2017-11-11 08:38:00

Jemen: „Jeder Tag geschlossene Grenzen bedeutet tote Kinder“


Dem Jemen droht nicht weniger als „die größte Hungerkatastrophe der Welt seit Jahrzehnten“: Das sagt der UNO-Nothilfekoordinator Mark Lowcock. Sollte die Blockade der jemenitischen Grenzen durch die von Saudi-Arabien geführte Koalition weiter anhalten, dann würde der Jemen in einem humanitären Alptraum versinken. Auch der Leiter des UNO-Nothilfebüros im Jemen, George Khoury, schlägt Alarm.  „Wir wollen der internationalen Gemeinschaft gegenüber sehr klar sein: Jede Unterbrechung [der Hilfslieferungen im Jemen, Anm.] wird katastrophale Auswirkungen auf die Leben von Hunderttausenden Menschen und Kindern haben“, sagte er am Donnerstag.

Am Montag wurden die Grenzen in den Jemen ohne Vorwarnung dicht gemacht, selbst Hilfsorganisationen traf das völlig unvorbereitet. Flugzeuge und Schiffe, die mit Hilfsgütern beladen schon auf dem Weg ins Land waren, wurden zur Umkehr gezwungen. Rund eine halbe Million Kinder sind nun akut von Hunger bedroht, die bereits vorher prekäre humanitäre Situation könnte in einer Katastrophe enden. Die Grenzen müssen so schnell wie möglich wieder geöffnet werden, forderten rund zwanzig Hilfswerke in einem gemeinsamen Appell vom Donnerstag. Wir haben mit Anica Heinlein gesprochen, sie ist politische Referentin im Hilfswerk Care und in ständigem Austausch mit den Projektpartnern vor Ort.

Heinlein: „Im Jemen herrscht seit zweieinhalb Jahren Krieg, und schon vor der Schießung der Grenzen waren über 70 Prozent der Menschen auf Nothilfe angewiesen. Jetzt, mit der Schließung der Grenzen, kommen keinerlei Lebensmittel mehr ins Land. Im Moment ist der Stand, dass auch humanitäre Güter das Land nicht mehr erreichen. Und das lässt uns leider befürchten, dass es zu einer sehr großen humanitären Katastrophe kommt.“

RV: Es wurde ja eigentlich angekündigt, dass humanitäre Lieferungen auch trotz der Blockade ins Land kommen sollen. Woran hakt es da jetzt?

Heinlein: „Wir haben das auch gehört und hoffen natürlich, dass es bald möglich sein wird. Im Moment ist die Situation aber, dass seit Montag, als die Grenzen geschlossen wurden, keinerlei Güter mehr das Land erreicht haben. Wir wissen, dass zwei Frachter versucht haben, am Hafen von Hudaydah anzulegen und keine Einfuhrgenehmigung bekommen haben.“

RV: Unter welchen Umständen arbeiten Ihre Helfer denn derzeit im Land?

Heinlein: „Es gibt jeden Tag Luftangriffe, und auch, wenn wir in Kontakt mit unseren Kollegen stehen und Telefongespräche führen, müssen die oft unterbrochen werden, weil es Angriffe gibt und unsere Kollegen sich in Sicherheit bringen müssen. Man muss ganz klar sagen, im Moment ist im Jemen niemand sicher, weder Hilfskräfte noch Zivilisten.“

RV: Wie ist denn die Situation insbesondere der Kinder? Die sind ja bei solchen Konflikten in der Regel diejenigen, die am meisten leiden, und es wird ja immer wieder darauf hingewiesen, dass die Hungersnot jetzt auch ganz massiv die Kinder betrifft.

Heinlein: „Ja es ist natürlich so, dass der Hunger vor allem die Schwächsten im Land trifft. Das sind vor allem Kinder, aber das sind auch schwangere und stillende Frauen, und die Menschen sind jetzt schon sehr geschwächt. Im Land herrscht auch die Cholera, die Menschen haben fast keine Abwehrkräfte aufgrund der schlechten Ernährungssituation, und jeder Tag, den die Grenzen geschlossen bleiben und keine Nahrung das Land erreicht, bedeutet leider auch sterbende Kinder.“

RV: Von welchen Zahlen sprechen wir denn da, wie muss man sich das Ausmaß der Katastrophe vorstellen?

Heinlein: „Wir haben 21 Millionen Menschen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, sieben Millionen Menschen sind akut von Hunger bedroht, und die Zahlen für die Cholera-Erkrankungen schwanken sehr stark, weil wir einfach nicht zu allen Gebieten im Land Zugang haben. Es sind wahrscheinlich mittlerweile rund eine Million Erkrankte.“

RV: Diese Krise des Jemen begleitet uns ja nun schon seit geraumer Zeit, was war aber nun der Auslöser für die jüngste Verschärfung der Situation?

Heinlein: „Am Samstag hat eine im Jemen abgefeuerte Rakete in Saudi-Arabien eingeschlagen, und daraufhin hat Saudi-Arabien alle Grenzen abgeriegelt, sowohl in der Luft als auch von Land und See. Wie gesagt, humanitäres Material sollte eigentlich nach wie vor ins Land kommen, das ist momentan aber nicht der Fall. Es handelt sich übrigens nicht nur um Nahrungsmittel, von denen fast alle aus dem Ausland importiert werden, sondern auch um medizinische Versorgung und, sehr wichtig, Benzin. Denn um auch in entlegene Gebiete zu kommen, brauchen die Hilfsorganisationen Treibstoff für ihre Fahrzeuge.“

RV: Die internationale Gemeinschaft hat ja bislang bei ihren Vermittlungsversuchen zwischen Saudi-Arabien und Iran, die die Hauptakteure in dieser Krise darstellen, keinen Erfolg gehabt. Was muss die Weltgemeinschaft tun, um diese Situation zu beenden, was ist Ihr Appell?

Heinlein: „Im Moment stehen wir einer sehr, sehr dramatischen Situation gegenüber, und es muss wirklich mit allem Druck auf die Konfliktparteien zugegangen werden, um sie wieder an einen Tisch zu bringen. Ganz dringend müssen jetzt die Grenzen geöffnet werden, aber es müssen auch jegliche Kampfhandlungen in dem Land eingestellt werden, um die Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen.“

Der Bürgerkrieg im Jemen tobt seit mittlerweile knapp drei Jahren, mit katastrophalen Folgen für die Zivilbevölkerung. Von Iran unterstützte Houthi-Rebellen haben die Kontrolle über einen Großteil des Landes übernommen, seit 2015 werden sie durch eine Koalition um Saudi-Arabien bekämpft. Der jüngste Raketenangriff auf Saudi-Arabien hat Riad dazu bewogen, alle Zugangswege in den Jemen abzuriegeln. Die Saudis wollen damit alle Waffenlieferungen Irans an die Rebellen verhindern. Davon unbeeindruckt haben die Rebellen am Donnerstag angekündigt, weitere Raketenagriffe auf Saudi-Arabien starten zu wollen.

(rv/ap 11.11.2017 cs)








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