2015-05-03 15:50:00

Menschen in der Zeit: Ludger Kühnhardt - Philosoph, Politologe, Journalist


Professor Doktor Ludger Kühnhardt absolvierte im Anschluss an sein Abitur eine Redakteursausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. 1979 wurde ihm der Katholische Deutsche Journalistenpreis verliehen. Danach arbeitete er als freiberuflicher Journalist, vor allem für den späteren „Rheinischen Merkur“, die „Deutsche Welle“ und den „Westdeutschen Rundfunk“. Europa und seine spannende Entwicklung in den letzten 50 Jahren, aber ebenso die universalen Menschenrechte stehen im Fokus seiner wissenschaftspolitischen Forschung. Kühnhart führt auch ausgedehnte journalistische Reportagereisen durch Asien und Afrika durch, schrieb viele Essays und Fachbücher über Politik, Religion und Gesellschaftslehre und drehte Dokumentarfilme in Südkorea, Bangladesh und Indien.

Herr Professor Doktor Kühnhardt, haben Sie recht herzlichen Dank, dass Sie Radio Vatikan dieses Gespräch gewähren.

Es ist mir eine große Freude mit Ihnen sprechen zu können.

Danke. Wir haben nur eine knappe Viertelstunde Zeit, um aus Ihrem reichen und vielseitigen akademischen Wissen auf dem Gebiet der europäischen Politik und christlichen Sozial- und Gesellschaftslehre, sowie der universalen Menschenrechte Wichtiges zu erfahren.

Herr Dr. Kühnhardt, nun aber: Was ist eigentlich das Wichtigste?

Das Wichtigste im Leben ist, sich in der Liebe zu bewähren und eine Spur der Liebe und der Kompetenz zu hinterlassen, eine Spur, aus der sichtbar wird, wofür wir gebrannt haben im Leben, und eine Spur zu hinterlassen, aus der sichtbar wird, mit welchen Kompetenzen wir einen Beitrag zu einer besseren Welt hinterlassen haben.

Beginnen wir nun mit Europa, wenn Sie einverstanden sind. Wenn von Europa gesprochen wird, ist meistens die Wirtschaftspolitik und weniger ihre politische Einigung gemeint. In Ihren wissenschaftspolitischen Abhandlungen, Herr Professor, sprechen Sie sich – unter anderem auch dafür aus – die sehr komplexen Zusammenhänge der europäischen Politik in Brüssel verständlicher zu machen. Wo liegt nun das wahre Selbstverständnis der EU heute? Was ist eigentlich besser? Mehr oder weniger Europa? Was ist wichtiger für die nunmehr 28 EU-Staaten: Konsolidierung der Haushalte oder Wachstum? Stabilität oder die scheinbar so alles bestimmende Finanzpolitik?

Besser ist ein Europa, das die Würde des einzelnen Menschen stärkt und sein Bewusstsein als Europäer eine verantwortliche Rolle im eigenen Leben, im Leben unserer Gesellschaften und als Kontinent insgesamt der Welt zu überleben. Europa – anthropologisch gedacht – bedeutet, dass wir auch die komplexen politischen und ökonomischen Fragen aus dieser Sicht angehen. Die ganze Einigungsgeschichte Europas ist ja der Versuch, sowohl aus den Traditionen Europas zu leben, aus den kulturellen, religiösen, sprachlichen, aber auch den sehr widersprüchlichen geistigen und materiellen Traditionen, und zugleich ist die europäische Einigung der Versuch mit den eher dunklen Seiten unserer Geschichte zu brechen. Also eine konkrete Utopie einer Friedens- und Freiheitsordnung zu schaffen, das ist in 60 Jahren so sehr gelungen, wie vorher noch niemals in der europäischen Geschichte. Es ist gelungen durch den Ausgleich zwischen kleinen und großen, armen und reichen Staaten des Nordens und des Südens. Es ist aber auch nur zukunftsfähig, wenn immer der Kompass stimmt, nämlich, dass all dieses eine von Menschen gemachte Aufgabe ist, zum Wohle der Menschen. Und die Stärkung der Würde des Menschen und die Stärkung der Möglichkeit in diesem Europa wohlzufühlen, Verantwortung zu übernehmen, sich zu engagieren und Europa voranzubringen, das ist der entscheidende Kompass um das ganze hochkomplexe ökonomische und politische Gebilde der europäischen Union einzuordnen.

