2015-06-17 15:19:00

Turiner Grabtuch: „Umfassende Erhebung aller Daten nötig"


Ist das Turiner Grabtuch echt, oder ist es eine Fälschung aus dem Mittelalter? Lag in der Leinen-Stoffbahn vor 2000 Jahren wirklich der Leichnam Jesu vor seiner Auferstehung? Eine umfassende Erhebung aller Daten der Stoffbahn – biologische, chemische, physische und andere Daten - könnte der einzig gangbare Weg sein, diese Frage zu beantworten. Das sagt der Physiker Bruno Barberis, der das „Internationale Zentrum für Grabtuchforschung“ in Turin leitet. Gudrun Sailer besuchte den Wissenschaftler wenige Tage vor der Turin-Visite von Papst Franziskus und fragte ihn zunächst: Was wissen wir heute auf einer wissenschaftlichen Ebene überhaupt über das Turiner Grabtuch?

 

„Wir wissen, dass das Bild auf dem Grabtuch ein ganz oberflächlicher Abdruck ist. Die Tiefe ist im Bereich einiger Mikrometer (Millionstel eines Meters). Wir wissen, dass Flecken menschlichen Blutes der Gruppe AB auf dem Tuch sind, die das Tuch durchsickert haben und auf der Rückseite zu sehen sind, anders als der Abdruck, der auf der Rückseite unsichtbar ist.  Das Blut verhält sich wie positive Flecken, der Abdruck wie negative Flecken. Schwarzweißabbildungen des Grabtuchs sind also umgedreht, das heißt, den Abdruck sieht man korrekt im Foto-Negativ. Wir wissen aus gerichtsmedizinischen Studien, dass der Abdruck vom Körper eines gefolterten Mannes stammt, der am Kreuz starb, wahrscheinlich an Erstickung, und danach ohne weitere Maßnahmen wie Waschung oder Salbung in das Tuch gelegt wurde. Dort kann der Leichnam nicht länger als 40 oder 50 Stunden geblieben sein, denn das Leinen weist keine Spuren von Verwesung auf, der Tote wurde also vorher aus dem Tuch genommen. Wir wissen, dass auf dem Stoff Spuren von Pollen und Pflanzen sind, die nur in Wüstenregionen Palästinas und Anatoliens auftreten, was bedeutet, dass das Tuch höchstwahrscheinlich im Lauf seiner Geschichte in diesen Regionen gewesen ist. Wir wissen, dass der Abdruck dreidimensionale Charakteristiken hat. Das ergibt die Scanner-Untersuchung. Und das ist einzigartig am Grabtuch, eine Fotografie beispielsweise hat nicht diese Merkmale. Wir wissen, dass der Abdruck, das Antlitz, viele Merkmale wiedergibt, die typisch sind für Gemälde und Ikonen aus dem 1. Jahrtausend, und das heißt, dass das Antlitz auf dem Grabtuch den Malern der ersten Jahrhunderte vielleicht bekannt war.“

 

Was wir heute hingegen nicht vom Grabtuch wissen, ist, wie alt es ist. Die Radiokarbon-Untersuchung von 1988 ergab, dass das Tuch aus dem Spätmittelalter stammt.

 

„Diese Datierung nach der Radiokarbon-Methode lässt heute viele Zweifel. Denn möglicherweise ist das Gewebe kontaminiert worden in seiner langen und komplizierten Geschichte, die man nicht bis ins Detail rekonstruieren kann. Beispielsweise hat man an der Stelle des Tuches, wo die Stoffprobe entnommen wurde, Baumwollfäden gefunden, die sicherlich später hinzukamen. Die Datierung müsste neu gemacht werden, aber erst dann, wenn wir genau wissen, wo wir die Stoffproben entnehmen sollen. Die Entnahmestelle von 1988 war sicher nicht geeignet.“

 

Welche anderen offenen Fragen gibt es?

 

„Wir wissen nicht, wie dieser Abdruck entstanden ist. Alle Versuche, diesen Abdruck mit alten oder hochmodernen Methoden zu reproduzieren, sind gescheitert. Niemand war jemals dazu in der Lage, eine Kopie des Grabtuchs anzufertigen, die dem Original in seinen chemischen, physikalischen, biologischen Eigenschaften entspricht. Wir haben 2015. Wir müssten es doch schaffen, zu verstehen, was auf einem Tuch ist, ein simples Objekt im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Fragen des Universums. Und doch, das ist eine offene Frage.“

 

1898 wurden die ersten Fotografien vom Grabtuch gemacht, anhand derer man zum ersten Mal den Abdruck wirklich sehen konnte, und seither sind Generationen von Wissenschaftlern mit ihren Methoden dem Grabtuch zu Leibe gerückt. Welcher wissenschaftlichen Disziplin trauen Sie zu, die offenen Fragen des Grabtuchs zu beantworten?

