2016-06-19 08:00:00

Papst: „Ohne Glaubenszweifel fehlt etwas“


Glaubenskrisen können ein Weg sein, der neue Möglichkeiten des Vorwärtsgehens eröffnet. Das sagte Papst Franziskus an diesem Samstagabend bei einem Besuch in der wohltätigen Stiftung Villa Nazareth in Rom. Auch er selbst sei von solchen Krisen keineswegs ausgenommen. In freiem Austausch mit Bewohnern, Förderern und Mitarbeitern der Einrichtung behandelte Franziskus zahlreiche ihm am Herzen liegende Themen, von Glaubens-, Lebens- und Liebesfragen über wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit. Und er würdigte die Arbeit der Gemeinschaft, die im Jahr 1980 in ihrer heutigen Form gegründet wurde und die Studierende aus bedürftigen Familien fördert.

Es begann mit dem barmherzigen Samariter: Über dieses Evangelium meditierte Franziskus zunächst in der Kapelle der Gemeinschaft zusammen mit den Studierenden. Er ermutigte sie, sich den barmherzigen Samariter zum Beispiel zu nehmen und ihr Zeugnis für Christus in der Welt zu säen. Dabei äußerte er, seiner Meinung nach sei wohl vor allem der ungenannte Herbergsvater im Gleichnis vom Zeugnis des Samariters angerührt worden.

„Hierhin kommt man nicht, um Karriere zu machen oder Geld zu verdienen – nein. Sondern um den Spuren Jesu zu folgen und Zeugnis für ihn zu geben: Zeugnis auszusäen. Im Schweigen, ohne Erklärungen, mit Gesten – die Sprache der Gesten wiederentdecken. Bestimmt ist dieser Herbergsvater jetzt im Himmel, bestimmt – denn dieser Same ist bestimmt gewachsen und hat seine Frucht gebracht. Er hatte etwas erlebt, womit er im Leben niemals gerechnet hätte. Das ist Zeugnis. Das Zeugnis geht vorüber, nicht wahr? Du lässt es zurück und gehst weiter. Nur der Herr hütet es, lässt es wachsen, wie einen Samen: Während der Chef schläft, wächst die Pflanze…”

Und dann, im Hof des Gebäudekomplexes, sieben Fragen an Franziskus, die er in freier Rede beantwortete.

Nicht das Leben „parken“

Man müsse auch einmal etwas riskieren, so der Papst auf die erste Frage nach glaubwürdigen Vorbildern in der Gesellschaft. „Geh nah ran an die Probleme, geh aus dir selbst heraus und riskier es: Riskier es. Sonst wird dein Leben allmählich ein gelähmtes Leben: glücklich, zufrieden, mit der Familie, aber geparkt. Es ist sehr traurig, geparkte Leben zu sehen; Menschen, die wie Mumien im Museum wirken. Riskier etwas! Und wenn du einen Fehler machst – gelobt sei der Herr.“

Das Martyrium des täglichen Lebens und die Glaubenszweifel

Auch das Schicksal der Christen, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden, war Gegenstand der Betrachtungen. Diese Christen seien wahre Glaubenszeugen, würdigte Papst Franziskus ihre Standfestigkeit. Besonders gedachte er der koptischen Gastarbeiter in Libyen, denen Kämpfer des „Islamischen Staats“ an einem Strand die Kehle durchgeschnitten haben. Sie seien vielleicht Analphabeten gewesen, so der Papst. Doch in ihrer Glaubensfestigkeit hätten sie doch als wahre Gelehrte des Glaubens erwiesen. Doch das Martyrium sei nicht nur das des Blutzolls, sondern es gebe auch das Martyrium des täglichen Lebens, das „Martyrium der Wahrheit in dieser Welt, die das Paradies der Bestechung ist“. Es fehle an dem Mut, den Korrupten ihr schmutziges Geld ins Gesicht zu werfen.

Franziskus gestand ein, dass auch ihm Glaubenskrisen keineswegs fremd seien. „Oft bin ich in einer Krise mit dem Glauben, und manchmal habe ich Jesus auch schon vorgeworfen: Warum lässt du denn das zu? Oder ich zweifle: Aber ist das auch wirklich wahr? ... Und so ging mir das als Jugendlicher, als Seminarist, als Priester, als Ordensmann, als Bischof und auch als Papst. Warum ist die Welt so, wo du doch dein Leben hingegeben hast? Oder ist das alles eine Illusion, ein Alibi, um uns zufriedenzustellen? – Einem Christen, dessen Glauben nicht auch mal in eine Krise gerät, fehlt etwas... Man hat mir gesagt, dass das Wort Krise im Chinesischen aus zwei Zeichen gebildet wird, dem Zeichen für Risiko und dem Zeichen für Chance. Und so ist das ja – jede Krise besteht aus Risiko und Chance. Das habe ich gelernt: Der Christ darf keine Angst haben, in eine Krise zu geraten. Sie ist ein Zeichen dafür, dass er vorwärtskommt und noch nicht am Ufer Anker geworfen hat. Dass er ins Offene hinausgefahren ist und vorwärtskommt!“

Die Liebe Gottes ist uneigennützig und kostenlos

Die Liebe Gottes sei nicht käuflich, so der Papst auf eine weitere Frage. Der Herr lasse sich nicht auf einen Handel ein, seine Barmherzigkeit sei grenzenlos und vor allem kostenlos. Seine einzige Forderung sei es, das, was man kostenlos erhalten habe, auch kostenlos weiterzugeben.

