2015-04-16 08:43:00

Türkei/Vatikan: „Klarheit des Papstes kann auch positive Folgen haben“


Wer mit Blick auf die Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren das Wort „Völkermord“ benutzt, wird in der Türkei automatisch als Feind des Landes angesehen. Das erklärte der Türkei-Kenner und Islamwissenschaftler Pater Felix Körner im Gespräch mit Radio Vatikan. Der an der päpstlichen Gregoriana-Universität in Rom lehrende Spezialist für christlich-muslimischen Dialog hält es aber für möglich, dass die Verstimmung zwischen der Türkei und dem Heiligen Stuhl mittelfristig auch positive Folgen hat. Papst Franziskus hatte am vergangenen Sonntag bei einer Messe mit armenischen Christen im Petersdom vom „ersten Genozid des 20. Jahrhunderts“ gesprochen. Die Türkei reagierte verstimmt. Gudrun Sailer sprach mit Pater Körner.

Radio Vatikan: Wie ordnen Sie den Unmut der Türkei an der Papstaussage ein?

„Das Wort Völkermord ist im allgemeinen Bewusstsein auf der türkischen Seite identisch mit: nicht Freund der Türkei sein. Wer das Wort Völkermord sagt, wird von der türkischen Gesellschaft, die dieser republikanischen Erziehung ihre Ausbildung verdankt, als Feind der Türkei angesehen. Das ist ein geradezu mechanischer Reflex. Dieses Wort darf nicht gesagt werden.“

Radio Vatikan: Was hindert die Türkei daran, mehr Abstand von diesem Wort „Völkermord“ zu gewinnen, zumal es ja den historischen Tatsachen entspricht?

„Um die mehrheitliche türkische Gesellschaftsstimmung zu verstehen, muss man sehen, dass ein Wert alles durchprägt, nämlich der Wert der Ehre. Vieles geschieht in der Türkei, und viele Menschen tun alles, um Ehre zu schützen, zu verteidigen oder wiederherzustellen. Klar, es gibt da auch inzwischen selbstkritische Bewegungen, aber diese große Angst, das Gesicht zu verlieren, kann auch heute noch viele Reaktionen prägen. Ich habe im Nachdenken darüber hier in der Gregoriana Studenten gesagt, der Schritt ist noch nicht gemacht in der Türkei, wenn ich meine eigene dunkle Geschichte benenne, dann brauche ich doch keine Angst zu haben, mein Gesicht zu verlieren, sondern was dann von mir abfällt, ist nicht meine Identität und Würde, sondern nur die Maske, die ich bisher aufhatte. Wenn das wegfällt, sehe ich und sieht die Menschheit meine Wahrheit, die nicht immer bildschön ist, aber eben weil sie meine Wahrheit ist, ihre eigene Würde hat.“

Radio Vatikan: Sehen Sie einen Unterschied zwischen der Haltung der offiziellen Türkei, also der Regierung, und dem breiten  Volksempfinden? Entspricht das wirklich …? Sie haben angedeutet, es gibt auch Kreise oder einzelne Individuen in der Türkei, die eine Aufarbeitung der Geschehnisse in der Türkei vor 100 Jahren fordern.

„Da kann ich Ihnen eine Geschichte nennen, die mich dazu bringt, die Stimmung in der Türkei heute anders wahrzunehmen als noch vor 15 Jahren. Ich habe nämlich vorletzte Woche in der theologischen Fakultät der Muslime an der Universität Ankara eine Reihe von Vorträgen gehalten, einer war auch ein großer öffentlicher, in dem ich benannt habe, dass Johannes Paul II. im Jahr 2001 für das Massaker an den Armeniern das Wort Völkermord verwendet hat. Der Vortrag ging dann weiter, dann gab es eine Fragerunde, und am Ende meldete sich einer und sagte: Wenn der Heilige Stuhl Brüderschaft mit den Völkern der Erde will, dann darf das Wort Völkermord nicht fallen. Da war genau dieses Denken dahinter:Wer das Wort sagt, ist nicht unser Freund. Und der Fragende fügte noch an, das müssen Sie dem Papst mit nach Rom bringen. Ich habe geantwortet, ich kann das natürlich in Rom erzählen, aber ob ich es dem Papst selbst übermitteln kann, ist nicht so sicher, und ich werde natürlich auch sagen, dass das bei meinem Vortrag   e i n e   Stimme aus dem Publikum war. Und als ich das gesagt hatte, merkte ich, wie mehrere Blicke – es waren über 100 Leute bei dem Vortrag – mir signalisierten, ja, das haben Sie richtig wahrgenommen, der hat nicht für uns alle gesprochen. Das war für mich interessant und erfreulich. Es gibt nicht nur türkische Wissenschaftler, es gibt nicht nur den Schritt von Recep Tayyip Erdogan auf die Armenier zu – wir kondolieren euch, wir drücken unser Mitleid aus, letztes Jahr hat er das ja gesagt für die Ereignisse 1915, sondern es gibt auch eine größere Bereitschaft, anzuerkennen, dass da mehr war als nur ein durch Kriegsereignisse erklärbares Vorgehen und ein Kollateralschaden.“

Radio Vatikan: Warum gibt denn da Ihres Erachtens heute eine größere Bereitschaft, in der Türkei den Völkermord an den Armeniern als solchen anzuerkennen?

