2017-03-19 11:20:00

„Wenn die Aufgeklärten zu leise sind, dominieren die Dummen“


Wir dürfen die Errungenschaften eines zusammenwachsenden Europas nicht für selbstverständlich halten: Schließlich hat es „Jahrhunderte gedauert, bis wir diesen Zustand erreicht haben“. Das sagt der Präsident des Deutschen Bundestages Norbert Lammert. Wortgewaltig wie gewohnt hielt der CDU-Politiker an diesem Wochenende ein Plädoyer für Europa auf dem römischen Kapitol – dort, wo vor sechzig Jahren die Römischen Verträge unterzeichnet wurden und damit die „Geburtsurkunde“ der heutigen EU. „Es hat auch die traumatische Erfahrung von zwei Weltkriegen gebraucht, die beide in Europa stattgefunden haben, bis die europäischen Staaten begriffen hatten, dass sie entweder eine gemeinsame Zukunft haben oder ihre Zukunft hinter sich haben!“

Das Jubiläum der Römischen Verträge wird in der zweiten Wochenhälfte viele Staats- und Regierungschefs der (noch) 28 EU-Staaten in die italienische Hauptstadt locken. Dabei werden sie sich auch mit Papst Franziskus treffen, der zwar kein Europäer, dafür aber Träger des Aachener Karlspreises für Verdienste um Europa und die europäische Einigung ist.

Juncker-Weißbuch „ein besonders intelligentes Papier“

Lammert betonte in seiner Rom-Rede, dass ausnahmslos alle EU-Mitgliedstaaten über demokratisch gewählte Parlamente und Regierungen verfügen. „Einen vergleichbaren Zustand hat es in der europäischen Geschichte nie gegeben! Und deswegen zögere ich auch keinen Augenblick, zu sagen: Wir hatten nie bessere Voraussetzungen, die Probleme zu lösen, die wir lösen müssen. Wenn wir die Herausforderungen nicht bewältigen, vor denen wir stehen, dann nicht deswegen, weil wir es nicht gekonnt hätten, sondern weil wir es nicht gewollt hätten. Das ist die eigentliche Frage, die wir heute beantworten müssen, mit oder ohne Jubiläum…“

Lammert erwähnte das Weißbuch zur Zukunft der EU, das Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor ein paar Tagen vorgestellt hat. Gelegentlich erzeuge es „die Kritik, das sei kein besonders mutiges Papier, denn es beantworte die Frage nicht, wohin denn Europa eigentlich solle oder wolle“. „Mein Kommentar ist: Nein, das ist auch kein besonders mutiges – aber es ist ein besonders intelligentes Papier. Es macht nämlich deutlich, dass sich die Zukunft Europas nicht naturwüchsig ergeben wird. Dass es nicht ein erkennbares, sicheres Zukunftskonzept für diese Europäische Union gibt, sondern ganz unterschiedliche, denkbare Szenarien. Und dass wir wissen müssen, was wir wollen! Weil wir in der glücklichen Lage sind, dass es uns niemand mehr vorschreibt.“

„Flüchtlingsproblem kann nicht nur in Italien oder Griechenland gelöst werden“

Europa könne, es müsse aber auch eine selbständige Antwort auf die Frage finden, wie viel Gemeinsamkeit es wolle, so der Parlamentspräsident. Denn Globalisierung bedeute „im Klartext“, dass es ohne Zusammenarbeit der Staaten nicht mehr geht. „Wir haben heute alle miteinander – die europäischen wie auch die außereuropäischen Staaten – mit Herausforderungen zu tun, bei denen bei nüchterner Betrachtung deutlich wird, dass wir sie alle nicht alleine lösen können. Wir können die Migrationsprobleme nicht mit deutschen, italienischen, britischen, französischen, polnischen und anderen nationalstaatlichen Mitteln lösen; wir werden das Flüchtlingsproblem ganz sicher nicht alleine auf griechischem oder italienischem oder deutschem Boden lösen können.“ Dasselbe gelte auch für den Klimawandel oder „die notwendige Regulierung internationaler Finanzmärkte“.

