2017-09-04 10:08:00

Wolton: „Franziskus denkt auf einer anderen Zeitschiene“


„Politique et sociéte“ – Politik und Gesellschaft, so lautet der Titel des Gesprächsbuches des französischen Politologen Dominique Wolton mit Papst Franziskus. Bereits am Wochenende gab es einige Meldungen zum Inhalt des Buches, allem voran zur Bemerkung des Papstes, dass er als Jesuitenprovinzial in Argentinien eine Psychoanalyse bei einer jüdischen Analytikerin durchgeführt habe.

Doch in dem Buch geht es um sehr viel mehr als nur um Episoden aus dem Leben des Papstes. Dem Wissenschaftler Wolton (einem Agnostiker mit „christlicher Kultur“, wie er formuliert) ging es in seinen zwölf ausführlichen Gesprächen mit Franziskus vor allem darum zu ergründen, wie sich dieser zu politischen, sozialen und gesellschaftlichen Fragen positioniert. Das sagte Wolton, Direktor am Pariser Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS), in einem Interview mit unseren französischen Kollegen von Radio Vatikan.

„Im Lauf unserer Gespräche wechselten sich Momente des Verständnisses und des Nichtverstehens immer wieder ab; dieses Frage-Antwort-Spiel ähnelte einem Walzer. Wenn die Kommunikation mal an ihre Grenzen stieß, dann deshalb, weil der Papst nicht im selben Raum-Zeit-Konstrukt denkt wie wir. Wir denken in der Regel maximal zweihundert Jahre zurück, dazu kommt die Beschleunigung, die wir im Moment erleben; er argumentiert hingegen auf einer Zeitschiene von dreitausend Jahren! Seine Zitate überspringen, mindestens, ganze Jahrhunderte. Also, diese Gespräche sind ein gutes Beispiel für die Dialektik von Kommunikation und Nicht-Kommunikation, sie führen unserer zeitgenössischen Welt ihre Grenzen vor.“

„Er rehabilitiert den Begriff Volk“

Kennzeichnend für Papst Franziskus ist aus der Sicht Woltons die ständige Bezugnahme auf bestimmte Stellen des Neuen Testaments, wo es „um die Armen und die Ausgeschlossenen“ gehe. Gleichzeitig sei Franziskus ein Mann, der sich „politisch sehr deutlich“ äußere, etwa beim Thema Flüchtlinge und Einwanderung. „Das hat er erst vor kurzem wieder sehr klar und deutlich getan, und es hat ihm einmal mehr auch viel Widerspruch und Gegnerschaft eingetragen. Zugleich ist Franziskus jemand, der nah am Volk ist; er hat den Begriff Volk, der in Europa eher auf Misstrauen stößt, neu formuliert und rehabilitiert.“

Franziskus ist, das macht Wolton deutlich, vielschichtiger als das recht eindimensionale Bild, das bei seinen Anhängern wie bei seinen Verächtern kursiert. „Er misstraut der Strenge, der intellektuellen und theologischen Detailverliebtheit; er öffnet sich der Welt, so wie sie wirklich ist. Gleichzeitig zeigt er eine Mischung von Güte und Entschlossenheit.“ Und diese Entschlossenheit sieht der Strenge, gegen die der Papst anpredigt, manchmal ganz schön ähnlich. Komplex, das Ganze.

„Seine lateinamerikanische Herkunft, ein Gewinn für Europa“

Aufgehorcht hat Wolton, der vor dreißig Jahren schon einmal mit dem damaligen Pariser Kardinal Lustiger ein weithin beachtetes Gesprächsbuch („Gotteswahl“) veröffentlichte, als Papst Franziskus über die (von vielen, aber nicht von ihm selbst so genannte) Flüchtlingskrise sprach. Franziskus erinnert in dem Buch, das am Mittwoch auf Französisch erscheint, daran, dass die großen Mächte – auch Europa – die Verantwortung für viele der Entwicklungen tragen, die überhaupt erst zur großen Völkerwanderung geführt haben.

