2015-04-28 10:24:00

Genozid-Debatte: Polemik als Teil des Wahlkampfes in der Türkei


Dass die Reaktion der türkischen Führung auf die Genozid-Äußerung des Papstes so harsch ausfiel, ist auch vor Hintergrund des laufenden Wahlkampfes in der Türkei zu erklären. Recep Tayyip Erdoğan ziele jetzt „massiv auf die nationalistischen Stimmen“ im Land, das Verhältnis zur armenischen Minderheit sei ihm da „nicht sehr wichtig“. So ordnet Zeynep Taşkın von der Hrant Dink-Stiftung die Verurteilung der Papstworte durch den türkischen Präsidenten und AKP-Mann ein. Die in Istanbul ansässige Stiftung setzt sich für armenische Kultur, Aufklärung und Versöhnung ein; sie wurde in Andenken an den gleichnamigen türkisch-armenischen Journalisten gegründet, der im Jahr 2007 von Nationalisten ermordet worden war. Erdoğan hatte den im Zusammenhang mit den Massenmorden an den Armeniern vom Papst benutzten Begriff „Völkermord“ als „Unsinn“ und „Fehler“ zurückgewiesen. Anne Preckel sprach mit Zeynep Taşkın über den Wahlkampf, Reaktionen auf die Papstworte in der Türkei und das Selbstverständnis der armenischen Gemeinschaft in dem Land.  

„Halbherzige“ Gesten

Es schien eigentlich so, als habe Erdoğan den Armeniern gegenüber bezüglich der Genozid-Frage die Hand ausgestreckt: Im vergangenen Jahr hatte er den Nachfahren der Opfer öffentlich sein Beileid ausgesprochen – so etwas war in der Geschichte der türkischen Republik noch nie vorgenommen. Auch für eine „gemeinsame Historiker-Kommission“, welche die Massaker von 1915 untersuchen soll, macht er sich nach wie vor stark. Zeynep Taşkın sieht solche Gesten als „halbherzig“ an. Um den Begriff des Völkermordes werde von offizieller Seite in der Türkei immer noch ein großer Bogen gemacht, so Taşkın gegenüber Radio Vatikan: „Auch im Wahlkampf wird davon gesprochen, dass das Leid an und für sich eigentlich alle trifft, dass man das Leid der Armenier versteht und bedauert. Aber trotzdem ist die offizielle Sprache noch nicht eine Anerkennung und eine Entschuldigung.“

Im Juni 2015 finden in der Türkei Parlamentswahlen statt. „Im Namen der Wahlpropaganda“ komme jetzt teilweise wieder das alte „Feindbild der Armenier“ hoch, berichtet die Türkin. Die Hrant Dink-Stiftung und die dazu gehörige Zeitschrift „Agos“ nimmt solche Tendenzen aufmerksam wahr. Sie dokumentiert etwa regelmäßig Hassreden gegen Minderheiten in den türkischen Medien. Auch am vergangenen Freitag, am Tag der Gedenkfeiern zum Armenier-Genozid vor hundert Jahren, seien in Istanbul nationalistische Parolen aufgetaucht, erzählt Taşkın: „In den frühen Morgenstunden wurde an dem Gebäude, wo jetzt unsere Stiftung und die Agos-Zeitung untergebracht ist, ein schwarzer Kranz niedergelegt von Extremnationalisten. Nur drei Leute waren das, aber sie haben auch eine Pressekundgebung verlesen und über Internet verteilt.“

Straflosigkeit behindert Vergangenheitsbewältigung

Die Stiftung habe den Vorgang der Polizei gemeldet: „Wir sehen uns jetzt nicht aktuell bedroht, aber wir müssen vorsichtig reagieren darauf und das natürlich gerichtlich auch verfolgen.“ Schließlich sei ein Hindernis für Vergangenheitsbewältigung in der Türkei die Straflosigkeit, führt die gebürtige Istanbulerin aus: „Es ist immer die Straflosigkeit, die in der Türkei eine Auseinandersetzung nicht möglich macht. Die Straflosigkeit hat mit dem Genozid angefangen und hat dann bei jedem Angriff auf Minderheiten weiter gewaltet. Deswegen können wir uns mit der Geschichte nicht auseinandersetzen, deswegen hängt unsere Demokratie auf schwachen Pfeilern und deswegen müssen wir diese Hassreden und Hasspredigen auch strafrechtlich verfolgen.“

