese theologische Reflexion setzt den Akzent auf die Herausforderung
durch die Armut und sieht sie als menschliche Herausforderung. Armut bedeutet auf
längere Sicht Tod, wie die Dominikaner-Missionare des 16. Jahrhunderts geschrieben
haben. Sie sprachen von den Indios und ihrem Sterben vor der Zeit. Diese Perspektive
war auf den früheren CELAM-Konferenzen gegenwärtig. Die Theologie der Befreiung ist
keine Theologie, die außerhalb des Lebens dieser Kirche und dieser christlichen Gemeinschaften
ausgearbeitet worden wäre; sie ist in ihrem Inneren angesiedelt und hat eine hilfreiche
Rolle gespielt. Aber die Theologie ist nur ein zweiter Schritt; der erste ist
das Christsein. Jesus folgen, das Evangelium verkünden. Die Theologie leistet bei
dieser Entscheidung und diesem Einsatz nur Hilfestellung. In diesem Sinn glaube ich,
dass diese Reflexion weiter relevant ist. Wir könnten sagen - auch wenn so etwas quantitativ
schwer meßbar ist -, dass 90 Prozent der Befreiungstheologie in dem besteht, was die
"Option für die Armen" meint. Und ich glaube, das geht weiter. Aber wir sollten
auch nicht übertreiben. Das Wichtige in Lateinamerika ist nicht die Theologie, sondern
der Einsatz für die Armen. Die Solidarität mit ihnen, und als Ausdruck der Nachfolge
Jesu ist es das, was wirklich zählt. Wir dürfen eine Reflexion nicht überbewerten,
die ja im Gegenteil abhängt von dem, was wirklich das Entscheidende ist."
Kann
man sagen, dass die Befreiungstheologie die gleichen Motive hat wie die kirchliche
Soziallehre?
"Theologien entstehen in bestimmten Momenten angesichts gewisser
Fragen. Darauf suchen sie Antwort und tragen so zum Leben der Kirche bei. Die Formel
"Option für die Armen" ist auf diese Art im Rahmen einer bestimmten Reflexion entstanden
und gehört jetzt zum Lehrgebäude der Kirche dazu. Aber eines muss sehr klar sein:
Was neu daran ist, ist nur die konkrete Formulierung; der Inhalt dagegen ist uralt.
Die Kirche hat das bei vielen anderen Gelegenheiten schon gesagt, u.a. Johannes Paul
II. hat in seiner Enzyklika "Centesimus Annus". Die Theologie füllt nur die schon
altbekannten, ewigen Themen der christlichen Botschaft unter spezifischen Umständen
mit neuem Leben. Jede Theologie tut das, und genauso verlief auch der Prozess bei
der Theologie der Befreiung. Ich glaube nicht an die Theologie der Befreiung, denn
an eine Theologie glaubt man nicht - ich glaube an Jesus Christus. Die Theologie ist
nur ein Hilfsmittel, um in diesem Moment des Lebens in Lateinamerika und der lateinamerikanischen
Kirche meinen Glauben an Jesus kennenzulernen. So wichtig die Theologie auch ist,
man muß sie an ihren Platz verweisen, der in gewisser Weise immer ein zweiter, nachrangiger
Platz ist. Das Erste ist das tägliche spirituelle Leben des Christen in der Nachfolge
Jesu. Theologie kommt danach und bezieht sich auf diese Nachfolge Jesu."
In
Lateinamerika wachsen die Sekten - ein Phänomen, das das Gegenteil zur "Option für
die Armen" zu sein scheint. Tausende verlassen die Kirche und werfen sich den Sekten
in die Arme. Wird man in Aparecida auch darüber sprechen müssen?
"Ja, ich glaube,
dieses Thema wird sich in Aparecida stellen. Es ist sehr wichtig. Das ist ein Prozeß,
der schon vor einigen Jahrzehnten begonnen hat, und auch wenn ich glaube, dass die
Zahlen manchmal übertrieben werden, ist das eine Realität. Man muß auf sie im Licht
des Glaubens eine Antwort suchen. Aber in einem so großen Kontinent wie Lateinamerika
mit solchen ethnischen und kulturellen Unterschieden ist das auch ein Aspekt der Globalisierung;
viele der Ideen, die diese Bewegungen propagieren, kommen nämlich von außen. Lateinamerika
ist nicht isoliert, sondern sieht, was in Europa, Amerika oder Afrika los ist; das
hat alles gleich seine Auswirkungen bei uns. Als Christen müssen wir sagen: Sicher
hat dieses Phänomen der Sekten und ähnlicher Bewegungen auch positive Aspekte, oder
aber es stellt Anfragen an unser christliches Zeugnis, über die wir nachdenken sollten.
In diesem Sinn muß also ein Gespräch in Gang kommen mit diesen Mentalitäten und Gruppen.
Unser fundamentales Anliegen bleibt natürlich die Anwesenheit des Reiches Gottes
in dieser Welt, um die wir im Vaterunser täglich beten: "Dein Reich komme - heute."
In dieser Perspektive ist das Thema für Aparecida natürlich interessant und muß auch
kritisch angegangen werden, was einige menschliche Deformationen betrifft, zu denen
einige dieser Gruppen führen können."
Was ist denn die Anfrage, die die Präsenz
solcher "Gruppen" an uns richtet?
