2016-02-25 11:27:00

D: „Menschen haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben"


Große Ratlosigkeit in Medien und Politik: Wie konnte es zu den Ausschreitungen gegenüber Flüchtlingen kommen? Warum zeigt nun das weltoffene Deutschland ein hässliches Gesicht? Und warum gibt es diese Probleme vor allem und so massiv in Sachsen? Frank Richter, katholischer Theologe und Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen, zieht einen Vergleich zur 1968-er Krise der Demokratie im Westen. Genau eine Generation nach dem großen gesellschaftlichen Umbruch werde nun auch im Osten eine Krise der Demokratie erkennbar.

„Die Vergleiche hinken ja immer, aber ich denke an die 68er in Westdeutschland. In dieser Zeit hat die westdeutsche Gesellschaft auch eine Krise durchgemacht, in der sie die Erfahrung gemacht hat, dass die Demokratie lösungskompetent ist. In Krisen vertiefen sich entweder die Beziehungen oder sie gehen auseinander. Die Beziehung zur Demokratie kann in dieser Krise, die wir jetzt hier im Osten erleben, hoffentlich vertieft werden, und dann hat die ganze Gesellschaft gewonnen. Das ist ein mir wichtiger Gedanke, der ja auch mit Optimismus verbunden ist.“

Es gebe jedoch bereits jetzt auch in Sachsen viele gelungene Beispiele von Integration und Unterbringung von Flüchtlingen. Die Landeszentrale selbst sei stark engagiert bei Dialogprojekten, die die Bürgermeister kommunikativ unterstützt, der Bevölkerung die Maßnahmen zu erklären. Wichtig sei vor allem, dass die Politik offen kommuniziere, so Richter. Denn es habe keinen Zweck, dass die Politik die Probleme, die mit dem Thema Flüchtlinge zusammen hängen, bagatellisiere oder verdränge.

 

Flüchtlingskrise in Sachsen: „Ein Crashkurs in Demokratie"

„Menschen sind nie nur Probleme,“ fügt Richter an. „Aber die vielen Flüchtlinge, die in unser Land kommen, schaffen eben auch Probleme. Die einheimische Bevölkerung hat es verdient, dass diese auch offen angesprochen werden. Das Zweite scheint mir sehr wichtig zu sein, dass der Rechtsstaat in allen seinen Formen und Funktionen, von der Polizei bis zur Justiz, stark sein muss. Das heißt, er muss zeigen, dass er für die Sicherheit der Menschen sorgen kann – und zwar sowohl der Flüchtlinge als auch der einheimischen Bevölkerung. Das Dritte ist, dass die Bürgerschaft in Sachsen gerade so etwas wie einen Crashkurs in Demokratie durchmacht. Die Demokratie hat hier noch keine tiefen Wurzeln geschlagen, und meine Wahrnehmung ist, dass viele Menschen jetzt gerade entdecken, dass sie auch Bürger sind, also Menschen, die nicht nur das Eigene im Blick haben, sondern auch das Allgemeinwohl und sich in diesem Sinn einbringen müssen. Wenn wir diese Lernerfahrung jetzt positiv gestalten, kann die gesamte Gesellschaft gewinnen.“

Mitschuld an der Heftigkeit, mit der die Diskussionen jetzt geführt werden, sei ein den Sachsen sehr eigenes Charakteristikum, ist Richter überzeugt. Denn die Sachsen hätten sich in dieser immer drängenderen Frage der Flüchtlingsunterbringung, die ganz Deutschland vor enorme Herausforderungen stellt, sehr politisiert: „Das haben sie aber immer schon getan, weil sie ein starkes Maß an Selbstbewusstsein haben; das ist allerdings auch verbunden mit Selbstbezogenheit. Das heißt, sie sind selbstbewusst, aber auch etwas selbstbezogen. Wo Licht ist, ist eben immer auch Schatten, und manche Diskussionen, die deutschlandweit geführt werden, werden in Sachsen etwas eher und auch etwas heftiger geführt. Das hat positive Seiten und das hat in der aktuellen Situation auch sehr negative, weil eben auch der Rechtspopulismus und -extremismus auf dieser Welle mitsurfen und diese Probleme besonders heftig nach oben spülen.“

 

Es fehlt die Erfahrung mit anderen Kulturen

Dabei sei nur auf den ersten Blick ein Widerspruch, dass eine der säkularisiertesten Regionen Europas, wenn nicht sogar der ganzen Welt, Muslimen ankreide, eben nicht christlich und damit „fremd“ zu sein. „Sachsen hat nach wie vor eine sehr homogene Bevölkerung, es leben sehr wenige Ausländer hier. Es gibt vergleichsweise wenig Erfahrung mit fremden Kulturen und fremden Religionen. Die Sachsen sind darüber hinaus sehr areligiös, nur 20 Prozent sagen, dass sie sich einer Kirche zugehörig fühlen. Man kann etwas zugespitzt sagen, viele Menschen haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben."

Richter selbst lebte drei Jahre lang in Westdeutschland und sagt, er habe die Gesellschaft dort auch nicht als sehr christlich wahrgenommen, aber als eine „christentümliche".

„Das heißt, viele Menschen, denen der Glaube nichts Existentielles bedeutete, wussten gleichwohl wie ungefähr Religion geht. Die können dann natürlich auch viel besser mit der robusten Religiosität umgehen, die die Muslime in unser Land bringen. Das ist hier im Osten anders, da hat man keine Erfahrungen. Und wenn man keine Erfahrungen hat, können sich Ängste aufbauen. Diese Ängste werden natürlich dann von Rechtsextremisten ausgenutzt, so dass man vielleicht sogar sagen kann, schlechte Erfahrungen sind besser als gar keine Erfahrungen. Deswegen bin ich auch an dieser Stelle optimistisch und schaue auf die Zeit, wenn die Menschen im Osten mit Muslimen Erfahrungen gemacht haben werden und wenn sie konkrete Alltagsgeschichten mit den Flüchtlingen gemacht haben.“

 

(rv 25.02.2016 cs)








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