2017-08-03 11:02:00

Radikale Muslime: Was treibt sie an?


Die islamische Lehre spielt bei der Radikalisierung junger Muslime eine wesentliche Rolle: Das behauptet eine neue Studie aus Wien. Sie widerspricht frontal der gängigen These, dass junge Muslime in Europa sich in erster Linie aus Frust und aus Mangel an Perspektiven radikalisierten, sich aber gar nicht so sehr für Theologie interessierten.

Der wirkende islamische Theologe Ednan Aslan von der Universität Wien hat, wie die „Tagespost“ vom Mittwoch berichtet, etwa dreißig ausführliche Interviews mit straffälligen Muslimen in Österreich geführt. Wichtigstes Ergebnis: Die aktive Auseinandersetzung „mit Inhalten, Normen und Wertvorstellungen der islamischen Lehre“ speilt bei der Radikalisierung eine maßgebliche Rolle. „Diese intensive Auseinandersetzung mit theologischen Themen stellt bei vielen Befragten einen Wendepunkt in ihrem Leben dar, der mehrheitlich positiv bewertet wird“, so Aslan.

Salafismus als ganzheitliches Konzept

Aufschlussreich sei, dass der Großteil der Befragten aus einem gläubigen muslimischen Elternhaus stammt und die Grundlagen des Islam bereits vor der Radikalisierung kannte. Die weit verbreitete Ansicht, radikale Muslime hätten meist nur eine geringe Kenntnis ihrer Religion, habe sich in dieser Untersuchung nicht bestätigt. Der Autor räumt allerdings ein, dass international jene Studien, die Religion als hauptursächlich für islamistische Radikalisierung sehen, in der Minderheit sind. Sein Fazit: „Unabhängig von ihrem religiösen Wissensstand sieht eine radikalisierte Person in der Theologie ein Angebot, das ihrem Leben Sinn und Struktur verleiht.“ Und der Salafismus werde von den Betroffenen als „ganzheitliches, religiöses und gesellschaftspolitisches Konzept verstanden“.

Radikalisierung sei nicht nur ein Sicherheitsproblem, sondern „ein komplexes, vielfältiges Phänomen – insbesondere dann, wenn es Jugendliche betrifft, die in westlichen Ländern sozialisiert wurden“. Inszenierte Akte terroristischer Gewalt seien dann „oft nur die Spitze des Eisbergs“ und „Kulminationspunkt eines langwierigen Entwicklungsprozesses“. Der Zuspruch, den etwa der sogenannte „Islamische Staat“ bei jungen Muslimen im Westen findet, sei die Konsequenz einer Theologie, die auch in europäischen Gesellschaften Fuß fassen konnte. Es gebe „ein theologisches Naheverhältnis“ zwischen salafistischen Organisationen und dschihadistischen Gruppen: „Angehörigen salafistischer Gruppen wird eine Theologie vermittelt, die erklärtermaßen darauf abzielt, der Herrschaft des Wortes Gottes auf Erden zum Durchbruch zu verhelfen.“ Laut der neuen Studie genügt es jedenfalls nicht, die Gewalttaten mit der Frustration perspektivloser und ungebildeter Jugendlicher zu erklären.

Abgrenzung zur Mehrheit der Muslime spielt wichtige Rolle für Radikale

Wichtig ist im Radikalisierungsprozess offenbar nicht nur die Abgrenzung von der säkularen westlichen Gesellschaft, sondern auch von der Mehrheit der Muslime: „Die radikalen Gruppen und Individuen sehen sich als die einzig wahren Muslime.“ Das soziale Umfeld werde als verkommen wahrgenommen, die Demokratie abgelehnt, der Westen zum Feind der muslimischen Welt erklärt und für die „unterdrückten Muslime“ eine kollektive Opferidentität konstruiert. Viele der Befragten sahen sich als Angehörige sozial schwacher Schichten diskriminiert, doch werde diese Erfahrung „nach der Hinwendung zum Salafismus verstärkt ideologisch-religiös interpretiert“.

Weil Radikalisierung nach seinen Erkenntnissen mit Religion zu tun hat, kritisiert Aslan die politische Fokussierung auf die Schaffung von Beschäftigungsperspektiven. Das verkenne die Ideologie wie die Überzeugungspraktiken der Salafisten. Die nach jeder Bluttat an die Muslime gerichteten Appelle, sich gegen Gewalt und Terror zu positionieren, hält der Studienautor für eher kontraproduktiv: „Ständiger Rechtfertigungszwang“ führe häufig zu einer Abwehrhaltung und mache es friedliebenden Muslimen schwer, „sich mit den eigenen Glaubensinhalten objektiv auseinanderzusetzen“.

Einige Experten widersprechen

Der Studienautor, selbst Muslim, kritisiert die islamistische Szene seit vielen Jahren. Aufsehen und viel Widerspruch erregte er 2015 mit einer Studie über islamische Kindergärten in Wien. Auch die neue Studie führt prompt zu Gegenreden. „Das ist definitiv nicht richtig“, sagt etwa der Gefängnisseelsorger Ramazan Demir von der Islamischen Glaubensgemeinschaft (IGGÖ), der in sieben Jahren Berufspraxis „Hunderte extremistische Muslime“ betreut hat: „Die meisten haben nur Halbwissen oder gar keines über ihre Religion. Sie sind Mitläufer, mehrheitlich ohne religiöse Erziehung oder religiöse Praxis. Im Gegenteil: viele kommen aus der Kriminalität, haben – komplett unislamisch – Wett-, Drogen- und Alkohol-Erfahrungen.“

Auch der Islamexperte Thomas Schmidinger erklärt im „Kurier“, er könne Aslans Ergebnisse nicht nachvollziehen.Seiner Meinung nach reicht es nicht aus, das Thema Radikalisierung nur religiös zu diskutieren. Ebenso seien die psychologischen und gesellschaftlichen Aspekte der Problematik zu berücksichtigen. Zu einem anderen Ergebnis als Aslan kam auch eine deutsche Studie über eine salafistische Jugendgruppe, die Anfang Juli veröffentlicht wurde. Junge Menschen, die sich gewaltbereiten radikalislamischen Gruppen anschließen, wüssten sehr wenig vom Islam, erklärt etwa Michael Kiefer vom Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück. „Man kann sagen, sie bauen sich ihren eigenen Lego-Islam.“

(tagespost/kurier 03.08.2017 sk)








All the contents on this site are copyrighted ©.