2015-09-27 15:30:00

Papstrede vor den Bischöfen, die am Weltfamilientreffen teilnehmen


Papst Franziskus begegnet den am Weltfamilientreffen teilnehmenden Bischöfen

 

(Philadelphia, Seminar „St. Charles Borromeo“, 27. September 2015)

 

Liebe Mitbrüder,

 

ich bin froh, in der gegenwärtigen festlichen und frohen Situation des Weltfamilientreffens die Gelegenheit zu haben, diese Momente pastoraler Reflexion mit euch zu teilen.

Die Familie ist nämlich für die Kirche nicht vor allem ein Grund zur Sorge, sondern die glückliche Bestätigung des Segens Gottes, der auf dem Meisterwerk seiner Schöpfung ruht. Jeden Tag hat die Kirche an allen Orten des Planeten Grund, sich mit dem Herrn über das Geschenk jenes zahlreichen Volkes der Familien zu freuen, die selbst in den härtesten Prüfungen den Verheißungen Ehre machen und den Glauben bewahren!

Und so würde ich sagen, dass der erste pastorale Anlauf, den diese schwierige Übergangsperiode von uns verlangt, ein entschiedener Schritt im Sinne genau dieses Sich-erkenntlich-Zeigens ist. Wertschätzung und Dankbarkeit müssen trotz aller Hindernisse, denen wir gegenüberstehen, den Vorrang haben vor der Klage. Die Familie ist der grundlegende Ort des Bundes der Kirche mit der Schöpfung Gottes. Ohne die Familie würde auch die Kirche nicht existieren: Sie könnte nicht das sein, was sie sein soll, nämlich Zeichen und Werkzeug für die Einheit der Menschheit (vgl. Lumen gentium, 1).

Natürlich darf unser Verständnis [von der Familie], das von der Ergänzung durch die kirchliche Form des Glaubens und die eheliche Erfahrung der Gnade unter dem Segen des Sakramentes geprägt ist, uns nicht die Veränderung des geschichtlichen Rahmens vergessen lassen, die sich auf die soziale – und mittlerweile auch die juristische – Kultur der familiären Bindungen auswirkt und uns alle einbezieht, unabhängig davon, ob wir gläubig oder nicht gläubig sind. Der Christ ist nicht „immun“ gegenüber den Veränderungen seiner Zeit, und diese konkrete Welt mit ihren vielfältigen Problemkreisen und Möglichkeiten ist der Ort, wo wir leben, glauben und verkünden müssen.

Früher lebten wir in einem sozialen Kontext, in dem die Zusammengehörigkeit der zivilen Trauung und des christlichen Sakramentes stark und allgemein anerkannt war; sie waren miteinander verbunden und unterstützten sich gegenseitig. Heute ist das nicht mehr so. Um die aktuelle Situation zu beschreiben, möchte ich zwei für unsere Gesellschaften typische Bilder verwenden. Auf der einen Seite die „Kolonialwarenläden“, die kleinen Einzelhandelsgeschäfte unserer Stadtviertel, und auf der anderen die großen Supermärkte oder Shoppingcenters.

Vor einiger Zeit konnte man in ein und demselben Geschäft alles finden, was für das persönliche Leben und das der Familie notwendig war – sicher ärmlich ausgestellt mit wenig Produkten und daher geringer Auswahl. Es bestand eine persönliche Verbindung zwischen dem Ladenbesitzer und den Kunden aus der Nachbarschaft. Man verkaufte „auf Anschreiben“, das heißt es herrschte Vertrauen, Nachbarschaft, man kannte einander. Einer vertraute dem anderen. Man fasste Mut zu vertrauen. An vielen Orten ist das unter dem Namen „Tante-Emma-Laden“ bekannt.

In diesen letzten Jahrzehnten hat sich ein anderer Typ von Geschäften entwickelt und vergrößert: die Shoppingcenters. Große Flächen mit riesiger Auswahl und zahlreichen Möglichkeiten. Die Welt scheint sich in einen großen Supermarkt verwandelt zu haben, wo die Kultur eine Wettbewerbsdynamik angenommen hat. Man verkauft nicht mehr „auf Anschreiben“, man kann den anderen nicht mehr trauen. Es gibt keine persönliche Verbindung, keine nachbarschaftliche Beziehung. Die gegenwärtige Kultur scheint die Menschen dazu zu bewegen, sich an nichts und niemanden zu binden. Weder vertrauen noch sich anvertrauen. Denn das Wichtigste scheint heute zu sein, dem letzten Trend zu folgen oder zu tun, was „in“ ist. Sogar auf religiöser Ebene. Was wichtig ist, bestimmt heute der Konsum. Beziehungen konsumieren, Freundschaften konsumieren, Religionen konsumieren, konsumieren, konsumieren…Weder der Preis, noch die Folgen spielen dabei eine Rolle. Ein Konsum, der keine Verbindungen erzeugt, ein Konsum, der jenseits der menschlichen Beziehungen steht. Die Verbindungen sind eine bloße „Vermittlung“ für die Befriedigung „meiner Bedürfnisse“. Das Wichtige ist nicht mehr der Nächste mit seinem Gesicht, seiner Geschichte, seinen Neigungen.

