2017-05-11 13:30:00

Libyen: Flucht aus der Hölle


Sie fliehen regelrecht aus der Hölle: Flüchtlinge, die sich auf den gefährlichen Weg von Libyen über das Mittelmeer Richtung Europa begeben. Das von jahrelangem Bürgerkrieg zerrüttete Land ist das wichtigste Transitland für Migranten, die von Afrika nach Europa wollen. Im Interview mit Radio Vatikan schildert der Sprecher der Weltmigrationsbehörde OIM, Flavio Di Giacomo, welche Erfahrungen die Migranten in Libyen machen.

„Die Gespräche, die wir (mit Flüchtlingen, Anm.) führen, bringen wirklich schreckliche Details hinsichtlich der Gewalt zutage, die die Flüchtlinge in Libyen erleben. Da geht es um Migranten, die Menschenhändler oft mit dem Ziel gefangen gehalten, Lösegeld von den Familien zu erpressen. Sie zwingen die Migranten, zu Hause anzurufen und foltern sie dabei, so dass die Familien Geld schicken. Wir haben Geschichten von Migranten gehört, die unter Waffengewalt dazu gezwungen wurden, ihre Freunde lebend zu begraben, weil diese sich verletzt hatten und nicht mehr laufen konnten - die Menschenhändler wollten sich ihrer entledigen. Diese Horrorgeschichten verdeutlichen den Fluchtinstinkt der Migranten, die in letzter Zeit aus Libyen flüchten. Sie halten eine Überfahrt über das Mittelmehr für weniger risikoreich als einen Verbleib in Libyen und die Erfahrung weiterer Gewalt oder sogar des Todes.“

Die Europäische Union strebt ein Flüchtlingsabkommen mit Libyen nach dem Vorbild des Türkei-Paktes an. Mit dem Ziel, die Mittelmeerroute langfristig zu versperren, will die Staatengemeinschaft mit dem Krisenland in der Flüchtlingspolitik stärker zusammenarbeiten. Di Giacomo berichtet über die bereits angelaufene Schulung der libyschen Küstenwache, die die Machenschaften von Schleppern in Zukunft unterbinden soll: „Die Situation in Libyen ist ziemlich kompliziert, und das ist die Wahrheit, denn es gibt eine libysche Küstenwache, die jetzt formal anerkannt ist, im Guten wie im Schlechten. De facto aber gibt es viele Gruppen, damals wie wohl auch heute, die behaupten, zur Küstenwache zu gehören, aber damit nichts zu tun haben: denn Libyen ist hinsichtlich der Autoritäten ja völlig zerrissen. Es gibt eine Zentralregierung, der eine Kontrolle des eigenen Territoriums jedoch nicht gelingt; das sagen uns zumindest die Leute. In einigen libyschen Zonen ist es also schwer zu sagen, mit wem man es zu tun hat. Aktuell erhält die libysche Küstenwache im Auftrag der Europäischen Union ein Training – das sind in dem Fall natürlich alles Personen und Funktionäre, die mit Umsicht ausgewählt wurden. Es geht dabei ja gerade darum, eine Vermischung mit Menschenhändlern zu verhindern. Zugleich können aber unter all den Menschen im Bereich der Küste, die sagen, sie gehören zur Küstenwache, auch zwielichtige Leute sein...“

Um weiteres Sterben auf dem Mittelmeer zu verhindern, hält der OIM-Sprecher die Einrichtung humanitärer Korridore für „absolut nötig“. Während die Rettungsarbeit internationaler NGOs auf dem Mittelmeer in Italien derzeit - ohne stichhaltige Beweise - in ein schlechtes Licht gerückt wird, lenken die OIM und das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen UNHCR die öffentliche Aufmerksamkeit auf die ethische Verpflichtung zur Lebensrettung auf dem Mittelmeer: diese sei angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen sogar dringlicher denn je, betonte Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi in dieser Woche in einer Presseaussendung. OIM-Sprecher Di Giacomo verweist im Interview mit Radio Vatikan auf die Notwendigkeit langfristiger Lösungen für das Problem der illegalen Migration: „Man muss sich daran machen, das Problem mit langfristigen Politiken zu lösen, die Alternativen zu den illegalen Kanälen bieten, denn illegale Migration, die in den Händen von Menschenhändlern liegt, bringt Tod und Gewalt und bereichert die kriminellen Organisationen. Es ist unheimlich wichtig, legale Kanäle (der Einwanderung, Anm.) zu öffnen, geregelte Kanäle, und zugleich daran zu denken, auf lokaler Ebene Alternativen anzubieten – in den Transitländern wie den Herkunftsländern.“

Und er erinnert daran, dass Entwicklungspolitik vor Ort die Ursachen der Flucht verhindern kann: „Die Migration ist ein sehr komplexes Phänomen; es gibt da Menschen, die absolut nicht die Wahl haben und international geschützt werden müssen. Weiter gibt es Migranten, die keine Wahl haben, weil die Armut sie dazu zwingt, das ist ganz klar auch eine Form der Zwangsmigration. Dann gibt es welche, die auf lokaler Ebene auch Alternativen zur Flucht suchen könnten, wenn es gezielte Entwicklungsmaßnahmen dort gäbe, sei es in den Transitländern, sei es in den Herkunftsländern. Man muss also langfristig an dieser ganzen Reihe von Initiativen arbeiten.“

Jährlich kämen 180.000 Menschen in Italien an, fügt er hinzu – das seien etwa 0.3 Prozent der italienischen Bevölkerung und angesichts der halben Milliarde EU-Einwohner eine geringe Zahl. Die so genannte „Flüchtlingskrise“ sei so auch „keine Krise in Zahlen, sondern eine humanitäre und ganz sicher eine operative Krise“, urteilt der Sprecher der Weltmigrationsbehörde.

(rv 11.05.2017 pr) 








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