2015-07-10 00:00:00

Franziskus: „Dieses System verstößt gegen den Plan Jesu“


Es war die Ansprache eines Hirten und eines Volkstribunen, es wurde eine Anwendung von Laudato Si’ auf die Gegenwart Lateinamerikas - aber auch eine klare Vergebungsbitte für die Sünden und Verbrechen von Christen während der so genannten Eroberung Lateinamerikas. In seiner langen Ansprache beim Welttreffen der Volksbewegungen in Boliviens größter und wohlhabendster Stadt Santa Cruz della Sierra brachte Papst Franziskus all die Themen in einen Zusammenhang, die er bisher einzeln angesprochen hatte, und die vor der Reise wiederholt in Ansprachen und Texten eingeflossen waren. „Dieses System verstößt gegen den Plan Jesu“, sagte der Papst mit Blick auf eine allgegenwärtige Logik des Profits. Er kritisierte Freihandelsabkommen sowie aufgezwungene Sparprogramme und versicherte den etwa 1.500 versammelten Vertretern, der Wandel sei möglich.

Er wolle ein „Gespräch über die besten Wege, wie die Situationen schwerer Ungerechtigkeit überwunden werden können, unter denen die Ausgeschlossenen in aller Welt leiden“, verdeutlichte der Papst seine Absicht. Und das wolle er gemeinsam mit diesen Volksbewegungen. Er freue sich, dass es in der Kirche viele gebe, die diesen Bewegungen nahe stünden.

Schon die Bibel erinnere daran, dass Gott auf die Klagen seines Volkes höre, und er wolle gemeinsam mit den Menschen klagen und die Stimme erheben: „Grund und Boden, Wohnung und Arbeit für alle unsere Brüder und Schwestern! Das habe ich gesagt, und ich wiederhole es: Es sind unantastbare Rechte. Es lohnt sich, es lohnt sich, für sie zu kämpfen.“

„Beginnen wir mit der Einsicht, dass wir eine Veränderung brauchen“, begann der Papst dann seine Überlegungen. Um zu dieser Einsicht zu gelangen, müsse man sich selber Fragen stellen. „Sehen wir ein, dass etwas nicht in Ordnung ist in einer Welt, in der es so viele Campesinos ohne Grund und Boden, so viele Familien ohne Wohnung, so viele Arbeiter ohne Rechte gibt, so viele Menschen, die in ihrer Würde verletzt sind?

Sehen wir ein, dass etwas nicht in Ordnung ist, wenn so viele sinnlose Kriege ausbrechen und  die brudermörderische Gewalt sich selbst unserer Stadtviertel bemächtigt? Sehen wir ein, dass etwas nicht in Ordnung ist, wenn der Boden, das Wasser, die Luft und alle Wesen der Schöpfung einer ständigen Bedrohung ausgesetzt sind?“ Erst dann könne man unerschrocken sagen „Wir brauchen und wir wollen eine Veränderung“.

 

„Die Welt erträgt es nicht mehr“

Die Probleme der Welt könne man nicht isoliert voneinander betrachten, gab der Papst zu bedenken. Eines aber gelte es zu erkennen: dass es die Logik des Gewinns um jeden Preis sei, die Menschen ausschließt und die Umwelt zerstört. „Ja, so ist es, ich beharre darauf, sagen wir es unerschrocken: Wir wollen eine Veränderung, eine wirkliche Veränderung, eine Veränderung der Strukturen. Dieses System ist nicht mehr hinzunehmen; die Campesinos ertragen es nicht, die Arbeiter ertragen es nicht, die Gemeinschaften ertragen es nicht, die Völker ertragen es nicht… Und ebenso wenig erträgt es die Erde, „unsere Schwester, Mutter Erde“, wie der heilige Franziskus sagte.“

Es gebe eine Sehnsucht nach dieser Veränderung, so der Papst. Wie die Probleme globalisiert seien, so habe er auch bei seinen Reisen überall festgestellt, dass es „in allen Völkern der Welt eine Erwartung gibt, eine starke Suche, ein Sehnen nach Veränderung.“ Das gelte selbst für die Minderheit, „die glaubt, von diesem System zu profitieren“.

