2017-02-17 15:41:00

Deutscher Historiker: Überfremdungsangst in Europa nicht neu


Die Angst vor sogenannter Überfremdung hat sich in Europa in den vergangenen zwei Jahren besonders breit gemacht. Was den Populisten der Stunde in die Hände spielt und zur Abschottung ganzer Gesellschaften führt, ist in der Geschichte nicht neu. Das zeigt ein Blick auf Reaktionen und den Umgang mit Flüchtlingen im Europa zur Zeit des Holocaust und Zweiten Weltkrieges. Aus unterschiedlichen Gründen verschlossen damals Staaten jüdischen Flüchtlingen ihre Türen oder nahmen sie nur begrenzt auf, berichtet Wolf Kaiser, der lange Jahre die Bildungsabteilung der Gedenk- und Bildungsstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“ leitete. Im Interview mit Radio Vatikan setzt der deutsche Historiker, der in diesen Tagen an einer Konferenz in Rom über Flüchtlingspolitik teilnimmt, Abschottungstendenzen von damals und heute in Bezug.

Angst um Arbeitslosigkeit, Wunsch nach Homogenität

„Ein ganz wesentliches Motiv war damals die Furcht vor der Konkurrenz um Arbeitsplätze, die insbesondere in der Mittelklasse verbreitet war. Man muss sich erinnern, dass in den 1930er Jahren die Weltwirtschaftskrise noch nicht voll überwunden war. Allmählich wurde die wirtschaftliche Situation besser, aber die Furcht vor dem Verlust von Arbeitsplätzen war sehr groß. Das war ein wichtiges Motiv auch in Bewegungen, die sich gegen Einwanderung gewendet haben. Daneben gab es den verbreiteten Wunsch nach religiöser, kultureller, ethnischer Homogenität, ein Ideal, das uns auch heute leider wieder begegnet und das nicht nur unrealistisch war und auch heute ist, sondern auch die Gefahr in sich birgt, zu wirklich genozidalen Ideologien zu führen. Nicht jeder Anhänger dieses Ideals muss ein überzeugter Antisemit und Rassist sein, aber wir finden in den Bewegungen, die sich für eine solche Homogenität einsetzen, sehr häufig diese Ideologien, deren tödliche Folgen wir kennen.“

Verschleierung und Unschärfen im Sprachgebrauch

In den aktuellen Debatten über Flüchtlinge in Europa beobachtet der Historiker und Antisemitismus-Experte beunruhigende Pauschalisierungen. Dabei würden Flüchtlinge nicht selten kriminalisiert und Fakten im Sprachgebrauch verschleiert. Die Folge: Wachsende Vorurteile und die Verkehrung von Problemursachen und deren Opfern.

„Man spricht heute von der ,Flüchtlingskrise‘, fast jeder verwendet diesen Ausdruck, ich habe ihn auch schon verwendet. Der hat aber seine Problematik, denn wir sprechen gleichzeitig von Bankenkrise. Aber es ist nicht so - im Gegensatz zu den Banken - dass die Flüchtlige Mitverursacher der jetzigen Situation sind. Sie fliehen ja nicht freiwillig, und die Verursacher sitzen ganz woanders! Das ist also eine Gefahr auch im Sprachgebrauch, dass man das sozusagen vernebelt, indem man solche Begriffe verwendet, wo scheinbar dann die Flüchtlinge die Ursache des Problems sind. Es ist sehr wichtig, das allgemeine Bewusstsein zu fördern, dass dem nicht so ist, dass es ganz andere Ursachen (für die Finanz- und Wirtschaftskrise, Anm.) gibt, über die man lange reden kann, und dass die Flüchtlinge die Opfer solcher Entwicklungen sind.“

Verbesserungswürdige Integrationspolitik und die Chancen einer Kultur der Begegnung

Die Politik sieht sich dabei in der Zwickmühle, etwa in Deutschland – einerseits ist sie um Konsens bemüht und will das Gemeinwohl schützen, indem sie etwa eine Kapazitätsgrenze bei der Aufnahme der Flüchtlinge einhalten will. Andererseits gibt es die humane Verpflichtung, Schutzbedürftige aufzunehmen. Was wäre vor diesem Hintergrund eine humane, aber doch auch realistische Flüchtlingspolitik mit Weitblick? wollten wir von Wolf Kaiser wissen.

„Man muss zunächst erst einmal sehen, dass die Länder, in denen sich große Teile der Bevölkerung gegen die Aufnahme von Flüchtlingen wehren, an sich, demografisch gesehen, darauf angewiesen sind, dass eine Migration in diese Länder stattfindet – da gibt es einen ganz großen Widerspruch zwischen dem Bedarf auch an Arbeitskräften und der Ablehnung einer Zuwanderung! Nun ist es natürlich nicht so, dass alle Flüchtlinge gleich zur Verfügung stehende Arbeitskräfte sind, aber ich denke, ein Hauptziel der Politik sollte tatsächlich sein, die Integrationsmöglichkeiten zu verbessern. (...)

Ansonsten geht es darum, dass die Menschen sich kennenlernen. Die Erfahrung ist, dass Menschen, die sich kennen, viel eher bereit sind, auch Unterschiede zu akzeptieren, die es natürlich gibt und damit umzugehen. Gefährlich wäre eine Segregation von Flüchtlingen, und gerade deswegen ist es auch wichtig, dass sie nicht jahrelang in irgendwelchen Auffanglagern unter sich bleiben, sondern dass man ihnen die Voraussetzungen schafft, auch materiell, dass sie tatsächlich in Kontakt mit den aufnehmenden Gesellschaften kommen können - das wird für beide Seiten gut sein.“ 

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Das gesamte Interview hören Sie durch Anklicken des Lautsprechersymbols oben links.

Weitere Themen: Reaktionen in Europa auf Flüchtlingsbewegungen zur Zeit des Holocaust und Zweiten Weltkriegs, Zusammenhänge zwischen dem Abbau von Vorurteilen und der Integration anderer (religiöser) Volksgrupenn, die Zunahme von Populismus und Abschottung heute. Die Fragen stellte Anne Preckel. 

(rv 17.02.2017 pr)








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