2017-04-12 14:05:00

Jemen: CARE fordert Aufmerksamkeit für vergessenen Konflikt


Der Jemen durchlebt seit zwei Jahren eine schlimme, von der Weltgemeinschaft „vergessene“ Krise, obwohl diese gerade von internationalen Akteuren militärisch und logistisch angeheizt wird. Doch diese Krise könnte gleichzeitig den Frauen eine Chance bieten, stärkere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erhalten. Das ist die Einschätzung von Karl-Otto Zentel, seines Zeichens Generalsekretär der international tätigen Hilfsorganisation CARE. Er ist gerade von einer mehrtägigen Reise in das Krisenland zurück gekehrt. Wir haben ihn gefragt, was für eine Situation er vorgefunden hat.

Zentel: „Das Land ist deutlich gezeichnet durch den Bürgerkrieg, der dort seit zwei Jahren herrscht und starke Beeinträchtigungen verursacht. Das staatliche und private System ist zusammen gebrochen, in den Städten gibt es schwere Auswirkungen auf die Wasser- und Stromversorgung sowie öffentliche Dienstleistungen zu verzeichnen. Einkommensmöglichkeiten brechen weg, die Staatsangestellten wurden seit sieben Monaten nicht mehr bezahlt, die Reserven sind aufgebraucht. Das führt dazu, dass mittlerweile zwei Drittel der Bevölkerung des Landes auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.“

RV: Wenn man vom Jemen spricht, spricht man ja auch immer wieder vom „vergessenen Konflikt“. Wie haben Sie das wahrgenommen, bzw. wie kommt es bei den Menschen dort an, dass dieser Konflikt, der seit zwei Jahren immer heftigere Auswirkungen zeigt, so „vergessen“ wird?

Zentel: „Das ist den Menschen dort bewusst und ich wurde das auch immer wieder gefragt. Warum blickt die Welt auf Syrien, auf Somalia, warum blickt man nicht auf den Jemen, wo, wenn man sich die Zahlen ansieht, eine vergleichbare Situation herrscht: drei Millionen Binnenflüchtlinge, zwei Drittel der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen, eine halbe Million Kinder akut unterernährt, auch die Auswirkungen der Kampfhandlungen sind vergleichbar. Auch im Jemen gibt es Städte, die belagert werden! Auch dort gibt es Kampfhandlungen, die das Leben beeinträchtigen. Auch dort gibt es Verminungen! Das ist für die Menschen nicht nachvollziehbar. Es wird immer wieder gefragt, warum ist das so, und eine Antwort kann da schlecht gegeben werden.“

„Internationale Gemeinschaft muss endlich aktiv werden“ 

RV: Was kann denn die Internationale Gemeinschaft tun, um diesen Konflikt stärker ins Bewusstsein der Menschen zu rücken?

Zentel: „Der Jemenkonflikt kann nur politisch gelöst werden., Das ist schon lange kein nationaler Konflikt mehr, sondern viele externe Akteure mischen da mit. Es ist also ein internationaler Konflikt und gerade das sollte idealerweise auch der Internationalen Gemeinschaft die Möglichkeit geben, aktiv zu werden und mehr Druck auf die Konfliktparteien aufzubauen und zu sagen, setzt euch zusammen, kommt zu einer Lösung. Es ist nicht nachvollziehbar, warum bislang keine Lösung gefunden wurde und diese Lösung so unmöglich scheint.“

RV: Was wäre denn Ihr Appell an die Internationale Gemeinschaft?

Zentel: „Der Appell an die Internationale Gemeinschaft muss in erster Linie heißen: Frieden für den Jemen. Die Konfliktparteien müssen an einen Tisch gebracht werden, es kann keine Einzellösung sein, sondern alle Akteure, die an diesem schrecklichen Krieg einen Anteil haben müssen beteiligt werden. Es müssen auch die zur Verantwortung gezogen werden, die sich massiver Verstößen gegen Menschenrechte schuldig gemacht haben, denn das kann nicht ungesühnt bleiben. Das muss eine Botschaft sein, die kommt. Gleichzeitig muss den Menschen im Jemen dringend geholfen werden, am 25. April ist eine Geberkonferenz in Genf. Wir wünschen uns, hoffen und fordern, dass der Jemen bei dieser Konferenz die gleiche Aufmerksamkeit bekommt wie andere Länder auch, damit die Mittel vorhanden sind, um den Menschen in dieser akuten Not zu helfen. Außerdem sagen wir, wir müssen jetzt die Chancen nutzen, die sich uns bieten, längerfristig aktiv zu werden.“

CARE ist trotz der Gefahr in vielen Landesteilen aktiv

RV: Und wie leisten Sie Hilfe vor Ort?