Nun sind aber die Kritiker, die Europa-Kritiker, im Aufwind. Euroskepsis und Anti-EU-Populismus drängen nach vorne. Durch die Finanzkrise verliert die EU stark an Zustimmung. In zahlreichen Ländern nehmen die Anti-Europa-Bewegungen zu. Immer mehr Menschen schließen sich diesen Bewegungen an. Eigentlich sollte es ja umgekehrt sein: die Politik in der EU müsste wieder europäischer werden. Nach dem Vorbild ihrer Gründungsväter etwa: Monet, Adenauer, de Gasperi. Steht die so lang herbei gewünschte politische Einigung sogar auf dem Spiel? Wie könnte man wieder mehr Begeisterung für die Europa-Idee wecken? Ist dazu vielleicht sogar eine Änderung der bestehenden EU-Verträge notwendig geworden?

Begeisterung erwächst nicht aus Papieren oder Paragraphen, sondern Begeisterung für Europa – so bin ich zutiefst überzeugt – erwächst auch in den nächsten 50 Jahren aus dem Ratschlag, den uns ein weiterer Gründungsvater der Europäischen Einigung hinterlassen hat, den Sie in Ihrer Aufzählung, verehrter Herr Parmeggiani, nicht genannt haben: Robert Schumann. Er hat in seiner berühmten Schumann-Erklärung von 1951 davon gesprochen, Europa braucht eine Solidarität der Tat. Solidarité d’effet. Und auch das ist es, was wir heute brauchen. Menschen müssen erleben können, dass Europa zu ihrem persönlichen Wohle und damit auch zum Wohle des Zusammenlebens und zum Wohle der Welt insgesamt bürgt. Und wenn das gelingt, wird auch die Zustimmung und der Zuspruch zu Europa wieder wachsen. Wenn Sie mir noch einen zweiten Gedanken erlauben, die vielen populistischen Reaktionen auf den heute komplex wie niemals zuvor gewordenen Einigungsprozess sind auch die Folge der Tatsache, dass es mit der Einigung ernst wird. Und wenn es mit der Einigung ernst wird, so heißt dies auch, dass sie hineinwirkt, in die Strukturen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Europa, das ist nicht einfach nur der Bau einer Konstruktion von Institutionen in Brüssel. Europa ernst genommene Integration wirkt zurück in die Gesellschaften. Verfassungssysteme, Wirtschaftsprozesse, in die Reformbereitschaft von Staaten, auch in das tägliche Leben, spätestens seitdem die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger den Euro im eigenen Portemonnaie haben spüren sie ja, dass Europa in unserem Alltag angekommen ist. Und dies gilt auch für jedes Unternehmen in Europa, es gilt für jede Behörde, es gilt für jede politische Struktur. Das alles ist ein ungeheuerlicher und komplexer Prozess, der manche Menschen auch überfordert und den manche nach wie vor – und das gehört auch zur Vielfalt der Freiheitsausdrücke in Europa – ablehnen. Und diese Ablehnung äußert sich in den ganz vielfältigen Formen des politischen Populismus, auf die Sie hingewiesen haben. Aber im Kern glaube ich, ist Europa auf dem Wege zu einer konsolidierten politischen Union. Und am Ende muss es über Prozesse und komplexe Strukturen hinaus letztlich das geben, was wir aus unseren Mitgliedsstaaten kennen, nämlich eine Regierung. Eine europäische Regierung. Das muss Ziel und Kompass des politischen und gesellschaftlichen Arbeitens auf und an der Baustelle Europa sein.

Nun danke ich Ihnen sehr herzlich für diese ausführliche, schöne Antwort, muss sie aber wieder bitten, mit den nächsten Fragen etwas kürzer zu antworten…

Danke.

Kommen wir zur Menschenwürde, zum Menschenrecht über die Sie als Politologe viel geschrieben und nachgedacht haben. Die Menschenrechtserklärung ist bald 70 Jahre alt. Wie weit ist sie von ihrer ursprünglichen Idee heute entfernt? Ist es nicht häufig der Fall, dass Machtansprüche wie eh und je auch heute noch vor die Menschenrechte gestellt werden?

