2017-08-20 09:00:00

Kambodscha: Zirkus ist eine Zukunftsperspektive


Kambodscha ist weit über 30 Jahre nach der Gewaltdiktatur der Roten Khmer dabei, die eigene schmerzhafte Geschichte zu verarbeiten. Derzeit stehen zwei führende Mitglieder des Regimes, das bist 1979 das Land regierte, vor einem Sondertribunal vor Gericht, ein Urteil gegen ex-Staatchef Khieu Samphan und andere wird in Kürze erwartet.

Drei Millionen Menschen wurden 1975-1979 vom kommunistischen Regime Pol Pots ermordet, unter anderem auch solche Kambodschaner, die einer Religionsgemeinschaft angehörten. 2015 startete Papst Franziskus ein Verfahren zur Seligsprechung für 35 christliche Märtyrer in dem sonst buddhistisch geprägten Land.

Einige Kambodschaner flohen in den 70er Jahren ins benachbarte Thailand. Dort legte die Französin Veronique Decrop im Jahr1986 den Grundstein für ein ganz besonderes Projekt: Eine Kunstschule, die kambodschanischen Kindern eine Perspektive bieten und ihnen helfen sollte, die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Zu der Malerei kamen schnell weitere Kunstformen hinzu.

Inzwischen ist Phare Ponleu Selpak – „Die Leuchtkraft der Künste“ – vor allem für seinen Zirkus international bekannt. In Siem Reap, nahe der antiken Angkor-Tempel, treten mehrmals die Woche Absolventen der Zirkusschule in verschiedenen Shows auf. Fast ohne Hilfsmittel behandeln die Artisten mit verblüffender Akrobatik typisch kambodschanische Themen, vom Geisterglauben bis zur Diskriminierung verstümmelter Minenopfer.

Verarbeitung durch Kunst

Das wichtigste Stück „Sokha“, Khmer für „Glück“, folgt dem Schicksal des Mädchens Sokha, das die Ermordung seiner Familie durch die Khmer Rouge mit ansehen muss und schließlich durch die Kunst wieder neuen Lebenswillen findet.

Ulrike Niklas ist Professorin für Südasien-und Südostasienstudien an der Universität zu Köln. Mehrmals pro Jahr leitet sie für ihre Studierenden Summer Schools in Südindien, Bali und Kambodscha, in denen sie die historisch-kulturelle Verbundenheit dieser Regionen vor Ort erforschen können. In Kambodscha gehören auch Besuche im Zirkus und in der Schule von Phare Ponleu Selpak zum Programm.

Niklas glaubt, dass der Zirkus auch einen Beitrag zur Wiederentdeckung der kambodschanischen Identität leistet. „Wenn man durch Kambodscha reist, mit offenen Augen, dann merkt man, dass da immer noch ein ganz großer Hunger ist, sich Bildung anzueignen und die eigene Kultur wieder aufzubauen, die völlig zerstört war durch die Roten Khmer. Das ist natürlich zum Teil auch Sache dieses Zirkus, wobei der Zirkus sich traditioneller Dinge bedient. Zum Beispiel sind die Aufführungen immer von Livemusik begleitet, da sind dann Kinder, die in der  Schule kambodschanische Musik gelernt haben und die Stücke begleiten. Der Zirkus selber ist eine Art ganz faszinierender Weiterentwicklung aus Elementen kambodschanischer Kultur – kambodschanischen Tänzen und so weiter –  bis hin zu einer wirklich ganz verfeinerten Artistik.“

Kostenlose Schulbildung plus Ausbildung in Sachen Kunst

Phare bietet derzeit 1.200 Kindern kostenlose Schulbildung und zusätzlich die Ausbildung zu Künstlern, Musikern oder Artisten. Auch die Familien der Schüler werden unterstützt. Das Ende der Militärdiktatur ist 30 Jahre her. Doch noch immer ist Kambodscha durch den Bürgerkrieg gezeichnet: Es nimmt im Index der menschlichen Entwicklung Platz 143 von 188 ein und gilt damit als eins der am wenigsten entwickelten Länder der Welt. Im ganzen Land mangelt es an Infrastruktur, es gibt beispielweise noch immer kein Eisenbahnnetz. Trotz des Erfolgs der staatlichen Entminungsprogramme kommt es regelmäßig zu Unfällen mit Landminen.