Der Schritt zur Lösung sei aber nicht in der Frage nach den Gründen zu suchen. „Wir leiden“, sagte der Papst, „unter einem gewissen Übermaß an Diagnose, das uns manchmal in einen wortreichen Pessimismus führt“. Stattdessen müsse man sich fragen, was man tun könne. Und hier kämen die Volksbewegungen ins Spiel. „Ich wage, Ihnen zu sagen, dass die Zukunft der Menschheit großenteils in Ihren Händen liegt, in Ihren Fähigkeiten, sich zusammenzuschließen und kreative Alternativen zu fördern, im täglichen Streben nach den „drei T“ (trabajo, techo, tierra – Arbeit, Wohnung, Grund und Boden) und auch in Ihrer Beteiligung als Protagonisten an den großen Wandlungsprozessen auf nationaler, regionaler und weltweiter Ebene. Lassen Sie sich nicht einschüchtern!“

 

„Lassen Sie sich nicht einschüchtern!“

Man dürfe aber nicht der Illusion erliegen, dass ein Wandel der Strukturen ausreiche, fuhr der Papst fort. Ebenso sehr brauche es eine „aufrichtige Umkehr des Verhaltens und des Herzens“, damit dieser Wandel nicht verbürokratisiere, verderbe oder untergehe. Gerade hierbei wolle die Kirche helfen: „die Kirche kann und darf in ihrer Verkündigung des Evangeliums diesem Prozess nicht fern stehen.“

Was gilt es in diesem Moment der Geschichte konkret zu tun? Das war die Frage, die der Papst stellte. Dass viele Veränderung wollten, sei klar, „doch es ist nicht so leicht, den Inhalt der Veränderung, sozusagen das soziale Programm zu bestimmen, das diesen Plan der Geschwisterlichkeit und Gerechtigkeit, die wir erhoffen, widerspiegelt. In diesem Sinn erwarten Sie bitte kein Rezept von diesem Papst. Weder der Papst, noch die Kirche besitzen das Monopol für die Interpretation der sozialen Wirklichkeit, und sie haben auch keine Lösungsvorschläge für die gegenwärtigen Probleme. Ich wage zu behaupten, dass es gar kein Rezept gibt.“

 

 „Dieses System verstößt gegen den Plan Jesu“

Nach dieser Einschränkung wollte Franziskus aber doch noch drei Vorschläge machen. Der erste: die Wirtschaft in den Dienst der Völker stellen. „Die Menschen und die Natur dürfen nicht im Dienst des Geldes stehen. Wir sagen Nein  zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der sozialen Ungerechtigkeit, wo das Geld regiert, anstatt zu dienen. Diese Wirtschaft tötet. Diese Wirtschaft schließt aus. Diese Wirtschaft zerstört die Mutter Erde.“ Der Papst verwies abermals auf die „drei T“, ergänzte aber weitere Rechte jedes Menschen: der Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen, zur Innovation, zu künstlerischen und kulturellen Darbietungen, zum Kommunikationswesen sowie zu Sport und Erholung.

Diese gerechte Wirtschaft sei möglich und keine bloße Utopie, die Ressourcen seien vorhanden, ermutigte der Papst die Zuhörer. Das Problem sei eine „unverantwortliche Beschleunigung“ der Produktion, welche die Erde schädige und Menschen die elementarsten Rechte verweigere. „Dieses System verstößt gegen den Plan Jesu“, verdeutlichte der Papst. Mehr noch: „Die gerechte Verteilung der Früchte der Erde und der menschlichen Arbeit ist keine bloße Philanthropie. Es ist eine moralische Pflicht. Für die Christen ist die Verpflichtung noch stärker: Es ist ein Gebot.“

 

