2016-02-09 08:00:00

Der Petersdom, historisch: Ablassverkauf war „Crowdfunding"


Es war für 120 Jahre die größte Baustelle der Welt, als seinerzeit der Petersdom neu errichtet wurde. 1506 ließ Papst Julius II. den Grundstein legen. Was in den kommenden Jahrzehnten an Geld hereinkam und hinausging, wer wofür Verantwortung trug, wie viele Tausend Künstler und Handwerker was genau machten, und wie Querelen, die nicht selten auftauchten, beigelegt wurden: das alles und mehr ist dokumentiert im Archiv der Bauhütte von Sankt Peter. Gudrun Sailer war dort.

Nein, dies ist kein Gang zu irgendeinem vatikanischen Bürogebäude. Kein Abstieg in einen Papierbunker, sondern eine Auffahrt in die verzweigten Höhen des Petersdoms. Simona Turriziani, Leiterin des Archivs der Bauhütte, öffnet uns die feuerfeste Eisentür zu ihrem Reich. Ein enger hoher Gang führt in ein Achteck aus elegantem Backstein, hoch darüber wölbt sich eine Kuppel. Auf dem 400 Jahre alten Ziegelboden ruht ein massiver frühchristlicher Marmorsarkophag, er zeigt die Kopfüber-Kreuzigung des Petrus. Und dann: die Dokumentenschränke.

 „Wenn ich alle Aktenbündel aneinanderreihe, sind es zwei Kilometer“, erklärt Simona Turriziani, „gar nicht so viele. Das Besondere des Archivs ist, dass es heute noch im Petersdom selbst sitzt, dessen Geschichte es erzählt.“

Das Achteck, in dem wir stehen, war einst der Arbeitsraum des Meisterarchitekten Gian Lorenzo Bernini. Von hier aus öffnen sich Gänge in alle Himmelsrichtungen, Glasschrank nach Glasschrank, darin säuberlich aufgereiht uralte Dokumentenbündel. Was steht darin? Weit mehr als abgeheftete Rechnungen, erklärt die Archivarin Assunta di Sante.

„Die Bauhütte von Sankt Peter war eine Kongregation mit einem eigenen Gericht. Deshalb sind die meisten unserer Dokumente - anders als man denken könnte - juristische Dokumente. Daneben haben wir die Verwaltungsdokumente, die mehr die Baustelle betreffen.“
 

Der Petersdom und das liebe Geld: Ablassverkauf war "Crowdfunding"

Gerade die juristischen Dokumente haben es kirchenpolitisch in sich. Denn dabei geht es auch um Geld – viel Geld. Um den gigantischen Neubau des Petersdoms zu finanzieren, statteten die Päpste ihre Bauhütte mit einer Reihe von Privilegien aus, besonders im 16. Jahrhundert. Eines dieser Privilegien war es, in der katholischen Welt auf testamentarische Nachlässe zugreifen zu können, die frommen Werken zufließen sollten.

„Das heißt, die Bauhütte entsandte in die kirchlichen Provinzen eigene Kommissäre, mit Notaren, um diese Rechte wahrzunehmen. Wir können uns da also in den Kirchenprovinzen viele Gerichte vorstellen. Die gesamte Dokumentation, die so in den Peripherien entstand, kam hier in der Bauhütte zusammen.“

Und begeistert bis heute Historiker, die die weitverzweigte Geschichte Europas erforschen. Einer von ihnen ist Gaetano Sabatini, häufiger Gast im Bauhütten-Archiv von Sankt Peter.

 „Ein Bauvorhaben dieser Dimension erforderte ein finanzielles Netz, das sich letztlich von Indien bis Amerika ausdehnte und ganz Europa umfasste. Das Petersdom-Archiv spiegelt die außergewöhnliche Fähigkeit, Ressourcen zu mobilisieren, die Gläubige aus der ganzen Welt nach Rom schickten.“

Reizwort Ablass: der Handel mit dem kirchlich vermittelten Verzeihen Gottes rief schon dazumals Protest hervor und war einer der Auslöser für die Kirchenspaltung der Reformation. Heute sehen Historiker die Sache differenzierter. Der Verkauf von Ablässen war Gaetano Sabatini zufolge eine Art „Crowdfunding“.

„Im Lauf des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit war der Verkauf von Ablässen oft eher symbolisch als materiell – die Form, in der die Gläubigen der Christenheit zu Großprojekten beisteuerten. Heute würden wir von Crowdfunding sprechen. Es kommt überall dort zum Tragen, wo man das Interesse einer Gemeinschaft wecken möchte für ein bestimmtes Vorhaben, für dessen Realisierung die Mittel fehlen: Jeder trägt sein Scherflein bei. Der Verkauf von Ablässen war also traditionell die Art, wie gläubige Christen überall auf der Welt sich als Teilhaber fühlen konnten am Bau des Petersdoms, der das Symbol der Christenheit war. Der symbolische Wert war eher gegeben als der materielle, so wurde das in der Sensibilität der Zeit wahrgenommen.“

En gros oder en detail: Jedes dieser Scherflein zwischen Amerika und Indien ist verzeichnet in den Glasschränken der Bauhütte von Sankt Peter. Überhaupt beobachten die Archivarinnen eine Verlagerung der Forschungsinteressen unter den rund 200 Gelehrten, die jährlich zu ihnen kommen. Bis vor zehn Jahren waren es überwiegend Kunsthistoriker, heute interessieren sich die Forscher eher für die wirtschaftlichen Themenfelder. Unter Carlo Maderno etwa, der die Fassade des Petersdoms errichtete, waren nicht weniger als 1000 Arbeiter in der Bauhütte beschäftigt. Halb Rom baute mit am Petersdom, die Stadt lebte von dieser Baustelle, und die Arbeiter fanden gute Bedingungen vor.

