Geboren 1979 in der DDR, aufgewachsen in Europa. Welche Rolle spielt die einstige
Teilung des europäischen Kontinents noch heute in den deutschen Köpfen? Diese Frage
treibt die Kommunikationswissenschaftlerin Adriana Lettrari um. Mit dem von ihr gegründeten
Netzwerk „Dritte Generation Ostdeutschland“ erforscht sie die Erfahrung der Wende
als eine Chance und denkt die unterschiedliche Sozialisierung in Ost und West bewusst
europäisch. Für ihr Engagement wird Frau Lettrari nun mit dem Preis „Frauen Europas“
ausgezeichnet, der in diesem Jahr sein 25-jähriges Jubiläum feiert. Frau Adriana Lettrari
ist die bisher jüngste Preisträgerin.
*Das Datum der Preisübergabe, der 9. November, der Tag des Mauerfalls hätte symbolischer
gar nicht sein können, Frau Lettrari. Als Ihnen mitgeteilt wurde, dass die Wahl zur
„Frau Europas 2016“ unter elf Kandidatinnen auf Sie gefallen war, wie war da Ihre
erste Reaktion?“
Adriana Lettrari: „Meine erste Reaktion, als ich von dem Preis erfuhr war in der Tat
eine sehr, sehr große Überraschung. Ich bekam einen Anruf der Präsidentin der „Frauen
Europas“ und Sie teilte mir in unserem Gespräch mit, dass ich ausgewählt worden bin.
Ich war in der Tat wahnsinnig erfreut, aber auch wirklich sehr überrascht weil wir
wirklich ganz tolle Frauen nominiert waren. Ich nehme daher auch diesen Preis nicht
für mich alleine entgegen, sondern für alle die sich in den letzten fünf Jahren ganz
engagiert für die Fragen, die uns bewegt haben, eingesetzt haben.“
*Mit dem Preis „Frauen Europas Deutschland“ ehrt die europäische Bewegung Deutschland
seit 1991 Frauen, die sich durch ihr mutiges, kreatives oder hartnäckiges ehrenamtliches
Engagement in besonderer Weise für das Zusammenwachsen und die Festigung eines vereinten
Europas einsetzen. Frau Lettrari, Sie haben die deutsche Teilung und die Spaltung
des Kontinents durch den eisernen Vorhang noch als Kind miterlebt. Welche Erinnerungen
tragen Sie aus dieser Zeit noch in sich?“
Lettrari: „Die Zeit vor 1989 habe ich in der Tat als durchaus nicht sehr individuelle
Zeit in Erinnerung. So kann ich mich erinnern, dass wir sehr als Kinder und auch zu
Beginn als Jugendliche darauf organisiert waren, in Gruppen miteinander Dinge zu unternehmen
und das es keine besonders große Vielfalt gegeben hat in diesen Gruppen. Als die Mauer
dann fiel und ich jugendlich wurde, ich war etwa elf Jahre alt, hatten wir dann die
Möglichkeit ganz unterschiedliche Dinge auszuprobieren und Entscheidungen treffen
zu können. Etwa welches Musikinstrument wir erlernen möchten oder welchen Sport wir
ausüben wollten, das fand ich ganz toll. Es ist aber auch dazu zu sagen, dass uns
nicht nur die Zeit der DDR bewegte, also des Eisernen Vorhangs, sondern uns bewegte
natürlich auch die Zeit nach 1989, den insbesondere in Ostdeutschland war es eine
Zeit der unglaublichen Transformation. Uns hat wahrscheinlich am meisten geprägt ,
in so einer rasanten Schnelligkeit zu sehen wie sich die Dinge verändern. Nicht nur
die Straßennamen sondern auch die Häuser und ihre Farben, denn es wurde unglaublich
viel gebaut. Aber auch zum Teil die Berufe und die Tätigkeiten unserer Eltern veränderten
sich rasch, weil sie völlig neu anfangen mussten. Ebenso war es mit dem Schulsystem,
neue Lehrer waren auf einmal da oder unsere alten Lehrer erzählten uns auf einmal
etwas völlig neues. Das war eine unglaubliche Besonderheit.“
*Netzwerk dritte Generation ist ja kein Verein, es wird auch nicht demokratisch gewählt
und es gibt bei Ihnen keine Mitgliederversammlung. Sie stellen sozusagen ein kreatives
Kommunikationsnetzwerk dar.
Lettrari: „Ja, in der Tat sind wir eine Kreativ- und Kommunikationsplattform, das
heißt uns zeichnet aus, dass die Menschen zu uns kommen, die sich für dieses Thema
interessieren und dazu Projekte machen wollen. Wir haben kulturelle Ausstellungen,
wie Fotoausstellungen oder wissenschaftliche Untersuchungen, wie etwa die Vorstellungen
von Büchern. Dazu bieten wir auch Biographie Workshops an und machen viel Pressearbeit.