„Er ist ein Lateinamerikaner, aber durch seine italienischen Wurzeln zugleich ein Europäer. Und er fragt, warum Europa angesichts dieses Migrationsphänomens seine Werte verrät. Ist man denn nicht imstande, seine humanistischen Prinzipien auch in diesem Fall geltend zu machen? Tatsächlich rührt er da an ein echtes Problem der politischen Philosophie. Als Europäer mahnt er, dass der Kontinent da eine wichtige Verantwortung trägt und sich als Mutter, nicht als Großmutter verhalten sollte. Und als Lateinamerikaner setzt er hinzu: Wenn Europa das nicht tut – andere Länder tun es sehr wohl!“

Politik schreibt Franziskus mit großem P; Berührungsängste mit den Mächtigen dieses Planeten und mit den heißen Kartoffeln der Weltpolitik hat er nicht.

„Sein Grundprinzip ist eine gesunde Laizität, also eine gesunde Trennung der religiösen von der politischen Sphäre. Mit Blick auf Frankreich lobt er durchaus das Modell der Laizität, vermisst dabei aber eine Öffnung zum Transzendenten hin. Was die Demokratie und den Respekt der Menschenrechte betrifft, liegt Franziskus auf einer Linie mit den entsprechenden Äußerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Zugleich ist er fast besessen – sagen wir lieber: sehr aufmerksam bei wirtschaftlichen und sozialen Ungleichgewichten und davon, dass reiche Gesellschaften auf Kosten ärmerer leben. Er ist sehr sensibel für die Frage der Armut, viel sensibler als das jetzt gemeinhin in Europa der Fall ist. Das hat wieder mit seiner lateinamerikanischen Herkunft zu tun, er hat die Armut gesehen, sie ist dort sehr viel sichtbarer als hier in Europa. Seine Herkunft ist in dieser Hinsicht ein wichtiger Beitrag für uns.“

„Soviel Freiheit und Ehrlichkeit bei einem Papst…“

Sozialpolitisch sieht Wolton den Papst keineswegs als heimlichen Kommunisten, sondern eher als Paladin einer wirklich sozialen Marktwirtschaft. „Er ist ausgesprochen für ein staatliches Eingreifen: Nicht der Markt regelt alles allein, sondern der Staat muss ordnend eingreifen. Weil die soziale Dimension viel wichtiger ist als die finanzielle.“

Erst im letzten Teil des Buches wird es dann persönlicher. Franziskus spricht über die Rolle von Frauen in seinem Leben, über seine Freuden und Ängste, seine Abscheu vor Klatsch und Scheinheiligkeit. Frage an Wolton: Hat das, was der Papst da gesagt hat, Sie auch mal überrascht oder bewegt?

„Ja, bewegt ist der richtige Ausdruck. Soviel Freiheit und Ehrlichkeit bei einem Papst, in einem eigentlich so festgelegten Amt, das ist selten. Das zeigt seine tiefe Menschlichkeit und seine intellektuelle Aufrichtigkeit. Ja, er ist jemand, der nichts mit übermäßiger Strenge und mit Konformismus anzufangen weiß, das stimmt… Woran er sehr stark interessiert ist, das ist die Nähe, die direkte (auch körperliche) Kommunikation. Darum hasst er den Snobismus der ‚Flughafen-Bischöfe oder –Priester‘, wie er sie nennt, der Kirchenleute, die weltlich leben. In dieser Hinsicht entspricht der Hof des Vatikans überhaupt nicht seiner Persönlichkeit.“

Vielleicht auch Einsamkeit…

Franziskus kenne das Leben, kenne auch die Schwächen der Menschen, suche vor allem den Kontakt zu einfachen Leuten. „Was mich doch beeindruckt, ist die Freiheit dieses Menschen. Seine Freiheit, seine Ehrlichkeit – vielleicht auch seine Einsamkeit. Und sein Mut, etwas ganz durchzuziehen, auch wenn viele im vatikanischen Staatsapparat dagegen sind. Er lebt nicht nur für die Jahre, die sein Pontifikat dauern wird, sondern für die Ewigkeit.“

Wolton glaubt, dass der Papst zufrieden mit ihren Gesprächen ist. „Weil ich kein Priester bin. Weil ich ein Laizist bin. Weil ich ein französischer Wissenschaftler bin. Weil ich ein Nonkonformist bin. Ich glaube, dass ihm angesichts des Kampfes, den er durchficht, viel am freien Reden liegt. Vor allem war unser Dialog nicht zeitlich begrenzt; es wurde eine Art Freundschaft daraus, aber wir sind uns auch in vielem nicht einig. Und ich lasse diesen Dissens jedes Mal so stehen, weil das normale Beispiele für Nicht-Kommunikation sind.“

(rv 04.09.2017 sk)








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