 

Formidable Arbeitsbedingungen für Arbeiter und Handwerker

„Für die Bauhütte von Sankt Peter zu arbeiten bedeutete, ein fixes Gehalt zu haben und die Garantie langfristiger Beschäftigung. Wir haben damals wie übrigens auch heute Arbeiter, die ihre ganze Berufslaufbahn hier verbringen, 40 oder 50 Jahre. Es gab eine Arbeitsgarantie und sogar eine Garantie für die Kinder: Wenn eines heiratete, machte die Bauhütte einen Zuschuss locker. Fiel ein Arbeiter in Ungnade, glich die Bauhütte das mit einer Unterstützung aus. Hier zu arbeiten bedeutete, wichtige Sicherheiten zu haben.“

Inklusive Krankenvorsorge, fügt Simona Turriziani hinzu.

„Wenn der Arbeiter eine Woche ausfiel, erhielt er trotzdem eine Zuwendung. Nicht nur das: es gab auch einen Schichtdienst. Kurz, die Würde des Menschen als Arbeitskraft wurde anerkannt. Die Bauhütte war da ziemlich avantgardistisch, sie nahm Ideen vorweg, die erst in der Aufklärung zur Blüte kamen.“

Dementsprechend begehrt waren die Vatikan-Posten bei den Zeitgenossen. Nicht nur für Arbeiter und Handwerker. Assunta di Sante greift zur Archivleiter und zieht vorsichtig einen der cremefarben eingeschlagenen Bände hervor.

„Illustre Künstler, die sicher nicht auf Geld angewiesen waren, schrieben Bittgesuche, um hier mitarbeiten zu können. Maler, die nicht irgendein bestimmtes Bild übernehmen wollten, sondern einfach irgendetwas. Denn im Petersdom ein Werk zu hinterlassen, bedeutete in der Sicht der Zeit, es nicht bloß in der größten Kirche der Christenheit zu hinterlassen, sondern im größten künstlerischen Monument der Welt.“

Orazio Gentileschi etwa schickte ein solches Bittgesuch 1619. Die Kongregation der Bauhütte behandelte die Frage am 24. Juli und vermerkte auf dem Gesuch: „Wenn es nötig ist, sprechen wir darüber. Und dann hat er tatsächlich hier einen Auftrag erhalten.“
 

Auch Frauen bauten mit am Petersdom

Orazio Gentileschi hatte eine Tochter, Artemisia Gentileschi, die als erste Malerin Italiens gilt. Sie hat kein Werk zur Ausschmückung des Petersdoms beigesteuert. Doch kamen, überraschend genug, zwei bis drei Dutzend anderer Frauen zum Zug. Simona Turriziani über dieses wenig bekannte Detail der Baugeschichte des Petersdoms:

„Wie lief das üblicherweise? Wenn ein Arbeiter auf der Baustelle einen Unfall hatte oder gar starb, dann gab es für die Ehefrau und die Familie entweder eine finanzielle Zuwendung, oder die Frauen wurden direkt dazu gerufen, an die Stelle ihrer Männer nachzurücken. Wir finden also Glaserinnen, Mosaiklegerinnen, Dekorateurinnen, Frauen, die Puzzolanerde lieferten und andere, die als Fuhrmänner arbeiteten. Ein weiblicher Aspekt, eine ganz verborgene Welt in unseren Dokumenten. Unsere damalige Chefarchivistin Schwester Teresa Todaro hat dieses Thema in Grundzügen erforscht, der Rest ist noch zu heben.“

Das Archiv der Bauhütte von Sankt Peter wurde zusammen mit dem vatikanischen Geheimarchiv bereits im Jahr 1880 für die Forschung geöffnet. Soeben haben Gaetano Sabatini und Simona Turriziani einen Sammelband mit Beiträgen vorgelegt, die die Bestände des Petersdom-Archivs als Quelle für die Geschichtsschreibung der Stadt Rom nutzen. (L´Archivio della Fabbrica di san Pietro come fonte per la storia di Roma, Palombi, 2015). Denn eines zeigen die an diesem herausragenden Ort verwahrten Dokumente auf jeder Seite: Heute wie damals ragt der Petersdom, die bedeutendste Kirche der Christenheit, in die Welt hinaus - und ist zugleich eine lokale Größe.

 

(rv 30.01.2016 gs)








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