„Der Kolonialismus der Freihandelsabkommen und des engen Gürtels“

Die zweite Anregung des Papstes bezog sich auf die Selbstbestimmung der Völker und auf deren Zusammenarbeit. Das drückte der Papst in einem deutlichen Nein zu jeder Form von Kolonialismus aus, aber nicht nur des klassischen, der Lateinamerika so sehr prägt. „Der neue Kolonialismus nimmt verschiedene Gestalten an. Manchmal ist es die anonyme Macht des Götzen Geld: Körperschaften, Kreditvermittler, einige sogenannte ,Freihandelsabkommen´ und die Auferlegung von ,Sparmaßnahmen´, die immer den Gürtel der Arbeiter und der Armen enger schnallen.“ Er erwähnte außerdem die „monopolistische Konzentration der sozialen Kommunikationsmittel“, die „entfremdenden Konsummodelle“, die eine kulturelle Uniformität durchsetzen wollten, und den „ideologischen Kolonialismus“. „Wir sagen Nein zu den alten und neuen Formen der Kolonialisierung. Wir sagen Ja zur Begegnung von Völkern und Kulturen. Selig, die für den Frieden arbeiten.“

 

Demütige Bitte um Vergebung für Sünden und Verbrechen

Was aber ist mit dem Kolonialismus, den die Kirche in ihrer Vergangenheit mit zu verantworten hat? Auch hierzu gab es klare Worte von Papst Franziskus. „Ich sage Ihnen mit Bedauern: Im Namen Gottes sind viele und schwere Sünden gegen die Ureinwohner Amerikas begangen worden. Das haben meine Vorgänger eingestanden, das hat die CELAM gesagt, und auch ich möchte es sagen. Wie Johannes Paul II. bitte ich, dass die Kirche „vor Gott niederkniet und von ihm Vergebung für die Sünden ihrer Kinder aus Vergangenheit und Gegenwart erfleht. Ich will Ihnen sagen – und ich möchte dabei ganz freimütig sein, wie es der heilige Johannes Paul II. war –: Ich bitte demütig um Vergebung, nicht nur für die von der eigenen Kirche begangenen Sünden, sondern für die Verbrechen gegen die Urbevölkerungen während der sogenannten Eroberung Amerikas.“

Die dritte Anregung, die Papst Franziskus in seiner Rede gab, war der „Verteidigung der Mutter Erde“ gewidmet. Offene Kritik übte Franziskus an den diversen internationalen Öko-Gipfeltreffen, die aufeinander folgten, „ohne irgendein bedeutendes Ergebnis“ zu zeitigen. „Es gibt ein klares, definitives und unaufschiebbares ethisches Gebot, zu handeln, das nicht befolgt wird.“ Die Welt dürfe nicht zulassen, dass gewisse Interessen alles dominierten.

 

Die Zukunft liegt in den Händen der Völker

„Zum Schluss möchte ich Ihnen noch einmal sagen:  Die Zukunft der Menschheit liegt nicht allein in den Händen der großen Verantwortungsträger, der bedeutenden Mächte und der Eliten. Sie liegt grundsätzlich in den Händen der Völker“, schloss der Papst seine Rede. Und er machte sich klar und deutlich die Anliegen der Volksbewegungen zu eigen: „Sprechen wir gemeinsam aus vollem Herzen: keine Familie ohne Wohnung, kein Campesino ohne Grund und Boden, kein Arbeiter ohne Rechte, kein Volk ohne Souveränität, kein Mensch ohne Würde, kein Kind ohne Kindheit, kein Jugendlicher ohne Möglichkeiten, kein alter Mensch ohne ein ehrwürdiges Alter. Fahren Sie fort in Ihrem Kampf und, bitte, sorgen Sie sehr für die Mutter Erde!“

Das Treffen dauerte eine gute Stunde länger vorgesehen. Papst Franziskus war sehr herzlich willkommen geheißen worden. „Hermano Papa Francisco“, Bruder Papst Franziskus, so sprachen die Moderatorin und Morales das Kirchenoberhaupt mehrmals an. Die Anwesenden jubelten, und doch hatte das Treffen einen gänzlich anderen Charakter als übliche Papst-Begegnungen auf Reisen; es wirkte und war politisch, ja aktionistisch. Auf der Bühne saß er neben Präsident Morales, der ein Bild von Revolutionsführer Che Guevara auf der Jacke trug. Aus der Miene des Papstes ließ sich weder Distanzierung noch Identifizierung lesen. Franziskus wirkte präsent, im umfassenden Sinn des Wortes.

(rv 09.07.2015 ord/mc)

 








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