2017-09-17 09:00:00

Missbrauch: „Ich hoffe, dass wir zusammen in den Himmel kommen“


Die Geschichte eines Martyriums, voller Schmerz und ganz im schrecklichen Detail beschrieben. Und gleichzeitig die Geschichte einer Vergebung: Sexuelle Gewalt gehört zu den dunkelsten Kapiteln der vergangenen Jahrzehnte, denen sich die Kirche stellen musste, und nicht nur die Kirche. Viele Opfer haben gesprochen, einige können oder wollen das lieber nicht, viel ist getan worden aber viele hoffen immer noch, dass die Geschichte jetzt auch mal vorbei ist.

Ist sie nicht, sagt Daniel Pittet. Der Schweizer hat ein Buch geschrieben, in dem er den Missbrauch an ihm aufschreibt. Es trägt den erstaunlichen Titel: ‚Pater, ich vergebe ihnen.’

Der Papst weinte

Erst habe er ein Buch über die Liebe geschrieben, über einen Freund habe er beim Papst vorgesprochen und ihn um ein Vorwort gebeten. Der Papst habe ihn nach seiner Geschichte gefragt und auf seine Antwort, „ich bin einige hundert Mal von einem Priester vergewaltigt worden“ habe der Papst geweint. Dann aber habe Franziskus ihn ermutigt, ein Buch zu schreiben, seine Geschichte zu erzählen. So berichtet Pittet das Zustandekommen des Buches, das ihn und sein Leben und Leiden bekannt gemacht hat. Das Buch ist hart zu lesen, offen und sexuell explizit geschrieben. Wie er seine Geschichte erlebt hat, die Geschichte eines vierjährigen Leidens, der Zerstörung, aber auch die unglaubliche Geschichte einer Vergebung.

„Das war sehr schwierig, ich musste anfangs mein Telefon zu Hause abstellen“, berichtet Pittet im Gespräch mit Radio Vatikan anlässlich der Vorstellung seines Buches in Rom. „Alle fünf Minuten klingelte es und viele Menschen wollten mit mir reden, auch nachts. Das war zu viel für meine Familie, ich habe sechs Kinder, das war sehr hart für sie.“

Er will leben und reden

Ich hätte gehen können, sagt er, und er meint damit den Selbstmord, der Gedanke war ihm nicht fremd. Aber er wolle leben und reden, für all die anderen, die das nicht könnten. Er rede, weil es so viel Missbrauch gebe, nicht nur in der Kirche, er wolle vor nichts halt machen, bis zum Ende seines Lebens.

Aber zuerst wurde er zum Ansprechpartner für viele. „Es gibt Leute, die die ganze Zeit am Telefon weinen und ich bin ja kein Psychologe oder Psychiater. Ich habe nur mein Herz, nicht mehr. Ich kann nur beten und zwei, drei Sachen sagen. Für mich war das sehr, sehr schwer.“

Manchmal ist es besser, zu schweigen

Nicht alle Menschen – Opfer, Überlebende, Beteiligte – können über ihre Erfahrung und ihre Geschichte sprechen. Was sagt er diesen Menschen? „Ich sage ihnen, dass es manchmal besser ist, zu schweigen. Es ist sehr hart, wenn man spricht. Ich habe viele Briefe bekommen, die das erzählen. Zum Beispiel in der Familie, die Menschen müssen weggehen, weil ihnen nicht geglaubt wird. Der Onkel, der Vater, die Mutter, ja auch Mütter, damit kann man nachher nur sehr schwer leben. Sprechen kann man mit guten Freunden und mit dem Psychiater, ansonsten muss man fast schweigen.“ Er selber habe Glück gehabt, man habe ihm sofort geglaubt, auch der Priester und sein Bischof, zu denen er gegangen sei. Aber auch aus der Kirche kämen bis heute Vorwürfe, dass er zu viel spreche, dass er der Kirche Schaden zugefügt habe.

Das Gebet hat er in all dieser Zeit nicht verloren, er besteht darauf, jeden Tag habe er auch für seinen Peiniger gebetet, einen Schweizer Kapuzinerpater. Und das habe er dem auch gesagt. Und mehr noch, Pittet sagt einen erstaunlichen Satz, und das nicht nur einmal: Er hoffe, einmal gemeinsam mit seinem Peiniger im Himmel zu sein. „Ja, ich hoffe, dass er mit mir zusammen in den Himmel kommt. Er hat eine Abhängigkeit, er hat nichts daran machen können. Wenn er ein Kind gesehen hat, hat er immer sofort geschaut, wie er es bekommen könne. Er hat geglaubt, dass das gut ist und dass er etwas Gutes tut.“ Er habe gar nicht gewusst, wie sehr auch die Täter litten, berichtet er von seinen Begegnungen jetzt, nach all den Jahren, mit dem Pater. Immer wieder hätten sich auch andere Täter und Pädophile an ihn gewandt, nach der Veröffentlichung seines Buches, so habe er auch die andere Seite kennen gelernt. „Man kann nicht aufhören, das ist das Schlimmste.“

Empathie für die Täter

Wenn man Daniel Pittet zuhört und dank des Buches seine Geschichte kennt erstaunt diese Empathie für Menschen, die ihm selber und so viel anderen Leid zugefügt und Seelen zerstört haben. Er habe vergeben, sagt Pittet, damals schon, vor vielen Jahren, und jetzt sagt er es auch öffentlich. Damit ist seine Lebenserzählung mehr, sie ist auch noch ein Glaubenszeugnis eines Mannes, der bei all dem Gott nicht verloren hat, der immer gebetet hat. „Das mache ich, das ist mein Leben: Beten. Für alle. Ja.“

 

(rv 17.09.2017 ord)








All the contents on this site are copyrighted ©.