 

„Die Techniken von heute sind nicht destruktiv. Nur für die Radiokarbonmethode gilt, dass die Stoffprobe verbrannt wird. Aber für alle anderen heutigen Methoden sind nur noch kleinste Gewebe-Entnahmen erforderlich, die man nicht sieht. Ich denke, das hilfreichste wäre heute, ein komplettes Kennfeld des Tuches zu erstellen, ein Merkmal-Diagramm. Nicht vom Bildlichen her, als hochauflösendes  Video, das gibt es schon. Sondern es geht um eine komplette Erfassung sämtlicher biologischer, chemischer, physischer und gewebetechnischer Merkmale des Tuches an allen seinen Stellen. Dann könnte man für jeden Punkt des Tuches sagen, welche Substanzen da sind und die Unterschiede zwischen den verschiedenen Zonen verzeichnen: da, wo nichts ist, da, wo der Abdruck ist, da, wo das Blut ist, da, wo die Verbrennungen aus dem Brand sind. Das ist ein gewaltiger Aufwand. Man müsste ein komplettes Forschungslabor rund um das Turiner Grabtuch bauen, mit modernen Instrumenten, die eine enorme Zahl von Daten zu erheben imstande sind. Dann kann man das Grabtuch zurück an seinen Platz geben und mit den Daten arbeiten, deren Auswertung sicherlich Jahre dauern würde. Das wird dann wieder neue Fragen aufwerfen – denn so ist das in der Wissenschaft, man findet Antworten, die sofort neue Fragen aufwerfen. Aber erst, wenn wir diese Daten in der Hand haben, können wir uns an die Ausarbeitung machen und dann vielleicht Fortschritte machen.“

 

Und dieses Merkmal-Diagramm könnte man mit heutigen Mitteln bereits machen?

 

„Durchaus. Einfach ist es aber nicht. Zunächst brächte man die Zustimmung des Eigentümers, also des Heiligen Stuhles. Dann müsste eine internationale Kommission ernannt werden, damit Wissenschaftler aller Disziplinen vertreten sind. Diese Kommission müsste darüber befinden, welche Untersuchungen zu machen sind. Viele Vorschläge dazu sind in den letzten Jahren bei uns eingetroffen, wir haben sie gesammelt und dem Heiligen Stuhl vorgelegt, namentlich den Staatssekretären Sodano, Bertone und jetzt Parolin, damit wirklich klar ist, welche Möglichkeiten heute bestehen, neue Untersuchungen durchzuführen. Also: Welche Untersuchungen, welche Apparate braucht man? Das zu organisieren, braucht Monate, wenn nicht Jahre, und verursache hohe Kosten.“

 

Am Grabtuch hängt zwar nicht der Glaube, dennoch kann der Eindruck entstehen, dass die Grabtuch-Forschung nicht immer seriös und unbeteiligt betrieben wird. Die einen treten an zu beweisen, dass es echt ist, die anderen wollen das Gegenteil nachweisen. Wie ideologisch aufgeladen ist die Grabtuch-Forschung heute?

 

„Das ist eine heikle, aber wichtige Frage. Das, was Sie angesprochen haben, nenne ich die Grabtuch-Fundamentalismen. Und die schlagen sich mit der seriösen Wissenschaft. Johannes Paul II. sagte 1998, dass die Untersuchungen am Grabtuch die Wissenschaft betreffen, während die Kirche eine andere Aufgabe hat. Die Kirche bittet die Forscher, neue Erhebungen zu machen, aber im Respekt der Methoden. Das heißt, ich soll nicht antreten, das zu beweisen, was ich beweisen will, sondern ich soll die Wahrheit suchen. Und gleichzeitig soll ich die Sensibilität der Glaubenden respektieren. Die Tradition und auch die bisher durchgeführten Studien lassen es als wahrscheinlich scheinen, dass dieses Tuch das Leichentuch von Jesus war. Deshalb kann ich das Grabtuch nicht als Steinbruch ansehen und jedes Mal ein Stück davon abschneiden. In dem Moment, in dem ich um jeden Preis beweisen will, dass das Leinen eine mittelalterliche Fälschung ist, und in den Medien nicht korrekte Erwägungen zum besten gebe, um meine These vorzutragen, oder im Gegenteil sage, das Grabtuch ist der Beweis der Auferstehung Christi, ist das Nonsens. Das sind zwei falsche Vorgangsweisen. Untersuchungen müssen seriös gemacht werden, von einem Team von Forschern, egal ob gläubig oder nicht. Das Grabtuch ist ein einzigartiges Objekt auf der Welt, es ist nicht einzusehen, warum nur gläubige Wissenschaftler sich damit beschäftigen sollten.“

 

(rv 17.06.2015 gs)








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