Lammert macht eine „große Diskrepanz“ aus zwischen „dem historischen Fortschritt des europäischen Integrationsprozesses und den Erwartungen einer nervösen, sensiblen, vielleicht auch verwöhnten, jedenfalls sehr anspruchsvollen Öffentlichkeit“. „Historisch ist der europäische Integrationsprozess nach meiner festen Überzeugung die mit Abstand intelligenteste Antwort, die es auf diesem Globus bislang zu den Herausforderungen der Globalisierung gibt. Nirgendwo sonst auf der Welt ist eine ähnlich überzeugende Antwort gefunden worden.“

„Unterwegs zurück in nationale Schrebergärten“

Schon lange sei Europa nicht mehr „das natürliche Gravitationszentrum der Welt“, aber das hätten die Menschen in vielen Teilen des Kontinents noch nicht begriffen. „Die Parole „America first“ ist, weil es sich um ein besonders großes Land handelt, dort besonders auffällig, aber man kann sie (nicht immer in englischer Sprache) in den jeweiligen Nationalstaaten quer durch Europa hören. Unfreundlich formuliert: Dieser Kontinent ist längst wieder auf dem Weg zurück in nationale Schrebergärten. Möglichst eingezäunt, regelmäßig frisch gestrichen. In der Einbildung, man sei dann unter sich und wolle auch von niemandem gestört werden.“ Das sei eine „anachronistische, aus der Zeit gefallene Einstellung“, schimpfte Lammert.

Er widersprach der oft gehörten Kritik, dass die EU ein demokratisches Defizit habe. Mittlerweile gebe es „ein direkt gewähltes europäisches Parlament, das inzwischen mit wenigen Ausnahmen nahezu die gesamte Palette der Kompetenzen hat, die nationale Parlamente gegenüber ihren Regierungen auch haben“. „Dieses Problem ist also insoweit gelöst. Die demokratische Legitimation europäischer Entscheidungen ist durch die Notwendigkeit, für jede europäische Richtlinie natürlich die Zustimmung des europäischen Parlaments zu brauchen, in genau der gleichen Weise sichergestellt wie bei nationaler Gesetzgebung durch das Zustimmungs-Erfordernis des nationalen Parlaments.“

Plebiszite oft „unverantwortlich“

Lammert bedauerte, dass es nach wie vor keine europäische Verfassung gebe. Er erinnerte daran, dass der ausgehandelte Text zwar von allen nationalen Parlamenten ratifiziert, doch dann bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden durchgefallen sei. Diesen Punkt bitte er „nicht zu unterschätzen“ – auch deswegen, weil Populisten quer durch Europa stark auf Volksabstimmungen setzten. „Ich empfinde es, freundlich formuliert, hochproblematisch (platter formuliert: unverantwortlich), komplexe Fragen zum Gegenstand von Plebisziten zu machen, die zu einem Zeitpunkt, dessen Rahmenbedingungen man vorher gar nicht kennt, mit Wahlbeteiligung, die man vorher auch nicht kennt, unter Stimmungseinflüssen, von denen man vorher wissen kann, dass es sie gibt, zu Ergebnissen führen, die jedenfalls nicht mehr oder nur noch mit unverhältnismäßigem Aufwand korrigierbar sind.“

Ein Beispiel dafür sei das Brexit-Referendum: für Lammert „eine verheerende Entscheidung sowohl für Europa als auch für Großbritannien“. So weitreichende Fragen dürften nicht Stimmungen des Moments anvertraut werden, sondern gehörten in die Hände von Menschen, „die sich mit dem Thema hinreichend lange beschäftigt haben, dazu ein demokratisches Mandat haben und für die Entscheidung, die sie treffen, hinterher auch die Verantwortung übernehmen müssen“.

„EU-Gegner sind nicht stärker – aber lauter“

Er glaube nicht, „dass die EU-Gegner inzwischen stärker sind als die EU-Befürworter“. „Sie sind nicht stärker, sie sind lauter! Wenn die Aufgeklärten zu leise sind, dann dominieren die Dummen.“ Vor allem in den Parlamenten müssten komplexe Zusammenhänge verständlich erläutert werden. Wenn das nicht gelinge, „prämieren wir die Suche nach den einfachen Antworten und die Begünstigung der populistischen Strömungen, die wir für die Bewältigung von komplexen Prozessen am wenigsten gebrauchen können“.

Norbert Lammert sprach auf einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung, an der auch die italienische Parlamentspräsidentin Laura Boldrini teilnahm.

(kas pm rv 19.03.2017 sk)








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