Zentel: „CARE ist in acht Provinzen des Landes mit Büros präsent, die Zentrale ist in Sanaa. Wir unterstützen dort Menschen mit Nahrungsmittellieferungen, stark engagieren wir uns auch im wichtigen Bereich der Wasserversorgung. Denn sauberes Trinkwasser beugt Durchfallerkrankungen vor, in Aden beispielsweise waren wir stark präsent, um bei der Eindämmung der dort ausgebrochenen Cholera zu helfen, aber auch Maßnahmen im Bereich „CashforWork“, wo wir Gemeingüter wie beispielsweise Zugangsstraßen zu Dörfern mit den Dorfbewohnern instand setzen und sie dafür Geld bekommen.“

RV: Aber ist es für Ihre Mitarbeiter nicht auch gefährlich, während laufender Kampfhandlungen im Land aktiv zu sein und sich dort zu bewegen?

Zentel: „Das ist richtig, wir haben ein Sicherheitsrisiko durch die Kampfhandlungen, auch durch die Verarmung der Bevölkerung und alles was damit einhergeht. Aber es würde dem Jemen nicht gerecht, wenn man ihn nur als Ganzes betrachtet und überall von der gleichen Situation ausgeht. Die ist nämlich sehr vielfältig und wir haben Gebiete, in denen wir durchaus auch mehrjährige Projekte beginnen können. Zum Beispiel im landwirtschaftlichen Bereich, da unterstützen wir die Menschen dabei, sich wieder eine Lebensgrundlage aufzubauen. Das ist in anderen Gebieten nicht möglich, weil dort Kampfhandlungen stattfinden. Es wird aber nicht überall im Jemen gleichzeitig gekämpft, sondern wir haben ganz verschiedene Phasen des Konfliktes mit ganz unterschiedlichen Auswirkungen. Auch die Lage der Menschen in verschiedenen Distrikten ist durchaus unterschiedlich.“

Krise als Chance für die Frauen

RV: Was ist Ihnen von Ihrer Reise in den Jemen denn besonders in Erinnerung geblieben, oder was hat sie besonders beeindruckt?

Zentel: „Was ich selbst beeindruckend fand, und auch die Kollegen haben mich immer wieder darauf hingewiesen: Der Jemen ist ja eine traditionell sehr konservativ geprägte Gesellschaft. Aufgrund dieser Notlage haben nun aber auch Frauen die Möglichkeit, in Bereichen des gesellschaftlichen Lebens aktiv zu werden, beispielsweise in Lohnarbeit, als Händlerinnen, um Beiträge zum Familieneinkommen zu leisten. Das ging vorher nicht. Das heißt, diese Krise birgt in gewisser Weise auch eine Chance in sich, dass sich die soziale Situation der Frauen im Vergleich zur Vorkriegszeit verbessern kann.“

RV: Haben Sie denn auch spezielle Programme, mit denen Sie versuchen, diese Entwicklung ein wenig zu unterstützen und anzustoßen?

Zentel: „Selbstverständlich. Zum Einen im Bereich der CashforWork-Projekte gibt es eines, das ich selbst besichtigt habe, als ich nach Hadscha fuhr. Dort wurde die Zufahrtsstraße zu einem Dorf mit viel Aufwand – also das war wirklich viel Arbeit – instand gesetzt. 300 Menschen haben daran mit gearbeitet, und davon stellten die Frauen einen beachtlichen Anteil. Das wäre vorher nicht gegangen. In den Städten unterstützen wir die Frauen bei Existenzgründungen. Da gibt es ganz tolle Beispiele und unheimlich viele Ideen, die da entwickelt und auch wie diese umgesetzt werden, das ist faszinierend und macht viel Mut. Wir können nur hoffen, dass diese Existenzgründungen auch diese schwierige wirtschaftliche Lage überleben können, die für so ein Start-Up nicht von Vorteil ist.“

Hintergrund

Im Jemen flammen alte ethnisch-religiöse Konflikte zwischen den Lagern immer wieder auf. Mittlerweile haben sich diese Konflikte aber zu einem Stellvertreterkrieg ausgeweitet, der hauptsächlich durch Iran und Saudi-Arabien unterstützt wird. Doch auch westliche Großmächte leisten logistische und finanzielle Unterstützung der Kampfhandlungen. Seit September 2014 gehen Truppen des de facto entmachteten sunnitischen Präsidenten Abd Rabbo Mansur Hadi gegen die von Iran unterstützten schiitischen Huthi-Rebellen sowie andere Milizen vor, die dem ehemaligen Staatschef Ali Abdallah Saleh die Treue halten. Die Regierungstruppen werden seit Mai 2015 durch eine von Saudi-Arabien angeführte Militärkoalition unterstützt. Doch die Leidtragenden des Konfliktes sind wie so oft die Kinder: Laut UNICEF-Berichten sind mittlerweile über 1500 den Krieg zum Opfer gefallen, ebenso verstörend: Kindersoldaten werden vor allem durch die schiitischen Huthi-Rebellen zwangsrekrutiert. Das durch den Zusammenbruch staatlicher Strukturen entstandene Machtvakuum nutzen Terrororganisationen wie Al-Kaida, um ihre Stellungen in dem Land auszubauen.

Das gesamte Interview können Sie durch Anklicken des Lautsprechersymbols über dem Text nachhören.

(rv 12.04.2017 cs)








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