Insgesamt habe es auf gesellschaftlicher Ebene in der Türkei Fortschritte gegeben, was die Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Armeniern betrifft, räumt Taşkın dann ein. Dabei täten sich auch verschiedene Minderheiten mit Gruppen der Zivilgesellschaft zusammen, die Aufklärung wollten: „Es gibt eine große Bewegung innerhalb der Zivilgesellschaft, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen und dieses Leid der Armenier zu verstehen. Zum Beispiel gibt es innerhalb der kurdischen Bevölkerung einen großen Wunsch und Drang nach geschichtlicher Aufarbeitung – auch deswegen, weil die Kurden ja damals maßgeblich beteiligt waren an diesem Massaker. An privaten Universitäten ist dieses Feld ein Forschungsfeld geworden, und es gibt sehr viele Bücher auf dem Markt, auch im Literarischen, die sich damit befassen. Es ist jetzt möglich, offen über den Genozid zu sprechen und zu veröffentlichen.“

Dass sich inzwischen auch immer mehr junge Armenier in der Debatte zu Wort meldeten, sei nicht zuletzt Hrant Dink zu verdanken, der es als einer der ersten gewagt hatte, die Massaker an seinem Volk als Völkermord zu benennen und mit seiner Zeitschrift „Agos“ die Probleme der Minderheiten ins öffentliche Bewusstsein zu heben. Der Journalist hatte die Armenier zugleich dazu aufgerufen, sich vom Hass zu lösen und Wege der Versöhnung einzuschlagen. Nationalisten war Hrant Dink ein Dorn im Auge, doch als er im Januar 2007 erschossen wurde, ging ein Aufschrei durch das Land: Die Medien verurteilten die Tat nahezu geschlossen, und der Trauermarsch für den Journalisten war einer der größten in der jüngeren Geschichte der Republik.

Offizielle Geschichtsschreibung mangelhaft

Ein Tabu sind die „Massaker von 1915“ in der Türkei heute nicht mehr, wohl aber der Begriff „Genozid“. Die offizielle Geschichtsschreibung sei weit von den historischen Tatsachen entfernt, so Zeynep Taşkın. So sei die Mehrheit der Türken immer noch durch eine Version der Vergangenheit geprägt, in der die Armenier als „Feinde“ des Osmanischen Reiches auftraten und die Beseitigung dieser und anderer Gruppen notwendig wurde, um die türkische Republik glorreich gründen zu können. Die systematische Gewalt im Kontext der Nationsgründung wird dabei bis heute als eine Art„Kollateralschaden“ verharmlost. Der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu umschreibt die Massaker an den Armeniern zum Beispiel eher allgemein als „Folge einer Konfliktsituation, in der auch Muslime starben“. Taşkın resümiert: „Es braucht mehr Ausarbeitung, es braucht auch im Bereich der Schulbücher und der Bildung Änderungen, es braucht eine Annäherung zwischen Armeniern und der Türkei bis hin zur Öffnung der Grenze. All dies wären Schritte in Richtung Aufarbeitung der Geschichte, die notwendig sind.“

Die Papstworte über die Massaker an den Armeniern seien vor diesem Hintergrund „wichtig“ und „richtungsweisend“ gewesen, ergänzt die Stiftungsmitarbeiterin. Der entscheidende Schritt müsse aber freilich von der türkischen Führung ausgehen. Schließlich sei eine Anerkennung der Massaker von 1915 als Völkermord mehr als „hinfällig“. Dass es in der Frage zukünftig Bewegung geben könnte, schließt Taşkın nicht völlig aus– nach dem Wahlkampf könne man sich Dialog ja vielleicht wieder leisten: „Wie müssen abwarten, bis die Wahlen vorüber sind und bis die Reaktionen aus dem Ausland etwas abgeflaut sind, erst dann können wir sehen, ob es wieder Fortschritte geben wird.“

Die Hrant Dink-Stiftung

Die armenische Kulturstiftung Hrant Dink setzt sich für Meinungsfreiheit, Minderheitenrechte und Dialog in der Türkei ein. Der Journalist Hrant Dink trat für eine Anerkennung der Massaker an den Armeniern als Völkermord ein. Wegen „Beleidigung des Türkentums“ wurde er mehrere Male vor Gericht gestellt. Dink wurde am 19. Januar 2007 von einem jugendlichen Rechtsnationalisten vor dem „Agos“-Redaktionssitz in Istanbul erschossen. Zeynep Taşkın arbeitet seit 2008 als Projektkoordinatorin bei der Hrant Dink-Stiftung. Sie wurde in Istanbul geboren, besuchte dort die österreichische Schule und hat in Wien studiert.

(rv 28.04.2015 pr)








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