2017-07-28 13:16:00

Urteil zum Dublin-Abkommen: „Zulasten der Verletzlichsten"


Flüchtlinge in Europa: wieso ist die Verantwortung für sie so ungleich zwischen den einzelnen Staaten verteilt? Ein Grund dafür ist die Verordnung Dublin III., die der Europäische Gerichtshof nun erneut bestätigt hat. Nach dem Dublin-Abkommen dürfen Flüchtlinge ausschließlich in dem EU-Land Asyl beantragen, in das sie zuerst eingereist  sind. 2015 wurden viele der Flüchtlinge, die in Griechenland, Ungarn oder Kroatien ankamen, weiter in Länder wie Österreich oder Deutschland durchgewunken. Das aktuelle Urteil besagt: Auch in Ausnahmesituationen während der großen Einreisewellen 2015 und 2016 war Dublin III gültig. Die Weiterreise der Geflüchteten war also unrechtmäßig. Misereors Geschäftsführer für Internationale Zusammenarbeit, Martin Bröckelmann-Simon, kritisiert diese Entscheidung:

„Mit diesem Urteil geht die Unsicherheit für viele der Geflüchteten weiter, die durch die verschiedenen Balkanländer in Österreich oder in Deutschland oder anderen Ländern des nördlichen Europas gelandet sind. Und das bedeutet, der unklare Rechtsstatus setzt sich fort. Das ist für viele Menschen unerträglich. Wenn man jetzt nicht rasch daran geht, die Dublin-Verordnung zu überarbeiten oder auch außer Kraft zu setzen, dann reitet man weiter ein totes Pferd und das auf dem Rücken der betroffenen Menschen, die ja nun nachgewiesenermaßen zu den Verletzlichsten gehören.“

Das Wohl der Flüchtlinge und die Wahrung menschenrechtlicher Standards müssten an erster Stelle stehen: „Wir dürfen nie vergessen, dass wir hier über Menschen reden, die unter extremsten Bedingungen und mit großer Last auch auf der Seele den Weg hier in die Fremde gewagt haben“, mahnt Bröckelmann-Simon. Zugleich müssten auch die Länder an den EU-Außengrenzen entlastet und die Zahl der Flüchtlinge gerechter über die EU-Länder verteilt werden. Der Geschäftsführer fordert eine Reform der Dublin-Verordnung:

„Entweder muss es dazu dann einen finanziellen Ausgleich geben, oder aber ein Verteilsystem, das von allen akzeptiert wird und das sozusagen Quoten ermöglicht, nach denen auch einzelne Länder nicht nur nominal zuständig sind, sondern auch faktisch diese Verantwortung übernehmen. Im Moment haben wir ja die Situation, bei der Länder zwar eigentlich zuständig und verantwortlich sind, sich aber konsequent weigern, Geflüchtete aufzunehmen.“

Schon seit längerem wird in der europäischen Politik über eine Reform der Dublin-Verordnung diskutiert. Ein Entwurf zu „Dublin IV“ aus dem Mai 2016 sieht vor allem Verschärfungen der Asylbedingungen vor; zum Beispiel könnte dann sogar in sogenannte „sichere Drittstaaten“ außerhalb der EU abgeschoben werden, die während der Flucht durchquert wurden. Momentan hat Deutschland nach der Feststellung eines Dublin-Falles sechs Monate Zeit, eine Abschiebung ins Erstaufnahmeland durchzuführen. Danach muss das Asylverfahren in Deutschland behandelt werden. Solche Fristen soll es unter „Dublin IV“ vielleicht nicht mehr geben. Bröckelmann-Simon:

„Wenn es keine Fristen mehr gibt, heißt das permanente Unsicherheit. Das ganze Konzept der sicheren Herkunftsstaaten ist sehr fragwürdig, weil man immer wieder damit auch das individuelle Asylrecht aushebelt und letztendlich sich zeigt, dass dann auch menschenrechtliche Standards über Bord geworfen werden sollen. Das Selbsteintrittsrecht – nämlich die Tatsache, dass man auch aus humanitären Erwägungen sich selber an die Stelle des Erstaufnahmelandes an der EU-Außengrenze setzen könnte – das hat Deutschland ja gemacht 2015 – wenn dieses Selbsteintrittsrecht nicht mehr existiert, ist das natürlich ein gravierender Nachteil, weil man damit auch tatsächlich humanitäre Überlegungen außer Kraft setzt und das bedeutet, wir müssen uns dafür natürlich weiterhin politisch einsetzen, dass eine Neufassung der Dublin-Verordnung nicht die Recht von Asylsuchenden mit Füßen tritt.“

Ebenso problematisch scheint die Bekämpfung der Fluchtursachen in den Herkunftsländern. Diese Strategie schreiben sich zwar alle auf die Fahnen, doch fehlt es an klaren, gemeinsamen Richtlinien der EU-Länder, beanstandet der Misereor-Geschäftsführer.

„Das Einzige, was man verspürt, ist, dass Grenzkontrollen ausgelagert werden sollen und außerhalb der Tore Europas stattfinden sollen, und dass im Grund das meiste, was geschieht, sich darauf konzentriert, Wanderungs- und Migrationsbewegungen beispielsweise in Afrika zu erschweren. Das hat auch nach unseren Erfahrungen zum Teil massive Auswirklungen auf traditionelle Wanderungen zum Beispiel in Westafrika; auf die Einschränkung der Bewegungsfreiheit im ECOWAS-Raum. Tatsächlich notwendige Maßnahmen zur Bekämpfung der Fluchtursachen wären die Eindämmung von Konflikten, eine aktive Friedenspolitik, massive Kontrolle von Waffenexporten und keine Zusammenarbeit mit menschenrechtsverletzenden Regimen. Nur davon ist leider relativ wenig zu spüren.“

Misereor fordert auch hier politische Lösungen, die das Wohl der Menschen in den Vordergrund stellen und nicht nur auf rein wirtschaftlichen Interessen beruhen. Auch Kirchen können nach Ansicht von Martin Bröckelmann-Simon Einfluss auf die politische Stimmung ausüben, zum Beispiel in den EU-Ländern, die der Aufnahme von Flüchtlingen entgehen wollen:

„Ich sehe da natürlich auch die polnische Kirche und die Kirche in Ungarn und Tschechien, gerade in diesen Ländern, die sich ja konsequent weigern, in der Verantwortung, an die moralischen und menschenrechtlichen Grundprinzipien zu erinnern. Wir haben eine moralische und ethische Verantwortung, uns um Menschen in Not zu kümmern; wir haben eine Verantwortung, die Einhaltung der Menschenrechte zu fordern und da hat die Kirche als moralische Instanz natürlich eine Verpflichtung und eine Aufgabe, die Willkommenskultur, die Integrationskultur und auch die Schutzkultur, für die ja unsere Kirche seit Jahrtausenden steht und stehen muss, auch nachdrücklich einzufordern.“

(rv 28.07.2017 jm) 








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