2016-10-12 17:42:00

D: Missbrauch bei Domspatzen, 422 mögliche Opfer


„Sie dürfen mir glauben, es schmerzt mich und es tut mir in der Seele weh - jeder einzelne Fall, hinter dem ja ein Mensch steht, eine Kinderseele in diesen Fällen, schwer gequält, oft für das Leben gezeichnet. Ich kann es nicht ungeschehen machen, kann die Betroffenen nur um Vergebung bitten.“ - Mit diesen Worten hat Bischof Rudolf Voderholzer an diesem Mittwoch in Regensburg den Missbrauchsskandal im Knabenchor der Regensburger Domspatzen kommentiert. Bei dem weltberühmten Knabenchor kam es zwischen 1953 und 1992 in Hunderten Fällen zu körperlicher und sexueller Gewalt.

Der Regensburger Bischof trat erstmals gemeinsam mit Betroffenen in der Öffentlichkeit auf. Die Vorgänge gehörten zu den „bedrückendsten Erfahrungen und schwersten Lasten meiner Amtszeit“, unterstrich der Bischof auf der Pressekonferenz in Regensburg. Zugleich habe er immer den Kontakt zu den Betroffenen gesucht: „Mein Anliegen war es von Anfang an, mit möglichst vielen Opfern persönlich zu sprechen, vorausgesetzt eine Retraumatisierung ist ausgeschlossen, sie anzuhören und sie auch persönlich um Vergebung zu bitten.“

„System der Angst“: 422 mögliche Opfer

Voderholzer informierte über die bisherige Gesamtzahl der Missbrauchsfälle und rief mögliche weitere Opfer auf, sich zu melden und Hilfsangebote wahrzunehmen: „Nach Auskunft von Herrn Rechtsanwalt Ulrich Weber haben sich seit seinem Zwischenbericht im Januar diesen Jahres 129 weitere Personen gemeldet, überwiegend handelt es sich dabei um Opfer von körperlicher Gewalt und da sind auch einige Fälle sexuellen Missbrauchs mit dabei, insgesamt sind damit bislang 422 Meldungen bei uns eingetroffen.“ Der Regensburger Rechtsanwalt Ulrich Weber untersucht die Vorfälle seit Mai 2015. Der unabhängige Sonderermittler sprach in einem Zwischenbericht von einem „System der Angst“, das jahrzehntelang in den Einrichtungen der Domspatzen geherrscht habe. Einen Abschlussbericht zu den Vorfällen will der Jurist im kommenden Jahr vorlegen.

Bischof Voderholzer stellte auf der Pressekonferenz am Mittwoch weitere Maßnahmen für eine „effektive und nachhaltige Aufklärung“ der Fälle vor. Dazu gehören eine soziologische und eine historische Studie, mit denen die Kriminologische Zentralstelle (KrimZ) von Bund und Ländern in Wiesbaden sowie der Regensburger Historiker Bernhard Löffler beauftragt werden. Die sozialwissenschaftliche Studie solle der Prävention dienen, führte Voderholzer aus: „Ihr Ziel ist es, Mechanismen, Gesetzmäßigkeiten darzustellen und zu erforschen, die die zu beklagenden Fälle der körperlichen Gewalt und des sexuellen Missbrauchs gefördert und begünstigt haben oder zumindest nicht verhindert haben. Die Ergebnisse dieser Studie sollen vor allem auch helfen, die Präventionsmaßnahmen noch effektiver und noch nachhaltiger zu machen.“

Unabhängige Anlaufstelle eingerichtet

Zudem könnten sich Opfer, „die in die vom Bistum angebotenen Anlaufstellen noch kein Vertrauen“ setzten, kostenlos an eine unabhängige Anlaufstelle wenden, so der Bischof weiter. Man habe damit ein „dringendes Anliegen der Betroffenen“ selbst aufgegriffen, erklärte er: „Es handelt sich um das Münchner Informationszentrum für Männer (MIM) – es hat bereits seine Arbeit aufgenommen, und wir haben über diese Möglichkeit auch bereits informiert. Diese Anlaufstelle zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie von psychologisch geschulten Fachkräften getragen wird und dass damit auch das Angebot von für die Betroffenen kostenloser Therapie verbunden ist.“ Ein sogenanntes Anerkennungsgremium, das juristische, psychologische und sozialpädagogische Kompetenzen vereint, werde über die Schwere der Fälle und die Höhe von Geldzahlungen entscheiden, die sich zwischen 5.000 bis zu 20.000 Euro bewegen und bis Ende 2017 ausgezahlt werden sollen, hieß es in Regensburg weiter.