„Der Gründungsmythos der aktuellen Türkei hat sich etwas verschoben. Die türkische Republik wurde 1923 aus den Scherben des Ersten Weltkriegs gegründet; und alles, was während des Ersten Weltkriegs stattfand, wie auch das Massaker an den Armeniern, gehörte zu der Geschichte, mit der die Türkei sich identifizierte und was das Selbstverständnis der Türkei ausmachte. Da waren unsere Helden, die von allen anderen Ländern bedrängt waren, und die haben mit großem Mut das große Werk vollbracht, eine moderne Türkei zu gründen. Bis vor etwa zehn Jahren war das im kollektiven Bewusstsein der Gründungsmythos, und Sie können bis heute sehen, wie das in den Schulbüchern oder in historischen Inszenierungen in Ankara an den republikgründenden Mythen-Stellen, etwa dem Museum um das Atatürk-Mausoleum herum, präsent gehalten wird. Jetzt aber sind wir in der Türkei einen Schritt weiter gekommen. Der Gründungsmythos für die augenblickliche Türkei ist nicht mehr das Geschehen im Ersten Weltkrieg, sondern man greift zurück auf frühere Ereignisse, man erinnert sich zurück an das Osmanische Reich in seiner Blütezeit, im 16./17. Jahrhundert, wo man ein Vielvölkerreich war, wo auch die Armenier als hochgeachtete Millet – Glaubensnation – ihren eigenen Entfaltungsbereich, ihr eigenes Zivilgesetz, ihren Lebensraum hatten. Das ist auch Präsident Erdogans Programm, an eine frühere türkische Geschichte, nämlich an das Osmanische Reich anzuknüpfen; und dann kann man auch deutlicher sagen, was 1915 geschehen ist, war keineswegs nur die Aktion von bedrohten Helden, sondern hier können wir noch mal neu hinschauen und klarer sehen, was da tatsächlich auch von türkischer Seite verbrochen wurde.“

Radio Vatikan: Einige Beobachter fühlen sich an die Effekte der sogenannten Regensburger Rede erinnert. Papst Benedikt XVI. hatte in dieser akademischen Vorlesung ein islamkritisches Zitat benutzt, was in der muslimischen Welt zu schweren Misstönen führte, bis hin zu Toten. Mittelfristig war der Effekt der Rede aber positiv, weil beide Seiten danach einen Schritt aufeinander zugingen und eine neue Ära im christlich-muslimischen Dialog begann. Wird die „Völkermord“-Aussage denselben Effekt haben?

„Natürlich können wir keine sicheren Prognosen treffen. Es ist für die Türkei auch eine schwierige Phase. Tage, in denen sie dieses schwerwiegende Wort aus dem Mund eines Menschen hören, den sie sehr schätzen – Papst Franziskus hat eine sehr gute Presse in der Türkei und wirklich viele Sympathien – wir müssen jetzt mit der Türkei auch verständnisvoll umgehen, indem wir nicht sagen, damals die Regensburger Rede hat doch auch so viel Gutes hervorgebracht, jetzt lasst euch einmal darauf ein! Als Christen, als Menschen die wissen, dass sie in der Heilsgeschichte leben, haben wir bei allem, was geschieht, immer die Hoffnung, dass es demnächst sich als Wahrheit herausstellen wird: alles dient denen, die Gott lieben, zum Guten. Ich fände es verkehrt, den Türken mit erhobenem Zeigefinger zu sagen, ihr werdet gleich sehen, der Schmerz ist vorbei und das Gute wird sich zeigen. Wir müssen ihnen jetzt Zeit lassen, aber wir haben auch hier in Beispiel, wie Papst Franziskus einer Lebenshaltung gerecht wird, die uns eigentlich immer auszeichnen sollte, und die für ihn von Anfang an bezeichnend war.Er redet ja immer von der apertura, von der Offenheit. Offenheit heißt, ich benenne in Demut, Klarheit und Ehrlichkeit, was problematisch ist, was ich dir sagen muss; das griechische Wort für die Offenheit, mit der die Apostel ihr Zeugnis abgelegt haben, ist ja die Parrhesia (,das Ganze sagen‘). Aber bei Papst Franziskus haben wir noch eine andere Seite der Offenheit: Ich bin dann, wenn ich mein Zeugnis abgelegt habe, wenn ich das, was ich sagen musste, gesagt habe, auch weiter offen, um mit dir diesen Weg, nachdem es gesagt ist, zu gehen, offen auch, dass du mit deinen Reaktionen, mit deinem Nachdenken mich überraschen wirst, und unsere Hoffnung ist, dass es in den nächsten Wochen auch gute Überraschungen in diesem Prozess der Offenheit gibt.“

Radio Vatikan: Wie empfinden sich von ihrem Selbstverständnis her heute in der Türkei lebende armenische Christen?

„Ich war gerade über Ostern in der Türkei und habe mit den Christen von Ankara, so ökumenisch muss ich das sagen, Ostern gefeiert. Denn alle Christen, die nicht evangelisch sind, kommen in die Kirche, die den Jesuiten in Ankara anvertraut ist. Alle syrischen Christen, orthodox und katholisch, die Griechen – es sind wenige –, die kommen alle zu uns, weil sie keine eigenen Kirchen in Ankara haben. Und auch die beiden armenischen Kirchen, die Armenisch-Apostolischen wie die Katholiken. Und eigentlich fühlen sich die Christen heute sicherer, besser aufgehoben, mehr integriert als vor 15 Jahren in der Türkei. Das liegt eben auch an dem Projekt Erdogans und der AK-Partei, eine religiöspluralere Welt zuzulassen. Wer dann nicht religiös sein will, oder wer einer sozial konservativen Wertelinie nicht entspricht, der hat es heute schwerer. Aber wer wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Kirche in der Türkei „anders“ sein will, der erlebt im Moment eine Pluralisierung und damit eine offenere, integrierendere Türkei.“ 

(rv 15.04.2015 gs)








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