2016-06-27 12:39:00

D: Die meisten Missbrauchsopfer in der Kirche sind Jungen


Eine neue Studie zeigt, dass der Anteil männlicher Missbrauchsopfer in der katholischen Kirche deutlich höher ist als in anderen Institutionen. Bei den untersuchten Fällen von sexuellem Missbrauch durch Priester, Ordensleute und andere Mitarbeiter der katholischen Kirche waren etwa vier von fünf Opfern (78,6 Prozent) männlich. Bei anderen Institutionen war nicht einmal jedes zweite Opfer männlich (45,1 Prozent). Die Untersuchung ist Teil des Forschungsprojekts der Deutschen Bischofskonferenz zum sexuellen Missbrauch durch Geistliche und wurde am Montag in Berlin vorgestellt. Die Täter sind danach in erster Linie Gemeindepfarrer und andere Priester (über 80 Prozent). Laut Analyse weisen knapp 30 Prozent der Täter eine emotionale oder sexuelle Unreife auf, 21 Prozent der Täter sind von einer Persönlichkeitsstörung betroffen, für 17,7 Prozent der Täter wurden Merkmale von Pädophilie angegeben. Alkoholabhängig seien 13,1 Prozent der Täter.

Bei der Mehrheit der Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche handelt es sich laut Studie um geplante Handlungen (52,2 Prozent). Auf häufigsten ereigneten sich Übergriffe demnach in der Wohnung des Täters (24,2 Prozent), am zweithäufigsten in einer Schule (12,8 Prozent), gefolgt von öffentlichen Plätzen (10,4 Prozent) und von Übergriffen vor oder nach dem Gottesdienst (9,3 Prozent) in der Kirche oder in angrenzenden Räumen.

Die Studie wertet bereits  veröffentlichte Untersuchungen aus verschiedenen Ländern aus. Neben Deutschland gehören dazu mehrere westeuropäische Länder sowie unter anderem die USA, Kanada und Australien. Insgesamt zogen die Forscher für die Metaanalyse nach eigenen Angaben 40 Studien über die katholische Kirche und 13 über andere Einrichtungen heran. Das gesamte Forschungsprojekt, das aus sechs Teilprojekten besteht und im vergangenen Jahr begonnen wurde, soll Ende 2017 abgeschlossen sein.

Insgesamt haben die Wissenschaftler in den Studien 14.588 Taten untersucht. In 82,9 Prozent der Fälle gab es einen direkten Körperkontakt zwischen Opfer und Täter. Die Opfer litten nach der Tat überwiegend an psychischen Folgen wie Angststörungen oder Depressionen (64,2 Prozent), gefolgt von verhaltensrelevanten Folgen wie einem sozialen Rückzug (23,2 Prozent) und körperlichen Folgen wie Schlafstörungen oder Kopfschmerzen (12,6 Prozent).

Centre for Child Protection

Mit der Psychologie von Missbrauchs-Tätern und -Opfern beschäftigt sich das Centre for Child Protection an der Päpstlichen Universität Gregoriana. Es wurde 2012 im Zug der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in der Kirche namentlich in den USA und in Deutschland gegründet. Am Kinderschutzzentrum CCP forscht und lehrt die deutsche Psychologin Katharina Fuchs. Sie sagte im Gespräch mit Radio Vatikan, den Missbrauchstäter schlechthin gebe es nicht. Die Gründe, warum eine Person Kinder oder Jugendliche missbraucht, seien sehr vielfältig. „Es gibt Täter, die wurden selbst als Kinder oder Jugendliche missbraucht, haben also selbst Missbrauchserfahrung erlebt und missbrauchen deshalb", sagt Fuchs. „Es gibt welche mit antisozialen oder narzisstischen Persönlichkeitszügen und –Störungen. Es gibt Missbrauchstäter, die tatsächlich unter einer Paraphilie leiden, zum Beispiel Pädophilie, das heißt, sie fühlen sich hauptsächlich zu Kindern bis 12, 13 Jahren hingezogen, oder sogenannte Ephebophilie, die sich zu Jugendlichen etwa ab 13 Jahren hingezogen fühlen. Es gibt Missbrauchstäter, die unter starken neuropsychologischen Schädigungen im Gehirn leiden und dadurch stark beeinträchtigt sind.“

Die Vielfalt dessen, was Missbrauchstäter antreibt, ist eine große Herausforderung in der Prävention, in der Interventionsarbeit und später auch in der Therapie, erklärt Fuchs und nennt ein weiteres Merkmal, das Täter gemeinsam haben: „Was wir häufig finden, ist ein Mangel an Empathie, und darüber hinaus kognitive Verzerrungen. Das heißt, Missbrauchstäter sind oft der Meinung, ich tue dem Kind nichts Böses, es ist lediglich Erziehung, ich zeige ihm nur, was Erwachsene machen, ich führe sie nur langsam an die Sexualität heran. Oder wenn wir im Kontext der Kirche sind: ich tue es im Namen Gottes, ich als Priester kann nichts Schlechtes tun, also diese Art von Gedankenverzerrung finden wir bei den Tätern sehr häufig. Wir können sagen, dass die meisten Täter derartige kognitive Verzerrungen haben und deshalb selbst nicht merken, was sie ihren Opfern und auch der Gesellschaft damit antun.“

Nicht alle Missbrauchstäter sind irgendwann dazu in der Lage, sich ihre Schuld bewusst zu machen, erklärt Fuchs. Deshalb sei in jedem Fall die Sensibilisierungsarbeit auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene voranzutreiben. Nur in einem Umfeld, das Anzeichen von Missbrauch erkennt, kann dem Missbrauch wirksam vorgebeugt werden.

Was dagegen die Psychologie des möglichen Missbrauchsopfers betrifft, eine allfällige Prädisposition von Kindern, irgendwann vielleicht Opfer zu werden, weist Fuchs zunächst darauf hin, dass in diesem Punkt verschiedene Altersgruppen und auch das Geschlecht eine Rolle spielen. „So sind zum Beispiel Jungen im Alter unter 12,13 Jahren gefährdet, Mädchen häufiger im pubertären Alter. Wir wissen auch, dass die Familie eine sehr große Rolle spielt, also ob ein Kind in einem behüteten Elternhaus aufwächst, ob es mit Eltern oder Geschwistern reden kann, wenn Probleme auftreten, ob ein Kind ein gewisses Selbstvertrauen hat, ob es einen guten Freundeskreis hat, eingeschlossen ist in eine Peergroup von Gleichaltrigen, in der Schule gute Noten hat oder in Sport oder Musik Erfolg hat – alles, was das Selbstvertrauen eines Kindes stärkt, wirkt wiederum als Schutzfaktor. Sind diese Faktoren nicht vorhanden, oder ist auch die Beziehung zum Elternhaus schlecht, sei es dass im Elternhaus geschlagen wird oder dort Kriminalität vorherrscht, dass eine Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen vorliegt, dann sind das immer Risikofaktoren für ein Kind, ebenso wie in der Gesellschaft auch eine hohe Toleranz gegenüber Kriminalität oder Missbrauch jeglicher Art von Minderjährigen und Kindern.“

(kna/rv 27.06.2016 gs)

 








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