2017-07-23 07:30:00

Realpolitik und christliche Werte: „Stachel im Fleisch“ sein


„Fragen wir uns, ob wir Wohnzimmerchristen sind“, sagt der Papst: Nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten sollen Christen sich zu Jesus bekennen. Franziskus selbst mischt sich immer wieder politisch ein, zum Beispiel in der Flüchtlingspolitik oder kürzlich vor dem G20-Gipfel, als der Papst seine Forderung nach einer gerechteren Wirtschaftspolitik erneuerte. Wie aber lassen sich christliche Werte realpolitisch umsetzen? Das ist eine Frage, die besonders im Jahr der Bundestagswahl auch Parteien und Christen in Deutschland beschäftigt.

Im Interview mit Radio Vatikan sprechen Michael Spieker, Dozent für Ethische und Theoretische Grundlagen der Politik an der Akademie für Politische Bildung Tutzing, und Joachim Wiemeyer, Professor am Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre der Ruhr Universität Bochum, über christliche deutsche Parteipolitik.

Erst kürzlich warf der Dominikaner und Sozialethiker Wolfgang Ockenfels Angela Merkel in einem Kommentar in der „Tagespost“ vor, sie habe die Union „religiös entkernt“. Sie beziehe sich noch vage auf ein „christliches Menschenbild“, habe sich aber – Stichwort „Ehe für Alle“ – von traditionellen christlichen Haltungen entfernt. Trägt die CDU das „C“ nur noch im Namen? Politikwissenschaftler Spieker sieht hingegen keine generelle Abwendung der CDU von christlichen Werten:

„Es gibt sicherlich ein merkliches Fremdeln zwischen der CDU und den christlichen Kirchen, der katholischen Kirche zumal. Schon unter Merkel auf der einen Seite und Papst Benedikt - da wurde dann gesagt, na ja, das ist eben die protestantische Pfarrerstochter, die kann mit diesen alten westdeutschen Gewohnheiten, einer sehr großen Nähe von CDU und katholischer Kirche, nichts mehr anfangen. Es ist dennoch so, dass in der Gegenwart ein Großteil der kirchengebundenen und regelmäßig praktizierenden Christen sich der CDU am Nächsten fühlen, nämlich etwa 70 Prozent.“

Dennoch gebe es sicher eine Reihe von Themen, bei denen auch die CDU einer Individualisierung der Lebensstile und einer Abwendung von traditionellen christlichen Werten nichts entgegensetzen könne oder wolle, so Spieker weiter. Als Beispiele nennt er das Thema Lebensschutz und die „Ehe für Alle“. Der Soziologe Joachim Wiemeyer sieht diese Tendenz als Teil einer natürlichen Entwicklung:

„Die CDU war eine stark vom Christentum geprägte Partei in den Fünfziger-, Sechziger-, Siebzigerjahren. Mit dem allgemeinen Rückgang der kirchlichen Aktivitäten in Deutschland, was man an den Kirchenaustrittszahlen, den Gottesdienstbesuchen und so weiter sehen kann, hat natürlich die Bedeutung auch engagierter Christen in der CDU nachgelassen. Und man muss sehen, dass die streng engagierten christlichen Wähler in Deutschland natürlich nur einen relativ geringen Prozentsatz ausmachen. Wenn die CDU aber wie bei der letzten Bundestagswahl über 40 Prozent der Stimmen erzielen will, muss sie sich natürlich auch an Wähler wenden, die nicht streng kirchengebunden sind oder sogar konfessionslos sind oder Muslime sind und andere.“

Wichtiger als Fragen der Identitätspolitik – beispielsweise die Definition der Ehe – ist für Michael Spieker aber die Sozialpolitik. Hier weichen für ihn die traditionellen Bezüge zwischen christlichen Werten und traditionell christlich orientierten Parteien auf. Diese Entwicklung werde eher wenig thematisiert, beobachtet er:

„Die Umgestaltung des Sozialstaates hin zu einem individualistischen Eigenvorsorgestaat, der auf Kapitalmärkte setzt und auf Aktien und Zukunftsvorsorge individualisieren möchte; das ist etwas, das die CDU sehr, sehr stark vorangetrieben hat, mit der Sozialdemokratie und den Grünen. Da gibt es nur die Partei die Linke, die da stets dagegen war. Da sind sicherlich auch Veränderungen vorgekommen, die den alten Prinzipien der Personalität und Solidarität überhaupt nicht gerecht werden, und da hat kaum jemand gesagt, dass sich die CDU da von ihrem ,C' verabschiedet.“