Wir können insbesondere viel mit den Menschen arbeiten, denen das Thema wichtig ist,
dass Ost- und Westeuropa jetzt in einer neuen Art miteinander leben, natürlich unter
Berücksichtigung der Besonderheiten ihrer Sozialisation. Wir befinden uns in der Generation
einer neue Art des Umgangs und der Gestaltung Europas. Die Personen die sich entschieden
haben, aus unserer Perspektive rückwärtsgewandt diese Sachverhalte zu betrachten,
wie die Einheit Europas eben nicht mehr zukünftig betrachtet werden soll, sind letztendlich
nicht unsere Zielgruppe. Wir sind aber offen für jeden, der sich mit unser pluralistischen
Thematik beschäftigen möchte. Wir haben aber auch die Erfahrung gemacht, dass auch
einige aus unserer Generation sich entscheiden, wie bereits gesagt aus unserer Sicht
rückwärtsgewandt zu denken, dass die manchmal wirklich kein Interesse haben neues
kennen zu lernen. Sie sind nicht neugierig Menschen aus anderen Ländern zu kennen
und da können wir uns nur starkmachen und verstärkt dafür eintreten, dass wir das
aber toll finden und dass das für uns der richtige Weg ist. Wir können aber natürlich
niemanden missionieren und finden dass aber ausgesprochen schade und erschreckend,
aber letztlich wollen wir eine Gegenstimme erheben.“
*Heißt das, dass Sie sich langsam vom Fokus das Wendekind und richten jetzt das Netzwerk
vermehrt auf das Migrationskind?“
Lettrari: „Wir haben im vergangenen Jahr ein Memorandum veröffentlicht mit einundzwanzig
Statements für das 21. Jahrhundert. Von der gleichen Anzahl an Autorinnen waren sieben
Wendekinder, sieben hatten einen Migrationshintergrund. Unser Weg führt uns nach fünf
Jahren der Auseinandersetzung mit den Wendekindern, also mit Kindern die in einer
doppelten Sozialisation aufgewachsen sind, zu der Frage „Was heißt es in Europa für
unsere Generation mit unseren unterschiedlichen Biografien in Verantwortung zu gehen
und Entscheidungen zu treffen?“ Viele von uns sind jetzt noch am Anfang oder in der
Mitte unserer Berufsbiografie und kommen jetzt auch in Führungsverantwortung. Für
uns hat sich daher also die Frage gestellt, auf welche gemeinsamen Werte wir uns von
nun an verständigen möchten. Ich möchte insofern gerne die gesamte Generation der
zwischen 30- 40-järhigen in Europa mitansprechen. Sie sollen sich ihrer Erfahrung
bewusst werden, dass sie den Eisernen Vorhang erlebt haben und das wir in friedvoll
überwunden haben. Ich denke, dass ist eines der größten und wichtigsten historischen
Erfahrungen in unserem Leben, dass wir es also nicht als kriegerische Auseinandersetzung
sondern als friedliche Revolution erleben durften. Ich sagte es bereits zu Beginn,
aber dass wir diesen rasanten Wechsel und diese Entwicklungen mitbegleitet haben und
ich glaube, dass wir aus diesem Fund auch ganz viel historische Verantwortung für
die Zukunft tragen.“
*Der Populismus bereitet Papst Franziskus Sorge. Kirche und Gesellschaft müssen sich
gegen die wachsende Fremdenfeindlichkeit in Europa stemmen. Das war der Tenor einer
Audienz des Papstes für den Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein Torsten Albig
am vergangenen 10. Oktober im Vatikan. Bei der Begegnung sei der Papst von sich aus
auf ausländerfeindliche Tendenzen in Deutschland zu sprechen gekommen. Der Papst nehme
die Xenophobie in Europa wahr und sie bereite ihm große Sorge. Was denken Sie über
diese Aussage?
Lettrari: „Ost- und Westeuropa wurden meines Erachtens nicht als gleichwertig erachtet
sondern es gibt das eine oder andere Vorurteil, aus meiner Perspektive, nach wie vor.
Das gilt es letztendlich zu überwinden. Meine Antwort auf die Entwicklungen derzeit
ist, dass ich es ganz relevant finde, dass sich die Pluralistische Seite noch stärker
macht und noch öffentlicher wirksam macht und sichtbar wird. Das deutlich wird das
Xenophobie etwas ist, was die Mehrheitsgesellschaft nicht vertritt und was auch eigentlich
nicht die Vision Europas ist. Im Gegenteil sie steht letztendlich diametral zu dem
was die Gründungsväter und Gründermütter sich bei der Vision Europa überlegt haben.
Das ist auch nicht das Erbe was wir antreten wollen.“
*Die Einigung Deutschlands wird allgemein als ein politisches Wunder bezeichnet. Seither
sind nur wenige Jahre vergangen und durch die Arbeitslosigkeit, durch die Flüchtlingsfrage
und durch den sichtlichen Abfall politischer Verantwortung in Europa und anderswo
scheinen solche Wunder nicht mehr möglich zu sein. Was ist es, was die Menschheit
in diesen Rückfall treibt? Ist es die Angst, ist es der Neid, ist es die Unzufriedenheit,
die Unsicherheit, die Korruption? Wie geht es weiter in Deutschland, in Europa? Eine
große Frage, gestellt an eine junge Frau, die in diesem Jahr „Frau Europas“ geworden
ist.
Lettrari: „Die Zukunft der Europäischen Union und der Vision Europas liegt letztendlich
in der Mittleren Generation, also der 30 bis 40jährigen. Sie werden im Zuge des demografischen
Wandelns nun die Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen sein. Es ist daher
hochrelevant, dass sie sich darüber im Klaren werden welches historische Erbe sie
antreten. In der Tat ist es ein Erbe einer friedlichen Revolution und es ist ein Erbe
einer Generation die in sich so pluralistisch ist und daher eine so großen Schatz
verbirgt, der noch längst nicht gehoben ist. Wenn es diese Generation schafft sich
darüber im Klaren zu werden welchen Schatz sie in sich trägt und diesen nach außen
zu tragen und damit wertschätzend umzugehen dann steht Europa eine wunderbare Zukunft
bevor.“
ap
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