2016-07-10 08:04:00

Der Vatikan, historisch: Besuch im Archiv der Glaubenskongregation


Vor 50 Jahren schaffte der Vatikan den Index ab. Das Verzeichnis verbotener Bücher hatte 400 Jahre lang die Katholiken vor nicht glaubenskonformer Lektüre gewarnt und das Lesen solcher Schriften unter Strafe gestellt. Eine Gängelung braver Katholiken? Aus heutiger Sicht wohl: ja. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Gudrun Sailer besuchte das Archiv der Glaubenskongregation.

Mächtige stachelbewehrte Eisenportale schirmen das Gebäude der Heiligen Inquisition von der Außenwelt ab. Wer in früheren Jahrhunderten, einer Vorladung folgend, hier ins sogenannte Heilige Offizium kam, muss sich eher unbehaglich gefühlt haben. Heute heißen das Gebäude und die Institution Kongregation für die Glaubenslehre, und das eiserne Tor steht sperrangelweit offen, weil im Hof die Leute, die das dürfen, ihre Autos parken. Vorgeladen sind wir auch nicht, sondern eingeladen, ins Archiv, wo uns mit großer Herzlichkeit der spanische Diözesanpriester Alejandro Cifres Giménez empfängt. Er stammt aus Valencia, Jahrgang 1960, hat in Rom in Theologie promoviert, 1991 an der Glaubenskongregation angefangen und dann nebenbei eine Doppelausbildung zum Archivar durchlaufen, an der vatikanischen Archivarschule und am italienischen Staatsarchivs, woraufhin der damalige Präfekt der Glaubenskongregation Kardinal Joseph Ratzinger ihn zum Leiter des Archivs der Glaubenskongregation bestimmte. Mit einem Ziel: das bis dahin fest verrammelte Archiv zu öffnen. Was 1998 geschah.

„Unser historisches Archiv setzt sich aus drei Beständen zusammen“, erklärt Cifres in seinem wohlgeordneten Büro, hinter sich ein Gemälde von Papst Paul VI. Erstens: die Papiere des Heiligen Offiz, also der Römischen Inquisition, zweitens: jene der Index-Kongregation, die den Index der verbotenen Bücher erstellte und 1917 ans Heilige Offiz wanderte, drittens die Dokumente der Inquisition von Siena, die, Glücksfall für die Forschung, komplett und ohne Verluste vom ersten bis zum letzten Prozess erhalten geblieben sind. Die meisten Forscher interessieren sich naturgemäß für die beiden größten Bestände: Inquisition und Index. Beide hängen eng zusammen.

„Die römische Inquisition wurde 1542 gegründet als Reaktion auf die lutheranische Kirchenspaltung in Italien. Der Buchdrucks mit beweglichen Lettern beförderte die Ausbreitung der Ideen und sorgte dafür, dass man sich am Heiligen Offizium schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts hauptsächlich mit neu herauskommenden Büchern beschäftigte. Und so wurde 1581 eine eigene Kongregation geschaffen, die Kongregation für den Index der verbotenen Bücher.“

Inquisition und Indexkongregation arbeiteten eng verzahnt mit dem Ziel, die Verbreitung protestantischer Ideen zu kontrollieren, später auch alle anderen Formen möglicher Häresie. „Das muss man also lesen als Versuch der Kontrolle des gesamten Gedankenflusses, was, ehrlich gesagt, kein besonders glückliches Unterfangen war“, erklärt Cifres. Jedenfalls: „Die Index-Kongregation ist aus diesem Grund sehr reich an Dokumenten zur Geschichte des modernen Denkens. Denn die Prüfer des Papstes nahmen nicht nur Theologie-Bücher unter die Lupe, sondern auch Literatur und Wissenschaft, alles, was irgendwie als Risiko für die Einheit des Glaubens aufgefasst wurde.“

Mehr als 6.000 Titel standen auf dem letzten Index von 1948

Wer und was stand denn nun auf dem Index? Martin Luther, selbstverständlich, später aber auch die „Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel Kant, der „Glöckner von Notre Dame“ von Victor Hugo, nachvollziehbarer Weise auch pornografische Werke wie jene des Marquis de Sade oder Giacomo Casanova. Mehr als 6.000 Titel umfasste der Index verbotener Bücher in seiner letzten Fassung von 1948, bis 1962 wurde ergänzt. Dann kam das Aus: 1966 erklärte der Heilige Stuhl die Aufhebung des Index.