Die Systematik, mit der im ehemalige Foltergefängnis Tuol Sleng und den „Killing Fields“ bei der Hauptstadt Phnom Penh getötet wurde, erinnern den deutschen Besucher an Konzentrationslager der Nazis. Der ideologische Hintergrund war aber ein ganz anderer: „Das Erstaunliche bei den Khmer Rouge ist, dass die ganze Bewegung ausging von einer Gruppe junger Kambodschaner, die in Paris studiert hatten, also wirklich zur Schicht der intellektuellen gehörten, und dort in Paris in Kontakt gekommen waren mit europäischen Intellektuellen, die kommunistisch waren“, erklärt Niklas.

„Dann haben sie wohl in gewisser Weise diesen Kommunismus missverstanden und ihn in einer völlig missverstandenen Weise verquickt mit Geschichten und Ideen über das großartige, alte Khmer-Reich, welches man wieder auferstehen lassen wollte. Pol Pot und seine direkten Helfer haben dann eine Theorie begründet, dass Kambodscha als hundertprozentige Bauernstaat wieder groß werden könnte, in dem man keine Intellektuellen braucht. Das heißt, in der Zeit der Khmer Rouge war zum Beispiel das Tragen einer Brille ein Todesurteil.  Denn wozu braucht man eine Brille? Die braucht man nur, wenn man lesen will. Wer liest? Intellektuelle. Was brauchen wir nicht in diesem Staat? Intellektuelle.“

Todesurteil für das Tragen einer Brille

Ebenso verfolgten die Kommunisten auch Gläubige aller Religionen, schlossen Tempel und Klöster und zerstörten Kunstwerke. Die Folge dieser Zeit sind bis heute zahlreiche soziale Brüche, die das Leben für die einfache Bevölkerung schwer machen. „Das hat zum einen zutiefst traumatisierte Familien hinterlassen, was sich bis heute durchzieht“, weiß Ulrike Niklas. „Zum anderen hat es eine ganz große Schar von Waisenkindern hinterlassen, die auf der Straße gelebt haben, von der Hand in den Mund und zum Teil auch ihr Essen haben stehlen müssen. Um überleben zu können, entwickelten sich daraus gewisse kriminelle Energien. Kambodscha krankt immer noch an dieser Zeit. Wir haben immer noch die Generation der Leute, die in dieser Zeit unmittelbar nach den Roten Khmer Kinder waren. Deren Kinder sind nun die, die in dem Zirkus Phare Ponleu Selpak betreut werden.“

„Wenn du viele Probleme hast, kann Zirkus dir eine Abwechslung bieten”, versucht die freiwillige Pressebeauftragte, Megan Brake aus den USA, die Bedeutung des Projekts zu erläutern.“ Es ist etwas, worauf man sich freuen kann und eine Chance, seine Gefühle auszudrücken, ohne darüber reden zu müssen.“ Neben Zirkus können die Schüler sich auch für Musik, Schauspiel, Tanz, bildende Kunst oder Graphic Desing entscheiden. Künstlerische Produkte werden in Phares eigenen Läden verkauft und bieten den Schülern so erste Möglichkeiten, mit ihrer Arbeit etwas zu verdienen. Schon lange werden bei Phare Ponleu Selpak nicht mehr nur Waisenkinder oder Opfer der Roten Khmer unterrichtet. Durch die wachsende Popularität der Schule bewerben sich inzwischen auch Kinder besser gestellter Familien aus dem ganzen Land – „das stellt uns vor ein neues Dilemma“, weiß Brake.

(rv 07.08.2017 jm)








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