2015-09-27 17:15:00

Papstrede vor Häftlingen in Philadelphia


Lesen Sie hier die Ansprache von Papst Franziskus bei seinem Besuch von Häftlingen in der Curran-Fromhold-Haftanstalt in Philadelphia am  27. September 2015:

 

Liebe Brüder und Schwestern,

 

danke, dass ihr mich empfangt und mir die Gelegenheit gebt, hier bei euch zu sein und diesen Moment eures Lebens mit euch zu teilen. Es ist ein schwieriger, spannungsgeladener Augenblick. Ein Augenblick, der – wie ich weiß – nicht nur für euch, sondern auch für eure Familien und für die ganze Gesellschaft schmerzlich ist. Denn eine Gesellschaft, eine Familie, die den Schmerz ihrer Kinder nicht mitzuleiden vermag, die ihn nicht ernst nimmt, sondern sich an ihn gewöhnt und ihn als etwas Normales und zu Erwartendes voraussetzt, ist eine Gesellschaft, die dazu verurteilt ist, eine Gefangene ihrer selbst zu bleiben, eine Gefangene all dessen, was sie leiden lässt. Ich bin als Seelsorger gekommen, vor allem aber als Bruder, um eure Situation zu teilen und mich mit ihr zu identifizieren; ich bin gekommen, damit wir gemeinsam beten und das, was uns schmerzt, wie auch das, was uns ermutigt, vor unseren Gott tragen und von ihm die Kraft der Auferstehung empfangen zu können.

Ich denke an die Erzählung im Evangelium, wo Jesus beim Letzten Abendmahl seinen Jüngern die Füße wäscht. Dieses Verhalten zu verstehen, fiel den Jüngern äußerst schwer, sogar Petrus reagiert mit den Worten: »Niemals sollst du mir die Füße waschen!« (Joh 13,8).

Damals war es üblich, dass man jemandem, wenn er in ein Haus kam, die Füße wusch. Alle wurden immer so empfangen. Es gab keine asphaltierten Straßen, es gab nur staubige Wege mit kleinen Steinchen, die einem in die Sandalen kamen. Alle gingen auf diesen Pfaden, und die Füße wurden völlig mit Staub bedeckt und von den Steinchen verschrammt oder verletzt. Darum sehen wir Jesus die Füße waschen, unsere Füße, die seiner Jünger von gestern und von heute.

Leben bedeutet gehen, leben bedeutet, unterschiedliche Wege, unterschiedliche Pfade zu gehen, die ihre Spuren in unserem Leben hinterlassen.

Aufgrund des Glaubens wissen wir, dass Jesus uns sucht, dass er unsere Wunden heilen und die Blasen an unseren Füßen behandeln möchte, die sich beim Laufen unter der Last der Einsamkeit gebildet haben; wir wissen, dass er uns von dem Staub reinigen möchte, der von den Wegen, die jeder gehen musste, an uns klebt. Er fragt uns nicht, wo wir waren, er fragt uns nicht, was wir getan haben. Im Gegenteil, es sagt uns: »Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir« (Joh 13,8). Wenn ich dir die Füße nicht wasche, kann ich dir nicht das Leben geben, von dem der Vater immer geträumt hat – das Leben, für das er dich erschaffen hat. Jesus kommt uns entgegen, um uns wieder mit der Würde der Kinder Gottes zu bekleiden. Er möchte uns helfen, unsere Wanderung neu auszurichten, unseren Lauf wieder aufzunehmen, unsere Hoffnung wiederzugewinnen und uns den Glauben und die Zuversicht zurückgeben. Er möchte, dass wir wieder aufbrechen, uns dem Leben zuwenden und spüren, dass wir eine Aufgabe haben; spüren dass diese Zeit der Gefangenschaft niemals Ausschließung bedeutete.

Leben bedeutet, „unsere Füße schmutzig zu machen“ auf den staubigen Straßen des Lebens und der Geschichte. Wir alle haben es nötig, gereinigt, gewaschen zu werden. Wir alle werden gesucht von diesem Meister, der uns helfen möchte, den Weg wieder aufzunehmen. Uns alle sucht der Herr, um uns die Hand zu reichen. Es tut weh, Strafsysteme zu sehen, die nicht versuchen, Verletzungen zu behandeln, Wunden zu heilen und neue Chancen zu schaffen. Es ist schmerzlich, wenn man feststellt, dass jemand meint, nur einige bedürften der Wäsche, der Reinigung, und nicht begreift, dass ihre Erschöpfung, ihr Schmerz und ihre Wunden auch die Erschöpfung, der Schmerz und die Wunden einer Gesellschaft sind. Der Herr zeigt es uns deutlich durch eine Geste: Er wäscht uns die Füße, damit wir uns dann zu Tisch setzen können. An einen Tisch, von dem er niemanden ferngehalten sehen möchte. An einen Tisch, der für alle gedeckt ist und an den wir alle eingeladen sind.

Dieser Moment in eurem Leben darf nur ein einziges Ziel haben: euch die Hand zu reichen, um euch wieder auf den Weg zu bringen; euch die Hand zu reichen, die bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft behilflich ist – bei einer Wiedereingliederung, an der wir alle Anteil haben, die anzuspornen, zu begleiten und zu bewerkstelligen wir alle aufgefordert sind. Eine Wiedereingliederung, die von allen – Häftlingen, Familien, Vollzugsbeamten sowie politischen Sozial- und Erziehungsprogrammen – angestrebt und erwünscht ist. Eine Wiedereingliederung, die der Moral der gesamten Gemeinschaft zugutekommt und sie anhebt.

Jesus lädt uns ein, an seinem Los und an seinem Lebensstil teilzuhaben. Er lehrt uns, die Welt mit seinen Augen zu sehen. Mit Augen, die an dem Staub des Weges keinen Anstoß nehmen, sondern im Gegenteil versuchen, ihn abzuwischen, Heilung und Abhilfe zu schenken. Er lädt uns ein zu arbeiten, um eine neue Chance zu schaffen: für die Gefangenen, für ihre Familien, für die Vollzugsbeamten; eine Chance für die ganze Gesellschaft.

Ich möchte euch ermutigen, diese Haltung untereinander zu pflegen, mit allen, die in irgendeiner Weise zu dieser Einrichtung gehören. Schmiedet neue Chancen, seid Wegbereiter, öffnet neue Pfade!

Alle haben wir etwas, von dem wir gereinigt, geläutert werden müssen. Möge dieses Bewusstsein uns aufrütteln zur Solidarität, dazu, einander zu stützen und das Beste für die anderen zu suchen.

Schauen wir auf Jesus, der uns die Füße wäscht. Er ist »der Weg, die Wahrheit und das Leben«. Er kommt, um uns herauszuholen aus der Lüge zu glauben, dass sich nichts ändern kann; er hilft uns, auf Wegen des Lebens und der Fülle zu gehen. Möge die Kraft seiner Liebe und seiner Auferstehung immer ein Weg neuen Lebens sein!

(rv 27.09.2015)








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