2016-09-02 12:55:00

Ukraine: Caritas bittet um Hilfe für Hunderttausende Vertriebene


Nicht weniger als drei Millionen Menschen in der Ukraine wurden durch den Konflikt im Osten des Landes vertrieben. Als Flüchtlinge Schutz in Mitteleuropa zu suchen, ist nur für die wenigsten von ihnen ein Thema, hat der deutsche Caritas-Präsident Peter Neher beobachtet. Er kehrt soeben zurück von einer fünftägigen Reise durch die Ukraine, die ihn unter anderem in ein Flüchtlingslager und auch in die Pufferzone im Osten führte. Trotz der tristen allgemeinen Lage zählten die ukrainischen Binnenflüchtlinge auf eine Zukunft in ihrem Land, sagte Neher im Gespräch mit Radio Vatikan.

„Die Situation insgesamt ist depressiv und bei vielen Menschen von großer Perspektivlosigkeit gezeichnet. Wir haben ein Sozialzentrum in Dnipro besucht, in dem die Caritas Ukraine vor allem mit Kindern, Jugendlichen und Familien arbeitet im Sinn einer Traumaarbeit, weil die traumatischen Erfahrungen gehen den Menschen an die Seele. In der Pufferzone auf der ukrainischen Seite haben wir einzelne Alleinstehende, vor allem ältere Menschen besucht, die in einer ganz schweren Lebenslage sind. Die gesamte Atmosphäre ist schon bedrückend sowie das Gefühl, dass die Ukraine in Vergessenheit gerät; das war auch der Grund, warum ich hingefahren bin. Vor allem die Not der Menschen dort. Das ist mir wichtig, das wieder ins Bewusstsein zu heben, was hier an dringenden Hilfestellungen einerseits, aber auch an politischer Lösung nötig ist.“

RV: Regierung und prorussische Rebellen haben soeben eine neue Waffenruhe vereinbart, die mit 1. September Mittag in Kraft trat und bisher zu halten scheint. Haben Sie aus Ihren Gesprächen in der Ukraine den Eindruck, dass das wirklich ein Wendepunkt in diesem Konflikt sein könnte?

„Wir waren bis gestern (1. September) in der Ukraine, und da gab es jede Nacht Schießereien, auch in der Pufferzone. Jeder Versuch einer friedlichen Lösung dort ist ernst zu nehmen, aber die Menschen selber haben wenig Hoffnung, dass das an ihrer Lebenslage auf absehbare Zeit etwas ändert.“

RV: Von wie vielen Binnenvertriebenen in der Ukraine sprechen wir überhaupt?

„Wir müssen davon ausgehen, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen insgesamt drei Millionen Menschen in die Flucht getrieben haben. Von diesen drei Millionen sind etwa 1,3 Millionen ins Ausland gegangen, viele nach Russland, und 1,7 Millionen, mehr als die Hälfte, sind in der Ukraine selbst geblieben. Ein Land, das ohnehin große wirtschaftliche Schwierigkeiten hat, sodass die Flüchtlinge, die ja oft bei Verwandten unterkommen, die Perspektive für sie, Wohnung zu finden, Arbeit zu finden, die Existenz zu sichern, das ist eine große Herausforderung für die ukrainische Gesellschaft. Da arbeiten wir mit der Caritas Ukraine eng zusammen, um Wege zu öffnen.“

RV: Wenn man sich diese Lage vergegenwärtigt, erstaunt es, dass nicht Hunderttausende dieser drei Millionen Menschen versuchen, sich bis nach Mitteleuropa durchzuschlagen.

Neher: „Das ist dort nicht das Thema. Die Menschen wollen in der Ukraine bleiben, sie haben die Hoffnung auf eine Zukunft in ihrem Land. Sie kämpfen, dass die Ukraine wirklich zu Europa gehört und ihren Platz in der europäischen Gesellschaft findet. Wie sich das allerdings entwickelt, wenn sich in der Ukraine nichts ergibt, ist eine andere Frage. Gegenwärtig ist es so, dass die Betroffenen Menschen ihre Zukunft dort sehen, deshalb ist es ja so wichtig, ihnen dort auch Zukunftsmöglichkeiten zu eröffnen.“

RV: Sie sprachen von Trauma-Arbeit. Was haben die Vertriebenen erlebt?

Neher: „Für viele kam der Krieg überraschend, Bomben, Granatenangriffe, beschossene Häuser. Vor allem in der Pufferzone sieht man, dass Schulen und medizinische Zentren militärisch vereinnahmt sind, sie waren damit wiederum Ziel für den Gegner. Die schlichte Tatsache, sein Eigentum zu verlieren: Wir hatten einen Sicherheitsoffizier, der uns begleitet hat, er hatte seine Existenz auf der Krim, er hat alles verloren und ist jetzt einfach nur froh, seine Familie in Sicherheit zu wissen und in Kiew untergekommen zu sein. Bis hin zu ganz banal erscheinenden Dingen, wie dass Menschen ihre Papiere nicht mitgenommen haben, weil sie ihre Wohnung überstürzt verlassen haben, und jetzt Riesenschwierigkeiten haben, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen und sich ausweisen zu können. Da hilft die Caritas Ukraine sehr konkret, die wir unterstützen, so gut wir können.“

(rv 02.09.2016 gs)

 








All the contents on this site are copyrighted ©.