„Die Entscheidung wurde am Ende des Konzils getroffen. Und sie lag ganz auf der Linie dessen, was die Behörde in jener Zeit selbst als seine Aufgabe begriff. Die neue, konziliare Auffassung der Kirche war eine Kirche, die nicht länger streitet gegen die moderne Welt, sondern sich fruchtbar mit ihr auseinandersetzt. Zuhören, Dialog führen. Und so ergab es keinen Sinn mehr, einem christlichen Volk, das sich als reif betrachtete, zu sagen, das darfst du nicht lesen. Der einzelne Glaubende ist frei, selbst zu urteilen. Es hat keinen Sinn, etwas an der Stelle zu unterdrücken, wo die Freiheit des Christen sich behaupten muss.“

Alejandro Cifres hat 14 Jahre lang an der Seite von Kardinal Ratzinger gearbeitet. Der Präfekt der Glaubenskongregation war die treibende Kraft hinter der Öffnung dieses Archivs für die Forschung. Während das vatikanische Geheimarchiv bereits seit 1881 Historikern offen stand, schien es lange Zeit undenkbar, auch die hochbrisanten Dokumente des Heiligen Offizium freizugeben, in denen in tausend schwierigen Wendungen heikle Glaubensdinge verhandelt wurden, Häresien, religiöse Tabubrüche aller Art, gefolgt von manchmal harten Urteilen. Dass schwarze Legenden über die Inhalte der hier verwahrten Papiere kursierten, wundert Cifres nicht.

 „Wir reden vom Archiv der römischen Inquisition, einem Gerichtshof, der mit mehr oder weniger großer Strenge Delikte gegen den Glauben verfolgte. Ein Kontext, der von Haus aus unangenehm ist. Wir alle in der Kirche heute – und ich erinnere auch an die Vergebungsbitten von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. – wir sind uns bewusst, dass die Handlungen der Inquisition nicht unserer Sensibilität entsprechen: die Tatsache, dass in der Vergangenheit Menschen für ihre Ansichten unterdrückt wurden.“

Dennoch reifte am Vatikan langsam die Haltung, dass die Wahrheit, und sei sie noch so unangenehm, auf den Tisch muss. Eine entscheidende Rolle dabei spielte der Präfekt der Glaubenskongregation.

„Dank Kardinal Ratzinger kam es überhaupt zur Öffnung des Archivs. Als ich 1991 an die Glaubenskongregation kam, war die Debatte über die Öffnung des Archivs schon alt. Kommissionen und Kommissionen hatten sich damit beschäftigt, wie und ob man das tun sollte. Und ich erinnere mich gut an Kardinal Ratzinger, der mit seiner milden Art an einen Punkt kam, wo er fast mit der Faust auf den Tisch haute und sagte: Schluss mit dieser Situation! Wir öffnen. Egal, was drin ist, egal, ob wir den Inhalt kennen oder nicht, wir können nicht warten. Die Wahrheit darf nicht versteckt werden. Und so war es.“

Präfekt Kardinal Joseph Ratzinger: Mitarbeiter der Wahrheit

„Mitarbeiter der Wahrheit“ – so lautet, woran hier erinnert sei, Kardinal Ratzingers Wahlspruch als Bischof.

„Es war ein Risiko, es zu öffnen, ganz klar. Wir hatten alte Register, denen nicht zu entnehmen war, worauf sie eigentlich verwiesen. Aber dieses Risiko hat Kardinal Ratzinger in vollem Bewusstsein auf sich genommen nach dem Grundsatz, dass die Wahrheit der Kirche niemals schaden kann. Er bat mich, die Öffnung vorzubereiten und die Struktur auf die Beine zu stellen, die wir heute haben. Das taten wir mit großer Mühe und mit viel Mitarbeit sowohl der Vorgesetzten als auch der vatikanischen Verwaltung und nicht zuletzt der Forschung.“

Internationale Gelehrte also, und keineswegs vom Vatikan bezahlte Historiker, halfen dem Vatikan, den Inhalt des Archivs aufzuarbeiten und die Geschichte der Kongregation besser zu verstehen.