Selbstverständlich ist dies der Fall und so war es auch vor 70 Jahren. Und gerade weil dies so ist und leider auch in Zukunft so sein wird, ist die universelle Erklärung der Menschenrechte der vereinten Nationen aktueller und relevanter denn je. Fast alle Staaten der Welt haben sie unterzeichnet und jeder der ihren Inhalt ernst nimmt und für seine Förderung sich einsetzt, muss immer wieder daran erinnern. Auch gegen den Stachel der Wirklichkeit locken, in der es in der Tat von Ihnen genannte Machtpolitik und auch die Manipulation des Inhalts dieser Menschenrechtserklärung tagtäglich gibt. Das ändert aber nichts an ihrer großen moralischen und auch politischen Relevanz.

Die Idee der Menschenrechte, Herr Professor, und ihre Verwurzelung im politisch-philosophischen Denken geht auf die abendländische Antike zurück. Das Christentum hat das Menschenbild auf diesem Gebiet entscheidend geprägt, da gibt es keine Zweifel. Und auch heute bewegen die Menschenrechte das moralische Gewissen, wie nur wenige andere politische Themen unserer Zeit. Wie universal ist der Begriff und die Einhaltung der Menschenrechte heute einzuschätzen?

Der Begriff ist umstritten. Die Wirklichkeit ist voller Widersprüche und voller Tragödien gegen die Idee der Menschenrechte und gegen die Wirklichkeit der Menschenwürde so vieler geschundener Mitmenschen auf diesem Planeten. Aber die Grundidee der Menschenrechtserklärung und der Menschenrechte an sich ist kraftvoller und bedeutsamer denn je. Und ich glaube, die vielen Konflikte in unserer heutigen Zeit, die helfen uns auch den Sinn zu schärfen für die Kernaspekte in dieser sehr weit gespannten Menschenrechtsdefinition. Papst Johannes Paul II. hat immer zurecht in vielen Reden in seinem langen Pontifikat darauf hingewiesen und viele auf der Welt damit berührt, indem er gesagt hat: „Das erste Menschenrecht, ist das Recht auf Religionsfreiheit.“ In westlichen Ländern heißt das oft, das Recht, keine Religion mehr ausüben zu wollen. Aber überall dort auf der Welt, einschließlich dort, wo viele Christen heute verfolgt werden, wissen die Menschen ganz genau, dass es bei der Religionsfreiheit um den innersten Kern ihrer seelischen Freiheit geht. Und das zweite fundamentale Menschenrecht, an das erinnert uns die jüdische Philosophin Anna Arendt, die in der Zeit der schlimmen nationalsozialistischen Verfolgungen der Juden und sonstigen Verfolgungen während der totalitären Phase des zwanzigsten Jahrhunderts gesagt hat, aus ihrer Sicht, die Flüchtling werden musste, gibt es nur ein Recht, nämlich die Freiheit, sein Land zu verlassen, Freiheit irgendwo wieder anzukommen und nicht staatenlos zu bleiben. Und in der heutigen Zeit wo es so viele Flüchtlinge und staatenlose Menschen gibt, wie niemals, seit dem zweiten Weltkrieg, ist auch dieses der zweite fundamentale Kern der Menschenrechtsidee. Die Selbstverfügung des Menschen über seine äußere Existenz. Ein Leben dort führen zu dürfen, wo es in Freiheit, in Frieden und in Würde möglich ist, geht nur, wenn beides zusammen geht: Der Schutz der Religionsfreiheit und der Schutz des Lebens in rechtssicheren Verhältnissen und wo dies nicht möglich ist, das Recht Flüchtling sein und als Flüchtling anerkannt zu werden.

Eine religiöse Frage: Seit Jahrtausenden befindet sich die Menschheit auf dem mühseligen Weg der Humanisierung. Manchmal hat man den Eindruck, sie falle zurück ins tiefe Mittelalter. Und weil die Menschheit noch auf diesem Weg ist, führt sie Kriege, begeht sie Morde, übt sie Lügen und Verrat. Und Gott lässt es zu, lässt die Menschheit viele Dummheiten, Fehler, Sünden, Verbrechen begehen. Gott greift scheinbar nicht ein, weil er dieses Drama auf dem Weg der Freiheit und Vollendung des Menschen von Anfang so gewollt hat?