Wir sind Sklaven einer Wirtschaft, die tötet

Es sei ein Skandal, so der Papst auf eine Frage nach der Armut, die immer mehr um sich greife, dass der Tod eines Obdachlosen keinerlei Erwähnung in den Medien finde. Doch ein leichtes Schwanken des Börsenstandes könne internationale Aufmerksamkeit auslösen. „Wir sind“, wiederholte er ein des öfteren von ihm gebrauchtes Bild, „Sklaven eines wirtschaftlichen Systems, das tötet“. Der Krieg sei das Geschäft, das in diesem Moment am besten von allem funktioniere, bedauerte der Papst. Es sei die Ungerechtigkeit dieses Systems, das zu neuer Armut führe.

„Wir haben die Werte auf den Kopf gestellt. Die wirtschaftliche Welt, so wie sie heute geregelt ist, ist unmoralisch! Ich treffe hier eine allgemeine Aussage; natürlich gibt es Ausnahmen. Es gibt auch gute Menschen, es gibt Länder, die versuchen, das (System) zu ändern, Institutionen, die dagegen arbeiten. Aber die Atmosphäre in der Welt ist doch die, dass der Mann und die Frau aus dem Zentrum der Wirtschaft herausgenommen worden sind; dort befindet sich stattdessen der Geld-Gott.“

Der Schein macht nicht den guten Christen aus

Er sei nicht glücklich darüber, wenn Gläubige von Priestern abgewiesen würden, weil sie die Voraussetzungen, über die sie beispielsweise für ein Patenamt verfügen müssten, nicht vorweisen könnten, so der Papst. Denn andererseits könne eventuell ein Waffen- und Kinderhändler, der unschuldige und schutzlose Wesen ausnutzt, genau dieses Amt übernehmen – denn er sei ja ein guter Katholik, der seiner Kirche Spenden zukommen lasse. Die Kirche dürfe keinesfalls geschlossene Türen haben. Aufnahmebereitschaft sei ein wichtiges Kriterium für die Kohärenz des Christentums.

Ehe ist mehr als ein soziales Phänomen

Die Ehe dürfe nicht als soziales Phänomen vereinseitigt werden, antwortete der Papst auf das Zeugnis eines Ehepaars. Es sei im Gegenteil vielleicht besser, gar nicht zu heiraten, wenn man sich des Wertes des Sakramentes nicht bewusst sei. Erst am Freitag hatte er mit seiner Bemerkung, heutzutage sei ein Teil der katholischen Ehen vom kanonischen Gesichtspunkt aus nicht gültig, Aufsehen erregt. „Heute“, so der Papst gegenüber der Gemeinschaft von Villa Nazareth, „sind viele von uns nicht frei in dieser hedonistischen Kultur.“ Doch das Sakrament der Ehe könne man nur eingehen, wenn man frei sei: „Sonst erhält man es nicht“.

„Ich habe einen jungen Mann angerufen, den ich kennengelernt hatte, weil seine Mutter mir sagte, dass er heiraten wolle. Ich sage also: Ah, man hat mir gesagt, du heiratest! – Ja, ja... Und machst du das in der Kirche von Ciampino? – Ach, das wissen wir noch nicht, alles hängt noch vom Brautkleid ab, dazu muss ja auch die Kirche passen... – Ah. Und bereitet ihr euch auch gut vor (auf die Hochzeit)? – Ja, natürlich; jetzt suchen wir uns noch ein Restaurant, das nicht zu weit entfernt ist, und lauter so Details... Was für einen Sinn hat so eine Hochzeit? Das ist doch nur noch ein soziales Ereignis. Ich frage mich: Sind diese Verlobten wirklich frei von dieser konsumistischen und hedonistischen Kultur, oder führt das soziale Ereignis dazu, dass ihnen letztlich die Freiheit fehlt? Denn heiraten kann man nur mit Freiheit.“

Vorwärts gehen, alle gemeinsam

Zuletzt wurde der Papst zu einer möglichen neuen Ausrichtung der Gemeinschaft befragt, mit der man den Herausforderungen der modernen Welt neu begegnen könne. Alle gemeinsam und an einem Strang ziehend, antwortete der Papst mit Verweis auf den Apostel Paulus. Besonderes Augenmerk müsse dabei auf die neuen Generationen gelegt werden. Denn niemand, von Gott Vater abgesehen, sei ewig, so der Papst.

Die Idee zur Gründung der Gemeinschaft von Villa Nazareth entspringt einer Initiative von Kardinal Domenico Tardini, der im Jahr 1946 Waisen und Kindern aus armen Familien Obdach und Unterricht bieten wollte. Er wollte ihnen die Möglichkeit geben, ihre Talente zu entfalten, um diese später in den Dienst von Kirche und Gesellschaft zu stellen. Im Jahr 1963 gründete Papst Johannes XXIII. mit einem Motu Proprio die „Stiftung der Heiligen Familie von Nazareth“, genannt Villa Nazareth. Die Gemeinschaft entwickelte sich mit der Zeit zu einem Hort geschwisterlichen Zusammenlebens im christlichen Glauben, der Studierenden und Schülern höherer Jahrgänge offen stand. 1980 entstand schließlich die Gemeinschaft in ihrer heutigen Form eines Kollegs, in dem Studenten und Studentinnen aus Familien mit geringen Einkünften gratis wohnen und an den geistlichen und sozialen Aktivitäten des Kollegs teilhaben können.

(rv 19.06.2016 cs)








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