Diese Haltung erzeugt eine Kultur, die alles wegwirft, was den Neigungen des Konsumenten „nicht mehr dient“ oder sie nicht „befriedigt“. Wir haben aus unserer Gesellschaft ein weit ausgedehntes multikulturelles Schaufenster gemacht, das sich nur an den Neigungen einiger „Konsumenten“ orientiert, und auf der anderen Seite stehen die vielen, aber wirklich vielen anderen, die nur »von den Brotresten [bekommen], die vom Tisch ihrer Herren fallen« (Mt 15,27).

Das erzeugt eine große Wunde. Ich wage zu sagen, dass eine der hauptsächlichen Formen der Armut oder eine der hauptsächlichen Wurzeln so vieler heutiger Situationen in der radikalen Einsamkeit liegt, der viele Menschen unterworfen sind. Indem sie einem „like“ nachlaufen, indem sie dem Ziel nachlaufen, die Anzahl ihrer „followers“ in irgendeinem sozialen Netz zu erhöhen, bewegen sich die Menschen – bewegen wir uns – in den Bahnen, die diese heutige Gesellschaft uns vorschlägt. Eine Einsamkeit, die jede Verbindlichkeit fürchtet und hemmungslos nach Anerkennung sucht.

Müssen wir unsere Jugendlichen dafür verurteilen, dass sie in dieser Gesellschaft aufgewachsen sind? Müssen wir sie verdammen, weil sie in dieser Welt leben? Darf es sein, dass sie von ihren Hirten Sätze hören wie: „Früher war alles besser“ oder „Die Welt ist eine Katastrophe, und wenn das so weitergeht, wissen wir nicht, wo wir enden werden“? Nein, ich glaube nicht, dass dies der Weg ist. Wir Hirten sind auf den Spuren des einen Hirten eingeladen zu suchen, zu begleiten, aufzurichten und die Wunden unserer Zeit zu heilen. Die Wirklichkeit mit den Augen dessen sehen, der sich zur Bewegung, zur pastoralen Umkehr aufgefordert weiß. Die Welt bittet uns heute um diese Umkehr und verlangt sie. Es ist »lebenswichtig, dass die Kirche heute hinausgeht, um allen an allen Orten und bei allen Gelegenheiten ohne Zögern, ohne Widerstreben und ohne Angst das Evangelium zu verkünden. Die Freude aus dem Evangelium ist für das ganze Volk, sie darf niemanden ausschließen« (Evangelii gaudium, 23).

Es wäre ein Irrtum, wenn wir behaupten würden, diese „Kultur“ der gegenwärtigen Welt sei nur eine Abneigung gegen Ehe und Familie aus rein egoistischen Motiven. Sind denn die jungen Menschen dieser Zeit etwa alle unrettbar feige, schwach und unbeständig geworden? Gehen wir nicht in die Falle! Viele Jugendliche haben im Rahmen dieser entmutigenden Kultur eine Art unbewusster Befangenheit verinnerlicht, und gegenüber den schönsten, erhabensten und auch sehr notwendigen Impulsen sind sie wie gelähmt. Es gibt viele, die in Erwartung der idealen Bedingungen für den äußeren Wohlstand die Heirat aufschieben. Und derweil vergeht das Leben ohne Würze. Denn die Weisheit der wahren Würze des Lebens kommt mit der Zeit, als Frucht des großherzigen Einsatzes der Leidenschaft, der Intelligenz, der Begeisterung.

Als Hirten sind wir Bischöfe berufen, die Kräfte zu sammeln und die Begeisterung für die Bildung von Familien zu schüren, die vollkommener dem Segen Gottes entsprechen, so wie es ihre Berufung ist! Wir müssen unsere Energien weniger darauf konzentrieren, immer wieder neu die Mängel der gegenwärtigen Epoche und die Vorzüge des Christentums zu erklären, sondern vielmehr die jungen Menschen offen und direkt dazu auffordern, in der Entscheidung für Ehe und Familie wagemutig zu sein. Auch hier bedarf es einer heiligen Parrhesia, ist Freimut im besten Sinn notwendig! Ein Christentum, das in der Realität wenig praktiziert und in der Ausbildung unendlich viel erklärt wird, befindet sich in einem gefährlichen Missverhältnis. Ich würde sagen, in einem echten Teufelskreis. Der Hirte muss zeigen, dass in einer Welt, in der die Hinwendung des Individuums zu sich selbst uneingeschränkt zu herrschen scheint, das Evangelium der Familie wirklich eine „frohe Botschaft“ ist. Es handelt sich nicht um eine romantische Fantasie: Die Zähigkeit, eine Familie zu bilden und voranzubringen, verwandelt die Welt und die Geschichte.