Das Buch Hiob, der Mythos des Sisiphos und die Klage von Jesus, dass der Vater doch den Kelch vorbeiziehen lassen möge, aber er, wenn es nicht anders geht, doch auch das Kreuz bis zum letzten Atemzug tragen werde, all dieses Zeigt uns und viele andere Beispiele aus der biblischen Geschichte und aus der Menschheitsgeschichte, all dies zeigt uns die Dauerhaftigkeit des Problems, das sie beschreiben. Dennoch gilt, bei aller Düsternis, gerade auch in unserer aktuellen Gegenwart, viele Menschen suchen die Verbindung zu Gott. Und überall dort, wo diese Verbindung aufgebaut werden kann, überall dort wo sie in einer entspannten, friedlichen und respektvollen Weise sich entfalten kann, überall dort gibt es auch Ausgleich zwischen den Menschen, unter den Menschen, jenseits von religiöser Bindung und Tradition, im Elternhaus, in das man hineingeboren wurde und der Religion, der man sich verpflichtet fühlt. Das gilt für alle Religionen, nicht nur für uns Christen. Und insofern glaube ich, ist es notwendig, bei aller großen Sensibilität und Sorge über vor allen Dingen auch den Missbrauch des Namens Gottes für terroristische und gewalttätige Zwecke, immer wieder daran zu erinnern, dass die Suche des Menschen nach Gott und die Hoffnung eine Antwort zu bekommen für das Führen des eigenen Lebens, dass diese Suche genauso mit uns ist und uns auch trägt in die nächsten Jahre und Jahrzehnte hinein, bei aller Bekümmernis und Sorge über die vielen Verbrechen in unserer Gegenwart.

Und nun zur letzten Frage, Herr Doktor Kühnhardt, zu den Schwerpunkten Ihrer wissenschaftlichen Arbeit gehören selbstredend auch Themen der Philosophie. Die meisten Menschen fragen sich ja nach dem Sinn des Lebens und möchten eine Antwort darauf bekommen. Für uns Christen ist Gott Ausgangspunkt, Mittelpunkt und Ziel unseres Denkens und Lebens. Die Frage nach dem Sinn des Lebens kann nicht nur abstrakt, sondern muss auch praxisbezogen beantwortet werden, also nicht nur immanent sondern auch transzendent gestellt werden. Das Christentum stellt hohe Ansprüche und die Christen stehen in tiefer Pflicht gegenüber dem Auftrag für eine bessere Welt. Unsere Welt wird immer kleiner, ihre Probleme aber werden immer größer. Sie wächst enger zusammen, aber die Unterschiede klaffen immer stärker auseinander. Während die Wohlstandskrankheiten zunehmen, verhungern jährlich Millionen von Menschen. Während wir wissen, dass der Frieden die Grundbedingung für das Weiterleben unserer Nachkommen ist, entwickeln sich immer neue und bedenklichere Formen von Gewalt und Terror, Rassendiskriminierung und Hungerkatastrophen. Welche Chancen räumen Sie den künftigen Generationen ein, wenn diese Verhältnislage zwischen Religion, Politik und Kultur in der gegenwärtigen Gesellschaft den Tatsachen wirklich entspricht?

Es bleibt auch für die nächsten Generationen, die Generation meiner Kinder, die nächsten nachfolgenden Generationen eine immer wiederkehrende Aufgabe, den richtigen Standpunkt im Leben zu finden, den richtigen Standort zu suchen und von ihm aus den Beitrag zu leisten, den jeder einzelne leisten kann, gegen alle Erfahrung, einen Beitrag für eine bessere Welt. Und ich glaube, man kann es nur in einer Formel sagen, die generationenübergreifend und auch zeitlos gültig ist: Lerne zu leben, lerne zu lieben, lerne am Ende loszulassen, um zu Gott zurückzukehren, der uns das Leben geschenkt hat. Der Kompass, der kann auch der jungen Generation in allen Kulturen, in allen Umständen helfen, nicht zynisch, nicht verzweifelt zu werden und auch nicht aufzugeben, am Bau dieser Welt im Sinne des Schöpfungswillens Gottes mitzuwirken, trotz allem.

Aldo Parmeggiani

(rv 03.05.2015 ap)








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