2016-01-31 10:00:00

Polen: Das Hoffen auf demokratische Selbstheilungskräfte


Prof. Dr. Dieter Bingen leitet seit 1999 das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt. Er ist ein profunder Kenner der polnischen Kultur und Geschichte und beobachtet die aktuellen Entwicklungen im Land mit großer Aufmerksamkeit. Wir haben ihn nach einer Einschätzung der Situation gefragt.

 

RV: Wie schätzen Sie denn die Gesetzesänderungen ein, die die neue Regierung in Bezug auf das Verfassungsgericht aber auch in Bezug auf die Mediengesetzgebung veranlasst hat?

Bingen: „Diese ganze Reihe von Gesetzesänderungen, die auch darüber hinaus die Staatsanwaltschaft und den öffentlichen Dienst betreffen, stellen die bisherige Praxis der horizontalen Gewaltenteilung schon in Frage. Das heißt, die Unabhängigkeit und die Kontrollfunktion des Verfassungsgerichts sind aufgrund der Beschreibung des Prozedere, wie das Tribunal in Zukunft agieren soll, weitgehend lahm gelegt. In den neuen Gesetzen kommt ein starkes Bedürfnis der Partei PiS zu Tage, die polnische Politik und Gesellschaft stark zu kontrollieren und in der Praxis die Vielfalt auch in Frage zu stellen. Dies erklärt sich aus einem gewissen Bedürfnis heraus, zu einer Objektivierung des politischen Lebens beizutragen, de facto aber die Spaltung in der Gesellschaft verschärft.“

RV: Nun sind diese Entwicklungen ja gerade für uns westliche Beobachter relativ Besorgnis erregend, was sich auch in dem Verfahren ausdrückt, das die EU gerade gegen Polen eingeleitet hat. Doch in der polnischen Gesellschaft scheint die PiS ja nach wie vor starken Rückhalt zu haben, wie neueste Umfragen nahe legen. Wie lässt sich das denn erklären?

Bingen: „Es gibt diese Akzeptanz, das ist richtig, und es gibt auch eine Entwicklung in die konservative Richtung in Polen, auch in der jungen Generation, aber dies ist wahrscheinlich nicht gleichzusetzen mit der Akzeptanz dessen, was im Augenblick im gesamten Verfassungs- und Rechtssystem passiert, auch in Richtung Medien, in Richtung Gerichte, in Richtung öffentlichen Dienst, sicher auch im Bereich der Kulturpolitik. Wir sind in einem Prozess, in dem es auch noch zu einer weiteren Auseinandersetzung kommen wird. Die Opposition erscheint momentan allerdings sehr gelähmt, die alte Regierungspartei PO ist ausgelaugt, müde und demoralisiert, und die neue Opposition ist, was ihre Stabilität anbelangt, auch noch nicht geprüft.“

RV: Ja, die Proteste, so scheint es, haben sich momentan auch mehr auf den außerparlamentarischen Weg, also wirklich auf die Straße, verlagert. Wie sind denn diese Demonstrationen, die man in Polen so schon lange nicht mehr gesehen hat, zu bewerten?

Bingen: „Diese Proteste sind, und das ist das Erstaunliche daran, vor allem auch von der mittleren und älteren Generation getragen. Was man gerade vermisst bei diesen Demonstrationen, die in den letzten Wochen in den großen und mittleren polnischen Städten stattgefunden haben, ist die jüngere Generation. Das ist eine Generation, die durch diese Art von Protest wohl im Augenblick nicht so angesprochen wird, Es sind vor allem die sensibilisierten Menschen quer durch das Parteienspektrum, die durch diese Infragestellung der Errungenschaften, die man sich in den letzten 25 Jahren erkämpft hat, beunruhigt sind. Die junge Generation ist da momentan zurück haltend, und ich kann noch nicht einschätzen, wie die Jugend sich angesichts dieser Angriffe auf die bisherigen Strukturen der Gewaltenteilung reagieren wird. Das ist ein Phänomen, das feststellbar ist und auch eine gewisse Ratlosigkeit bei den Verantwortlichen der Proteste der letzten Wochen hervorgerufen hat.“

RV: Kann man in diesem Zusammenhang denn von einem gewissen Fehlen von politischer Bildung bei den jungen Generationen sprechen?

Bingen: „Die demokratische politische Kultur ist in den letzten 25 Jahren für die ganz Jungen nicht entsprechend forciert worden, so dass die jungen Leute heutzutage ganz selbstverständlich in der Demokratie leben. Man kritisiert vor allem das, was nicht funktioniert, und wählt auch gerne Anti-System-Parteien, als welche die PiS sich auch geriert hat. Die Proteste sind im Moment auch noch nicht als allzu gefährlich für die PiS zu bewerten, und damit rechnet sie ja auch, dass die „Grausamkeiten,“ die ja vor allem in den späten Abendstunden im Parlament begangen werden, rasch vergessen sind und durch die sozialen Wohltaten wie Kindergeld, Absenkung des Rentenalters und anderes diese politischen Fragen in den Hintergrund rücken.“ 

RV: Die PiS hofft also, dass diese Änderungen, die ja doch sehr radikal in die bestehenden Institutionen eingreifen, ein wenig in Vergessenheit geraten und in der öffentlichen Wahrnehmung auch nicht groß kommentiert werden. Dem wird durch den Umbau der Medienlandschaft wohl auch ein wenig Vorschub geleistet. Doch die Europäische Union hat ja ihrerseits ein Auge auf die Entwicklungen in Polen, und dort wird das alles sicherlich nicht in Vergessenheit geraten. Wie ist dieser Überprüfungsprozess der EU nun zu bewerten?

Bingen: „Ich nehme an, dass diese Reaktion der Europäischen Union und auch der baldige Besuch der Venedig-Kommission in Warschau eher als politische Symbolik wahrgenommen wird, als dass sich da konkret auf polnischer Seite in der Politik etwas bewegen wird. Das auch aufgrund der Erwartung, dass es  in der Europäischen Union keine Einstimmigkeit bezüglich Sanktionen geben wird, weil die 27 anderen Staaten in der Union doch recht unterschiedliche Interessen haben und möglicherweise aus ihren eigenen nationalen Interessen heraus keine Bereitschaft haben, die „Einmischung innere Angelegenheiten Polens“ zuzulassen, weil man das im eigenen Fall auch nicht so gerne sehen würde. Das Entscheidende wird die Reaktion der Gesellschaft in Polen sein. Die Polen sind ein Freiheitsliebendes Volk, das auch die Fragen, die in den vergangenen Wochen im Vordergrund standen, also die Verfassungskonstruktion, die Freiheiten und die Gewaltenteilung auf Dauer auch wieder stärker in den Blick kommen werden und bei aller Kritik an den Äußerungen aus Brüssel: die Polen sind bis heute das Volk, das am stärksten für die EU ist. 80 Prozent Zustimmungsrate, davon können alle anderen Gesellschaften und Politiker in der EU nur träumen. Das heißt also, dass es für die Polen keine Alternative zur Europäischen Union gibt. Das ist dann auch hoffentlich die notwendige Korrektur oder Wegweisung für die PiS-Regierung.“

RV: Vielen Dank für diese Einschätzung.

Hören Sie hier eine Langfassung des Gesprächs

(rv 31.01.2016 cs)








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