2017-01-15 08:59:00

Berühmt und doch unbekannt: Luthers 95 Thesen


Die 95 Thesen Martin Luthers sind ein ebenso berühmter wie unbekannter Text. Am 31. Oktober 1517 legte der Wittenberger Theologe seine Thesen einem Brief an Albrecht von Hohenzollern, den Erzbischof von Mainz und Magdeburg, bei. Der Brief beginnt mit Luthers Worten: „Unter deinem hochberühmten Namen gehen päpstliche Ablässe für die Kirchenfabrik von St. Peter um.“ Um etwas Licht in das Dunkel zu bringen, haben wir - 500 Jahre nach diesem Ereignis – mit Lothar Vogel gesprochen. Vogel ist Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Waldenser in Rom.

Der zentrale Begriff der Thesen ist laut Vogel die Buße. „Die Frage, inwiefern der Mensch Buße tun kann vor Gott, um zum Heil zu gelangen.“ So beginnt Luthers Text, der von ihm selbst nur auf Latein verfasst wurde und vermutlich auch nie an einer Kirchentür hing, mit einem Zitat aus dem Matthäus-Evangelium: „Tut Buße!“ Was folge, sei eine Auslegung zu diesem Vers. „Luther selbst interpretiert das dann in einer Weise, dass Jesus eine lebenslange Buße gefordert habe, und diese lebenslange Buße wird von Luther von zwei Fehlformen von Buße abgegrenzt. Die erste Fehlform ist eine rein sakramentale Buße, die er letztlich als oberflächlich betrachtet und in die er auch seine Kritik am Ablass integriert. Die zweite Fehlform ist jedoch eine rein verinnerlichte Buße, wo einer also nur mit sich selbst kämpft. Luther betont sehr, dass den Menschen eine heilvolle Botschaft von außen, durch die Predigt, durch das Wort erreichen muss.“

Um Luthers Thesen verstehen zu können, müsse man, so Vogel, den historischen Kontext kennen. Zeit und Ort seien keineswegs historisch unerklärbar. Viele kirchliche Reformforderungen im westlichen Christentum und sogar Kritik an der Ablasspraxis waren Luthers Thesen vorausgegangen. Auch theologisch standen sie keinesfalls im luftleeren Raum. „Luthers Thesen entstehen aus einer theologischen Schulbildung heraus, die wir wirklich in Wittenberg verorten können. (…)Diese theologische Schule zeichnet sich durch drei Dinge aus. Zum einen durch die Konzentration auf die anti-pelagianische Lehre von Augustin. (In dieser Lehre wird – im Gegensatz zum von der Kirche verurteilten Pelagius, der um das Jahr 400 lebte – betont, dass der Mensch der Gnade Gottes bedarf und sich nicht selbst erlösen kann.) Zum anderen durch die Rezeption von Johannes Tauler und der sogenannten ‚Deutschen Mystik‘. Und zum dritten durch die Rezeption der humanistischen Philologie“, sagt Vogel.

Doch auch wer das historische Umfeld kenne, sei oft mentalitätsgeschichtlich weit von Luther und seinen Zeitgenossen entfernt. Und 500 Jahre später sei auch nicht die Frage entscheidend, ob Luther wirklich gehämmert habe oder nicht. Für Vogel sind zwei Dinge für heute interessant: „Das eine ist, dass Luther oder die Wittenberger Theologie, wie sie sich in diesen Jahren entwickelt hat, eine Vorstellung von der Kirche hatte, die ich nach wie vor für sehr interessant halte. Sie geht ganz stark davon aus, was Kirche den Menschen zu geben in der Lage ist. Die zentrale Frage für Luther ist, ob Kirche in der Lage ist, die heilvolle Botschaft von der Erlösung in Jesus Christus Menschen weiterzugeben. Das ist die Berechtigung der Kirche und was sie ausmacht. Der andere Punkt ist, dass Luther mit dem, was als seine Kreuzestheologie bezeichnet wird, einen Schlüssel zur Wahrnehmung einer  existentiellen Erfahrung bietet, den ich nach wie vor für hochinteressant halte. Deshalb, weil Luther die Immanenz menschlicher Existenz ohne Vorbehalt akzeptiert. Er akzeptiert voll, dass eine menschliche Existenz sich innerhalb dieser Welt vollzieht und nicht auf wunderhafte Interventionen von irgendeiner Seite hoffen kann. Er akzeptiert auch, dass menschliche Existenz in dieser Hinsicht von dem geprägt ist, was er ‚Anfechtung‘ nennt. Also von Abschied, auch von Sterben am Ende und auch von der Vorläufigkeit religiöser Sicherheiten. Das finde ich sehr interessant. Luther sagt, dass genau in diesen ‚Anfechtungen‘, in diesem Loslassen-müssen Gott heilvoll am Werk ist.“

In Rom wird 2017 nicht nur an den 500. Jahrestag der Reformation gedacht, sondern auch an den ersten evangelischen Gottesdienst der Stadt 300 Jahre später, im November 1817. Aus diesem Anlass lud die evangelisch-lutherische Gemeinde in Rom zu einem Vortrag mit Lothar Vogel zum Thema „Die Reformation in Wittenberg und die 95 Thesen“ ein.

 (rv 15.01.2017 dh)








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