Der Hirte verkündet unbeschwert und leidenschaftlich das Wort Gottes und ermutigt die Gläubigen, hohe Ziele anzustreben. Er macht seine Brüder und Schwestern fähig, auf die Verheißung Gottes zu hören und sie praktisch umzusetzen – eine Verheißung, die auch den Horizont der  Erfahrung von Mutter- und Vaterschaft ausweitet auf eine neue „familiäre Vertrautheit“ mit Gott hin (vgl. Mk 3,31-35).

Der Hirte wacht über den Traum, über das Leben, über das Wachsen seiner Schafe. Dieses „Wachen“ besteht nicht darin, Reden zu halten, sondern darin, Seelsorge zu betreiben. Zum Wachen ist nur fähig, wer versteht, „mittendrin“ zu sein, wer keine Angst hat vor Fragen, vor Kontakt, vor dem Begleiten. Der Hirte „wacht“ vor allem mit dem Gebet, indem er den Glauben seines Volkes unterstützt und Vertrauen auf den Herrn, auf seine Gegenwart weitergibt. Der Hirte bleibt immer wachsam und hilft, den Blick zu erheben, wenn Entmutigung und Frustration auftauchen oder jemand gefallen ist. Es wäre gut, wenn wir uns fragen würden, ob wir in unserem pastoralen Dienst verstehen, Zeit zu „verlieren“ mit den Familien, ob wir fähig sind, bei ihnen zu sein und ihre Schwierigkeiten wie ihre Freuden mit ihnen zu teilen.

Natürlich ist es in erster Linie ein grundlegender Zug im Lebensstil des Bischofs, diese frohe familiäre Vertrautheit mit Gott zu leben und ihre erstaunliche Fruchtbarkeit, so wie es das Evangelium verheißt, zu verbreiten. Das bedeutet beten und das Evangelium verkünden (vgl. Apg 6,4). Wenn wir also demütig die christliche Lehrzeit der familiären Tugenden des Gottesvolkes auf uns nehmen, werden wir selber – wie Paulus (vgl. 1 Tess 2,7.11) – immer mehr wie Väter und Mütter werden und vermeiden, uns in Menschen zu verwandeln, die bloß gelernt haben, ohne Familie zu leben. Unser Ideal ist ja wirklich nicht, frei von Liebe zu sein! Der gute Hirte verzichtet auf eigene familiäre Bindungen, um all seine Kräfte und die Gnade seiner besonderen Berufung dem Segen des Evangeliums für die Liebe zwischen Mann und Frau zugutekommen zu lassen, die den Schöpfungsplan Gottes verwirklichen – angefangen bei denen, die den Weg verloren haben, die verlassen, verletzt, erschüttert, erniedrigt und ihrer Würde beraubt sind. Diese völlige Selbstübereignung an die Agape Gottes ist gewiss keine Berufung, der Zärtlichkeit und Wohlwollen fremd sind! Um das zu begreifen, genügt es uns, auf Jesus zu schauen (vgl. Mt 19,12). Die Sendung des guten Hirten im Stile Gottes – allein Gott kann ihn bevollmächtigen, nicht seine eigene Anmaßung! – ahmt in allem und für alles den Stil der Liebe des Sohnes zu seinem Vater nach, die sich in der Zärtlichkeit seiner Selbstübereignung niederschlägt: zugunsten der Männer und Frauen der Menschheitsfamilie und aus Liebe zu ihnen.

Aus der Sicht des Glaubens ist dies ein wichtiges Thema. Unser Dienst muss den Bund zwischen Kirche und Familie entfalten. Andernfalls verwelkt er, und die Menschheitsfamilie entfernt sich durch unsere Schuld unrettbar weit von der Frohen Botschaft, die Gott geschenkt hat.

Wenn wir zu dieser Kohärenz der Liebe Gottes fähig sind, in einer Haltung unendlicher Geduld und frei von Groll gegenüber den nicht immer geradlinigen „Ackerfurchen“, in die wir diese Liebe säen sollen, wird auch eine samaritanische Frau mit fünf „Nicht-Ehemännern“ entdecken, dass sei fähig ist, Zeugnis zu geben. Und während ein reicher Jüngling traurig spürt, dass er noch Bedenkzeit braucht, wird ein reifer Zöllner schnell vom Baum herabsteigen und sich für die Armen „die Beine ausreißen“, an die er – bis zu jenem Moment – niemals gedacht hatte.

Möge Gott uns das Geschenk dieser neuen Unmittelbarkeit zwischen der Familie und der Kirche gewähren. Die Familie ist unsere Verbündete, unser Fenster zur Welt, der deutliche Nachweis für einen unwiderruflichen Segen Gottes, der für alle Söhne und Töchter dieser schwierigen und doch so überaus schönen Geschichte der Schöpfung bestimmt ist, der zu dienen Gott uns berufen hat!

(rv 27.09.2015)








All the contents on this site are copyrighted ©.