„Tatsächlich, in den ersten Jahren nach der Archivöffnung waren wir so unerfahren in der Verwaltung dieses hochbedeutsamen Erbes, dass wir sogar ein wissenschaftliches Komitee aufstellten, das aus externen Forschern bestand – Repräsentanten jener Geschichtsschreibung, die in jenen Jahren dominierte und die nicht gerade kirchenfreundlich war. Eine Gruppe von Professoren, die in einer laizistischen Mentalität ausgebildet waren, sehr kritisch, aber mit großem Geist der Zusammenarbeit. Und sie stellten sich in Dienst des Archivs und halfen mit in den ersten Jahren, Kriterien für die Öffnung zu finden, für die Publikationen, für das Ordnungssystem, sie halfen uns auch, Geldmittel aufzutreiben. Da gab es anfangs eine großartige Zusammenarbeit.“

Auch aus Deutschland kamen zahlreiche Forscher, allen voran Hubert Wolf aus Münster, dessen Bücher über Inquisition und Index regelrechte Bestseller der historischen Populärwissenschaft wurden. Und so lichteten sich Jahr um Jahr manche Mythen über die Vergangenheit der Schaltstelle der katholischen Kirche. Alejandro Cifres:

„In den 90er Jahren war die Geschichtsschreibung der Inquisition noch ausgerichtet an der Beschreibung einzelner Prozesse. Warum? Weil die sogenannten Opfer der Inquisition durch die äußere Geschichtsschreibung bekannt waren. Lokale Traditionen. Die Mehrzahl der Historiker kamen also hierher und suchten diesen oder jenen einzelnen Prozess, mit dem er sich schon anhand der äußeren Quellen befasst hatte. Das Bild des Dikasteriums war das eines düsteren, grausamen Tribunals, das mit Gewalt religiöse Dissidenz unterdrückte. Das war der Mythos, die schwarze Legende. Und auch wenn es stimmt, dass die Inquisition ein Tribunal war, gab es im ersten Moment folgende Überraschung: Man entdeckte, dass die Inquisition über den Gerichtshof hinaus in erster Linie ein Ort des Studiums war, der Debatte, der Unterscheidung. Ein Ort, an dem, das ja, gelegentlich auch Prozesse stattfanden, im Lauf der Jahrhunderte weniger häufig und mit einem fortschreitend aufklärerischen Geist. Und besonders zeigte sich, dass das Archiv reich ist an Debatten, an theologischen, sakramentalen, disziplinaren und anderen Debatten.“

Die Urteile: Viele Bußakte, aber auch einige Todesstrafen

Auch was die Art der Prozessführung durch die Inquisition betrifft, war das Bild, das sich aus dem Aktenstudium ergab, ein weit differenzierteres als zuvor angenommen.

„Die Kontrolle mutmaßlicher Häresien wurde mit Ernsthaftigkeit vorgenommen, mit Sinn für Gerechtigkeit und Gleichheit. Man gab den Beschuldigten die Möglichkeit, sich zu verteidigen. Was ebenfalls klar aus den Dokumenten aufscheint, ist, dass es viele Freisprüche gab und die Strafen, wenn sie ausgesprochen wurden, meist in Bußakten oder Gebeten bestanden. Das war weitaus häufiger als Haftstrafen oder gar die Todesstrafe, die freilich in einigen wenigen Fällen verhängt wurde.“

Was weniger bekannt ist: die Heilige Römische Inquisition war unter anderem auch zuständig für das Leben der Juden; die Päpste waren ja über viele Jahrhunderte hinweg bis 1870 nicht nur geistliche, sondern zugleich weltliche Herrscher.

„Die Juden waren als Nichtgetaufte eigentlich gar nicht der Glaubenskongregation zugeordnet, doch die päpstlichen Gesetze, die das Leben der Juden regelten, waren dem Heiligen Offizium vom Papst anvertraut. Wir haben einen schönen Bestand über die Juden, das Leben der Juden, die Art der Kleidung, der Bau von Synagogen, das Marktwesen, die Heiratsverträge, viele Aspekte des jüdischen Lebens waren direkt vom Heiligen Offizium geregelt. Nicht notwendigerweise in einem polemischen Kontext, sondern oft im Sinn einer Zusammenarbeit und Hilfe.“

„Glaubenskongregation“ heißt die frühere Inquisitionsbehörde seit den Reformen unter Paul VI. Die Bestände des Archivs sind ebenso wie jene des Geheimarchivs geöffnet bis zum Pontifikat von Pius XI., also bis 1939, denn alle Archive des Heiligen Stuhles folgen derselben Öffnungspolitik. Ein vatikaninternes Archiv-Reglement gibt es erst seit 2005. Eigene Archive haben unter anderem auch die Vatikan-Bibliothek, die Missions- und die Ostkirchenkongregation sowie die Apostolische Pönitentiarie, der Gnadengerichtshof des Heiligen Stuhles.

(rv 10.07.2016 gs)








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