In solchen Fragen, meint Spieker, gibt es eine „eigenartige Nähe zu einer Partei, die traditionell eher kirchenfeindlich war“. So finde man etwa Prinzipien der Arbeits-Enzyklika des polnischen Papstes Johannes Paul II. „Laborem Exercens“ heute eher im Parteiprogramm der Linken als in dem der CDU. „Die Linke“ in Rheinland-Pfalz druckte 2016 auf ihren Wahlplakaten ein Bild von Papst Franziskus ab. Erst kürzlich noch lobte die Parteivorsitzende Katja Kipping erneut Franziskus‘ Aussagen zur Wirtschaftspolitik. Joachim Wiemeyer relativiert diese scheinbare Nähe allerdings:

„Die Vorstellungen der kirchlichen Soziallehre sollen unabhängig von politischen Parteien formuliert werden, und es gibt eben Themen, etwa die Wahrung der Schöpfung oder auch Fragen der Sozialpolitik, wo manche Parteien dann vielleicht kirchlichen Positionen näher sind als andere Parteien. Das Problem ist allerdings, wenn etwa die Linkspartei versucht, die Kirche für die eigenen Positionen zu vereinnahmen. Und das, obwohl man eigentlich aus einer sehr kirchenfeindlichen Tradition kommt, und in der DDR die Vorgänger der Linkspartei ja auch die Kirchen entsprechend unterdrückt haben und Religion aus der Gesellschaft ausrotten wollten – was ja auch relativ erfolgreich geschehen ist, weil nachher 70 Prozent der Bürger der früheren DDR keiner Kirche mehr angehörten. Deshalb ist das zum Teil auch eher opportunistisch, was dort vorgetragen wird.“

Zugegeben, die Forderung nach einer „christlichen“ Politik ist für eine Partei eine Herausforderung. Denn christliche Ideale sind eine Sache, ihre Umsetzung in der tagesaktuellen Politik eine andere. Ein Beispiel ist die Aufnahme von Flüchtlingen: Nach den Grundsätzen der Barmherzigkeit und des Mitleids müssten wir allen notleidenden Menschen eine Zuflucht bieten. In der Realität gibt es aber praktische Grenzen. Wie mit dieser Spannung umgehen? Dazu Spieker:

„Also zunächst einmal muss man sich in die Spannung überhaupt erst hineinbegeben, indem man den Mut hat, auch solche zunächst mal naiv klingenden Forderungen und Werte einzufordern. Wie etwa die, dass dem, dessen Leben bedroht ist, dessen Lebensgrundlage zerstört ist, von denen, die eine Lebensgrundlage haben, geholfen werden muss. Und zwar hier und jetzt und nicht morgen oder übermorgen oder irgendwo anders. Oder dass wir sagen: Wer Waffen herstellt, stellt sie natürlich dafür her, dass sie auch potentiell genutzt werden. Er kann niemals gewährleisten, dass sie nicht auch in falsche Hände geraten, wie es ja in der Realität auch ständig geschieht. Und dann sagen wir: unter diesen Umständen ist die Herstellung von Waffen mit einem reinen christlichen Gewissen nicht vereinbar. Das klingt erstmal naiv – eben genau entgegen der Realpolitik, aber diesen Stachel im Fleisch müssen die Christen eigentlich darstellen!“

Dann müsse man sehen, wie sich diese Forderungen realpolitisch umsetzen ließen. Als Beispiel nennt Spieker die Aufgabe, zwei Millionen Flüchtlinge in Deutschland zu integrieren. Christen haben seiner Meinung nach vor allem auf der Handlungsebene „ein gutes Potential“, etwas zu erreichen; dies zeige die Flüchtlingsarbeit in Gemeinden. Der „Stachel im Fleisch“ könnten Christen aber auch sein, indem man „den Staat an seine Pflichten erinnert, zum Beispiel, dass er nicht in unsichere Drittstaaten abschieben darf, und indem man Kirchenasyl gewährt.“

(rv 23.07.2017 jm)








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