2016-10-26 13:47:00

Ökumene: „Nicht alle Fragen sind gelöst“


Am 31. Oktober beginnt das Jahr des Reformationsgedenkens: Vor genau 499 Jahren veröffentlichte Martin Luther seine Thesen, und über Jahrhunderte hinweg spaltete seitdem die sogenannte Rechtfertigungslehre die Kirchen. Bis 1999: Da einigten sich die Kirchen zumindest in dieser Frage, wie der Mensch sich vor Gott „rechtfertigen“ kann.

Die damals in Augsburg unterzeichnete Gemeinsame Erklärung sorgt tatsächlich dafür, dass die Rechtfertigungslehre „kein Stachel mehr im ökumenischen Fleisch“ ist. Das sagte der katholische Theologe Wolfgang Thönissen, Leitender Direktor des Paderborner Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik, jetzt in einem Interview mit Radio Vatikan. Und trotzdem...

Thönissen:  „Jawohl, die Fragen sind gelöst – aber welche Fragen? Die Grundfragen (oder wie wir sagen: Grundwahrheiten) in der Rechtfertigungslehre sind gelöst, aber es ist ja der Kniff dieser Gemeinsamen Erklärung, dass sie nicht alle Fragen gelöst hat in dem Sinn, dass es einen Konsens, eine Übereinstimmung gibt! Deswegen sind immer noch Differenzen da. Wie gehen wir mit diesen Differenzen um? Diese Frage ist ja noch längst nicht geklärt, und deswegen hat sich daran in den letzten Jahren doch eine heftige Diskussion entwickelt. Das kommt jetzt allmählich ans Tageslicht.“

RV: Wo liegen denn diese Differenzen?

Thönissen: „Wenn man das mal auf einen spitzen Punkt bringen will: In welcher Form lässt Rechtfertigung Raum für Freiheit des Menschen? Was ist Freiheit des Menschen? Man kann auf der einen Seite also sagen, dass die Reformation insgesamt als historische Bewegung sozusagen einen Freiheitsschub ausgelöst hat – auf der einen Seite. Auf der anderen Seite stellt sich die theologische Frage: Was ist es denn, was der Mensch zu seinem Heil dazutun kann? Dazu würde man jetzt salopp sagen: Eher nichts! Also schwankt sozusagen die Freiheitsfrage – zwischen der Eröffnung der Freiheit im gesellschaftlichen Raum auf der einen Seite, und der Zurücknahme dieser Freiheit im religiösen Bereich. Da knistert’s natürlich zwischen evangelischen und katholischen Vorstellungen...“

RV: Hat denn die katholische Kirche trotz des Konzils immer noch ein gestörtes Verhältnis zum Thema Freiheit?

RV: „Das glaube ich nicht... Ich würde nicht sagen: ein gestörtes Verhältnis. Aber es sind Fragen da. Freiheit bzw. Autonomie, was heißt das? Sie kennen die Debatte in der katholischen Moraltheologie von vor vierzig Jahren, die bis heute nicht abgeebbt ist: Was heißt Freiheit, und was heißt Autonomie der Welt – der weltlichen Lebensfragen, der Lebenswelten? Welchen Einfluss hat die vatikanische Glaubenskongregation auf die Beantwortung der religiösen Fragen der Menschen, und inwiefern können gläubige Menschen diese Fragen selber für sich in ihrem Leben lösen und freisetzen? Das ist im Katholischen immer noch ein großes Thema.“

RV: Als Benedikt XVI. im Jahr 2011 das Erfurter Augustinerkloster besuchte, beklagte er, dass der Schrei Luthers „Wie schaffe ich mir einen gnädigen Gott“, also der Ur-Impuls der Reformation, heute weitgehend gleichgültig lässt. Hat der emeritierte Papst da recht, ist das eine Sache für Spezialisten geworden?

Thönissen: „Der emeritierte Papst Joseph Ratzinger hat in dieser Sache vollkommen recht: Die Frage nach der Rechtfertigung ist eine Frage für Spezialisten geworden. Wer sich darin auskennen will, muss viele Jahre studiert haben, um überhaupt nur begreifen zu können, wo sozusagen die Inhalte dieser Fragestellung liegen.

Auf der anderen Seite aber müssen wir feststellen, dass die Menschen heute nach Gott suchen. Bekommen sie die Antwort auf diese Frage nach Gott? Wahrscheinlich nicht mehr in der Weise, dass sie jetzt gemeinsam ... darauf zugreifen können. Wie stellt man diese Frage, und welche Antworten bekomme? Welche Antworten will ich überhaupt? Wie kann ich mit den Antworten, die ich habe, umgehen? Das heißt also: Dieses Ur-Motiv der Suche nach Gott – da hat Benedikt XVI. sozusagen in die Tiefe gebohrt. Und das ist die Frage, die wir alle haben, evangelische, orthodoxe oder katholische Christen; wir alle müssen uns diese Frage – wo finden wir diesen Gott, wer ist dieser Gott? Welche Züge hat er, was bringt er uns letztlich? – gemeinsam stellen. Darauf haben wir wahrscheinlich keine einliegende Antwort mehr.“

RV: Wenn man Papst Franziskus zuhört, dann kann man den Eindruck haben, dass er jetzt sagen würde: Das sind alles Nebenkriegsschauplätze, in Wirklichkeit müssen wir jetzt vor allem das Verbindende betonen und gemeinsam im Slum am Suppentopf stehen, um Suppe an die Armen auszuteilen. Was sagen Sie als „Spezialist“ dazu?

Thönissen: „Das ist alles richtig! Das unterstütze ich ja auch. Nur – wir dürfen nicht vergessen lassen, dass die Frage „Was soll der Christ aus dem Glauben heraus tun“ eben auch mit der Glaubensfrage zusammenhängt. Wenn ich in Liebe tätig bin, muss ich wissen: Was bringt mir der Glaube, was ist der Glaube eigentlich? Beides gehört zusammen!

Deswegen kann ich mich zwar für Flüchtlinge, Asylanten usw. einsetzen, das ist ein wichtiges Motiv, ich muss den Notleidenden beistehen. Aber warum tue ich das? Das Motiv liegt sozusagen in der Gottsuche selbst, und beides muss ich miteinander verbinden. Deswegen sind die Theologen gefragt, auch diese Fragen zu beantworten. Mal in einem klassischen, ökumenischen Titel ausgedrückt: Keine Rechtfertigung ohne Heiligung, aber auch keine Heiligung – also das, was der Mensch tun soll – ohne Rechtfertigung! Diese beiden Fragen gehören zusammen.“

(rv 27.10.2016 sk)








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