Voderholzer, der seit Januar 2013 Bischof von Regensburg ist, hat die Opfer wiederholt öffentlich um Vergebung gebeten. Dabei bedauerte er zugleich, dass frühere Versuche einer Selbstkorrektur „zu wenig wirksam“ gewesen seien. Auch seien Ausmaß und Schwere der durch nichts zu rechtfertigenden Übergriffe unterschätzt worden, erklärte der Bischof, der am Mittwoch erneut seiner Entschlossenheit zur Aufklärung Ausdruck verlieh: „Mit diesem Maßnahmenpaket hoffen wir einen entscheidenden Beitrag zur Aufarbeitung zu leisten, wobei mein und unser aller erstes und vorderstes Ziel ist, all denen Gerechtigkeit und Genugtuung wiederfahren zu lassen, denen schweres Leid zugefügt wurde, das wir zwar nicht wieder gutmachen können, wo wir aber zeigen wollen, dass es uns leid tut, nahe geht und dass wir das uns noch Mögliche tun wollen, um das Leid anzuerkennen und für künftige Generationen daraus zu lernen.“

Lob für Willen zur Aufarbeitung

Betroffene des Missbrauchs zeigten sich dankbar für Bischof Voderholzers Initiative, die Fälle umgehend aufzuklären. „Wir traten an mit einem Forderungskatalog, der bewusst sehr hoch angesetzt war - nach heutigem Stand wissen wir, dieser Forderungskatalog ist erfüllt“, sagte der ehemalige Domspatz Alexander Probst gegenüber Pressevertretern. Dies sei ein Ergebnis, „von dem wir jahrelang geträumt haben“. Die übrigen Opfer und er hätten sehr viel kämpfen müssen, um ernst genommen zu werden. „Es war ein Aufbruch nach vielen Jahren des Stillstands“, sagte Peter Schmitt, ebenfalls Betroffener. Probst betonte, dass es ihm und den anderen Betroffenen nicht um das Geld gehe - sondern um die Anerkennung und das Gehör. „Man ist nicht mehr derjenige, der das Bistum beschmutzt hat“, sagte er.

Auch der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, lobte den Zwischenbericht zur Aufarbeitung der Übergriffe bei den Regensburger Domspatzen. Es sei „wegweisend“, dass die Bistumsleitung die Verantwortung für diesen „schmerzhaften Prozess“ übernommen und entsprechende Verabredungen mit den Betroffenen gemeinsam mit diesen öffentlich gemacht habe, sagte Rörig am Mittwoch der Katholischen Nachrichten-Agentur in Berlin. Die Aufarbeitung sei in Regensburg nach 2010 sei zunächst „nicht gut gelaufen“, so der Beauftragte. Daher sei es „wohltuend und ein wichtiges Signal an Betroffene“ zu erfahren, dass aus den Fehlern und den Versäumnissen der Vergangenheit offenbar gelernt worden sei. Rörig sagte, er habe die Pressekonferenz in Regensburg live im Internet mitverfolgt. Es sei „spürbar gewesen, wie ernst es allen ist, Licht ins Dunkel zu bringen“. Dadurch habe sich auch gezeigt, dass es „nie zu spät für einen Neuanfang“ sei.

Der Beauftragte äußerte den Wunsch, dass das heutige Vorgehen der Regensburger Bistumsleitung „auch im Vatikan die Aufmerksamkeit erhält, die es verdient, insbesondere beim Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Ludwig Müller“. Müller war von 2002 bis 2012 Bischof von Regensburg. Er hatte mit Blick auf Missbrauchsfälle bei den Domspatzen bis zu seiner Amtsübergabe an Voderholzer stets von „Einzelfällen“ gesprochen. Die vatikanische Glaubenskongregation ist weltweit zuständig für die kirchenrechtliche Ahndung von Priestern, die Kinder missbraucht haben.

(rv/kna/süddeutsche/stuttgarter nachrichten 12.10.2016 pr)








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