2015-09-05 12:36:00

Italienischer Flüchtlingsrat: Zwei verschiedene Europas


Es ist die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Allein 2014 waren weltweit 9,5 Millionen Menschen auf der Flucht, in diesem Jahr könnte die Zahl noch steigen, da ein Ende der  Konflikte wie etwa Syrien nicht abzusehen ist. Nach Einschätzung des Menschenrechtsbeauftragten der UNO, Ivan Simonovic, könnte die Flüchtlingskrise somit noch Jahre andauern. Europa ist im Umgang mit der Problematik gespalten wie nie. Christopher Hein, Vorsitzender des italienischen Flüchtlingsrates in Rom, ist aber trotzdem zuversichtlich.

Die deutsche Bundespolizei rechnet am Samstag mit der Ankunft von 5.000 bis 7.000 Flüchtlingen aus Ungarn in Bayern, Österreich sogar mit bis zu 10.000 Flüchtlingen, die im Laufe des Tages über die Grenze aus Ungarn kommen könnten. Die Dramatik der Flüchtlingskrise ist nun im Herzen Europas angekommen. Lange standen die Länder an den EU-Außengrenzen, allen voran Italien, mit dem Problem alleine da. Es hat sich aber bereits einiges geändert, sagt Christopher Hein, Vorsitzender des italienischen Flüchtlingsrates. „Es gibt eine ganz erstaunliche Entwicklung, ich denke vor zwei, drei Monaten hätte das nie jemand vorhersehen können, dass Deutschland und Österreich die Grenzen öffnen. Dass Deutschland das Dublin-System in Bezug auf syrische Flüchtlinge erst einmal außer Kraft setzt. Dass es Zivilgesellschaft gibt in einer Reihe von Ländern, die sagt: „Ok, ich habe ein Zimmer frei. Warum soll ich nicht ein paar Flüchtlinge aufnehmen“. Das ist eine völlig neue Sache, wir haben in Europa gerade zwei völlig konträre Tendenzen. Wir haben die Mauern, die Zäune und den Stacheldraht zwischen Ungarn und Serbien oder zwischen Bulgarien und Türkei oder auch in Marokko von den spanischen Enklaven in Ceuta und Melilla, wo die Mauer immer höher gebaut wird. Auf der einen Seite. Auf der anderen Seite werden Grenzen aufgemacht. Wir haben zwei verschiedene Europas und es ist zu sehen, welches Europa gewinnt.“

Besonders zu spüren ist diese Spaltung in Deutschland. Angesichts von Angriffen auf Flüchtlingsheime in Deutschland warnte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor neuem rechtem Terror. Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Solidaritätsaktionen für die Neuankömmlinge. Das Flüchtlingsthema gehe alle etwas an und dürfe nicht nur der großen Politik überlassen werden, findet Christopher Hein: „Das hängt auch von uns und Ihnen ab. Von den Medien und der Zivilgesellschaft in Europa. Das Spiel können wir nicht nur den Politikern überlassen. Wir sehen, wie eine Änderung in der deutschen Politik und möglicherweise auch in der britischen über eine Änderung der Meinung der Menschen zustande gekommen ist. Daran müssen wir arbeiten. Und wir müssen daran erinnern, was die Grundwerte der Konstruktion der europäischen Union sind. Und da bin ich sehr viel optimistischer als am Anfang dieses Sommers.“

Unterdessen beraten die EU-Außenminister in Luxemburg über einen sinnvollen Umgang mit der hohen Zahl an Flüchtlingen. Zu den Gesprächen an diesem Samstag werden auch Vertreter aus den westlichen Balkanstaaten erwartet. Hier hatte sich in den letzten Wochen die Flüchtlingsproblematik besonders zugespitzt. Besonders dramatisch  war der Fund von 71 toten Flüchtlingen in einem Lastwagen an einer Autobahn vor Wien.

Die Befürchtung mancher, legale Einreisewege für Flüchtlinge machten die Situation noch schlimmer, hält Christopher Hein dennoch für irrational. „Dem muss man auch mit Erkenntnis und Statistiken begegnen und sagen: Die Menschen, die kommen wollen oder müssen, die kommen sowieso. Unsere Aufgabe ist es zu sehen, dass wir legale Einreisemöglichkeiten schaffen, damit die Art und Weise, wie sie kommen, verändert wird, nicht damit mehr oder weniger kommen. Es geht um die Art, wie man nach Europa reinkommt, nicht um die Zahlen. Solange die Schlepper einen Markt haben und die Menschen keine Möglichkeit haben, ein Flugzeug zu nehmen oder ein Visum zu bekommen und ein Fährschiff zu nehmen und zu reisen wie wir. Damit sie überhaupt reinkommen, müssen sie sich an die Schlepper wenden. Das kann man nicht mit polizeilichen und kriminologischen Mitteln alleine bekämpfen. Die sind auch notwendig. Aber solange der Markt da ist, wird sich das Schlepperwesen immer weiterentwickeln.“

Dieses Jahr sind schätzungsweise allein 100.000 Menschen in die EU geflohen. Ein Großteil kam über das Mittelmeer nach Italien. Bleiben wollen die wenigsten in dem von Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit gezeichneten Land. Die Kirche hingegen versucht, auf die Flüchtlinge zuzugehen und ihnen Unterstützung zu bieten. Dafür wird sie von der italienischen Politik immer wieder angegriffen. Doch Christopher Hein ist zuversichtlich, dass auch hier ein Stimmungswandel möglich ist.

„Wir haben gesehen in anderen Ländern in Europa: Das kann sich sehr schnell ändern. Das kann sich auch in Mailand und Venedig ändern und nicht nur in Palermo und Catanzaro. Wir sehen, dass es mehr Akzeptanz in Sizilien, Kalabrien, in dem ärmeren, weniger entwickelten Süditalien gibt, als im reichen Norden und Nordosten Italiens. Auch die Bilder und Nachrichten über Schicksale der einzelnen Menschen bringen vielleicht auch einige Wähler von Lega Nord dazu, umzudenken.“

 

(rv 05.09.2015 cz)

 








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