"Das müßte man eigentlich genauer untersuchen...
aber manchmal denke ich, dass diese Gruppen an die Sensibilität der Menschen appellieren.
Da dürfen wir nicht das Evangelium mit einer gewissen intellekuellen Kälte präsentieren.
Viele Pfarreien sind ziemlich groß, die Christen, die in den Sonntagsgottesdienst
kommen, kennen sich untereinander oft gar nicht. Sie besuchen gemeinsam die Messe,
kennen sich aber gar nicht.... Bei diesen Gruppen aber gibt es eine menschliche Wärme,
die bei uns oft fehlt. Wir haben eine erstaunlich reiche Symbolsprache, aber da müssen
wir mehr tun... Auf dieses Bedürfnis haben, allerdings nur teilweise, die Basisgemeinden
geantwortet. Aber da gibt es zum Beispiel einen menschlichen Aspekt, den wir wohl
zu sehr vernachlässigt haben: das gemeinsame Gebet. Auf diese absolut notwendige kontemplative
Dimension haben wir nie genug Wert gelegt im christlichen Leben. Aber wie gesagt:
Es gibt in diesen Gruppen Positives, aber auch viel Widriges, da ist die Unterscheidung
sehr wichtig. Und dazu kann Aparecida einen Beitrag leisten."
Sie wollten immer
eine Stimme der Armen sein - was erwarten sich denn die einfachen Leute von Aparecida?
"Ich
glaube, es gibt viele - und sehr unterschiedliche - Erwartungen. Eine davon, sicher
nicht die einzige, ist eine Antwort auf die Lage der Allerärmsten in Lateinamerika.
Diese Perspektive, auch ihre Geschichte ernstzunehmen, scheint mir ausgesprochen wichtig.
Da geht es um so etwas wie eine neue geschichtliche Perspektive - Geschichte von der
anderen Seite. Die Kirche hat das in den früheren CELAM-Konferenzen getan, aber seither
hat sich die Lage wieder sehr verändert. Globalisierung ist ein Punkt; gegen Globalisierung
zu sein, ist wie gegen Elektrizität zu sein, es bringt überhaupt nichts. Man kann
höchstens gegen die Art und Weise sein, in der die Globalisierung derzeit fortschreitet:
wie sie eine immer größere Bresche schlägt zwischen reichen und armen Personen bzw.
Nationen. Diese soziale Ungleichheit ist Nährboden für eine Erwartung: Was wird die
Kirche dazu sagen? Ein anderer Punkt ist die Lage der indigenen Völker Lateinamerikas;
und der Nachfahren von Afrikanern. Gerade von den letzteren gibt es in Brasilien,
wo ja die Konferenz stattfindet, eine große Zahl - sie sind in Brasilien und der Karibik
am zahlreichsten, aber es gibt sie zum Beispiel auch in meinem Land, Peru. An den
Rand gedrängte Völker. Die Art und Weise, in der die Globalisierung die schon existierende
Ungleichheit noch weiter verschärft hat - Johannes Paul II. hat mehrfach vom "praktischen
Materialismus" gesprochen -, schafft also ebenfalls Erwartung: Was wird die Kirche
dazu sagen? In der Enzyklika von Papst Benedikt gibt es eine zentrale Idee, die
mit viel Mut formuliert wird: Das sind die zwei Arten von Liebe, die Liebe zu Gott
und die Liebe zum Nächsten. Und an einer Stelle sagt er sinngemäß: "Beide sind letztlich
ein und dasselbe." Diese zwei Arten der Liebe laufen ineinander. Das mag nun wie eine
abstrakte Überlegung klingen - in Wirklichkeit aber sind die konkreten pastoralen
und sozialen Konsequenzen dieses Satzes sehr groß. Das gibt eine große Linie für eine
Antwort auf diese Probleme vor. Wir können die Liebe zum Nächsten von der Gottesliebe
nicht abtrennen! Die christliche Spiritualität ist eine zutiefst "inkarnierte"; diese
andere Welt der Armut hat für die Kirche größeres Gewicht. In der katholischen Kirche
hat es sehr große Anstrengungen gegeben, in dieser Welt gegenwärtig zu sein; aber
die Probleme sind so immens, dass uns viel mehr zu tun bleibt als das schon Getane.
Ich glaube, eine Spiritualität, die den Einsatz für die Armen unterfüttert, ist
dringend gefragt. Die Option für die Armen bedeutet keineswegs, dass die Armen alle
gute Menschen wären; sie bedeutet, dass Gott gut ist. Es ist also in Wirklichkeit
eine theo-zentrische Option. Eine Option für den Gott, der Jesus geschickt hat. Das
zu unterstreichen - nicht weil es etwas Neues wäre, sondern weil es sehr wichtig ist...
ich glaube, darin wird ein immenser Beitrag (der Konferenz) von Aparecida bestehen.
Wenn Jesus im Johannes-Evangelium sagt: "Ein neues Gesetz gebe ich euch - liebt einander,
wie ich euch geliebt habe", dann mag jemand eingewandt haben: Naja, so richtig neu
ist das nicht. Das haben wir doch schon oft gehört... Aber es ist jedesmal, wenn wir
es leben, neu. Jedes Mal, wenn wir den Nächsten lieben, so wie Gott uns liebt, machen
wir diese Liebe zu etwas Neuem. Und ich hoffe, Aparecida wird zu einer wichtigen Etappe
bei dieser Erneuerung."