2015-03-10 14:37:00

Das große Papst-Interview für die Armenzeitung


Papst Franziskus hat abermals ein Interview gegeben. Die Nachricht ist diesmal auch, wem er es gab: einer kleinen Straßenzeitung aus einem Armenviertel von Buenos Aires, die erst letzten Dezember gegründet wurde. Es waren die Einwohner des Viertels Carcova selbst, die die Fragen an den Papst formulierten. Der Pfarrer von Carcova ist Jose Maria di Paola, ein geistlicher Ziehsohn Bergoglios. Er zeichnete am 7. Februar in Rom die Antworten von Papst Franziskus auf. Das Interview – eine Art bodenständiges Pendant zum Interview für die Jesuitenzeitschriften von 2013 – erscheint wenige Tage vor dem zweiten Jahrestag der Wahl Bergoglios zum Papst am 13. März 2013.

Wir dokumentieren eine zusammenfassende Übersetzung von Gudrun Sailer. 

 

Sie sprechen viel von der Peripherie. Woran denken Sie, wenn Sie von Peripherie sprechen? An uns, die Leute aus dem Armenviertel?

Franziskus: „Wenn ich von Peripherie spreche, spreche ich von Grenzen. Normalerweise bewegen wir uns in Räumen, die wir auf gewisse Weise kontrollieren. Das ist das Zentrum. Aber wenn wir uns vom Zentrum weg bewegen, entdecken wir mehr Dinge. Und wenn wir dann von jenen Dingen, die wir entdeckt haben, wieder auf das Zentrum schauen, von unseren neuen Positionen, von dieser Peripherie, sehen wir, dass die Wirklichkeit anders ist. Eine Sache ist es, die Wirklichkeit vom Zentrum zu sehen, und eine andere ist es, sie vom entferntesten Ort zu sehen, an den sie gelangt sind. Die Wirklichkeit sieht man besser von der Peripherie als vom Zentrum. Auch die Wirklichkeit eines Menschen, der existenziellen Peripherien und sogar die Wirklichkeit des Denkens. Du kannst ein sehr scharfes Denken haben, aber wenn du dann jemandem gegenüberstehst, der außerhalb dieses Denkens ist und du irgendwie die Berechtigung deines eigenen Denkens suchen musst, und zu diskutieren beginnst, dann wächst du an der Peripherie des Denkens des anderen.“

 

Drogenabhängigkeit wird immer schlimmer

Sie kennen unsere Probleme. Die Drogenabhängigkeit wird immer schlimmer und zerstört unsere Jugendlichen. Wer kann uns schützen? Und wir können wir uns selbst schützen?

Franziskus: „Das stimmt, die Drogenabhängigkeit wird immer schlimmer. Es gibt Länder, die bereits Sklaven der Droge sind, das macht uns Sorgen. Was mich am meisten beunruhigt, ist der Triumphalismus der Drogenhändler. Diese Leute schreien bereits Sieg, sie haben gewonnen. Mit Blick auf Argentinien kann ich nur folgendes sagen: vor 25 Jahren war es ein Durchgangsland für Drogen, heute werden sie dort konsumiert. Und ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, dort werden auch Drogen hergestellt.“

Was ist das wichtigste, was wir unseren Kindern mitgeben müssen?

Franziskus: „Die Zugehörigkeit. Die Zugehörigkeit zu einem Zuhause. Die Zugehörigkeit entsteht durch Liebe, durch Zeit, indem man die Kinder an der Hand führt, ihnen zuhört, mit ihnen spielt, ihnen in jedem Moment das gibt, was sie brauchen, um zu wachsen. Vor allem, indem man ihnen Raum gibt, sich auszudrücken. Wenn du nicht mit deinen Kindern spielst, bringst du sie um die Erfahrung der Unentgeltlichkeit. Wenn du ihnen keinen Raum gibst, sich auszudrücken und zu sagen, was sie fühlen, ja sogar mit dir zu streiten, weil sie sich frei fühlen, dann hinderst du sie am Wachsen. Aber das wichtigste ist der Glaube. Es tut mir weh, wenn ich Jugendliche sehe, die nicht wissen, wie das Kreuzzeichen geht. Diese Jugendlichen haben das wichtigste verpasst, was ein Vater und eine Mutter ihnen geben können: der Glaube.“

 

Jeder Mensch kann sich ändern

Sie glauben immer, dass die Möglichkeit zur Änderung besteht, sowohl bei Menschen, die im Leben sehr herumgeworfen wurden, als auch in sozialen oder internationalen Situationen, die Ursache großen Leides für die Bevölkerung sind. Woher nehmen Sie diesen Optimismus, auch in Lebenslagen, wo man verzweifeln müsste?

Franziskus: „Jeder Mensch kann sich ändern, auch die am schwersten geprüften. Ich kenne Leute, die existenziell bedroht waren, und heute sind sie verheiratet und haben ein Zuhause. Das ist nicht Optimismus, das ist Gewissheit in zwei Dingen. Erstens Vertrauen in den Menschen. Der Mensch ist das Bild Gottes, und Gott schätzt sein Abbild nicht gering, sondern erlöst es immer irgendwie. Und das zweite ist die Kraft des Heiligen Geistes, der langsam auf die Gewissen einwirkt. Es ist nicht Optimismus, sondern Glaube in den Menschen, in die Person, weil sie Tochter Gottes ist. Gott gibt seine Kinder nicht auf. Ich wiederhole gern den Satz, dass wir Kinder Gottes „die Pfote auf jede Maus legen“ [etwa: in jede Falle tappen], wir irren uns, wir sündigen, aber wenn wir um Vergebung bitten, vergibt Gott immer. Er wird nie müde uns zu vergeben. Wir sind es, die – wenn wir viel von uns halten - müde werden, um Vergebung zu bitten.“

Wie kann man es schaffen, im Glauben fest und sicher zu sein?

Franziskus: „Ja, es gibt Höhen und Tiefen. In einigen Augenblicken sind wir überzeugt von der Gegenwart Gottes, in anderen vergessen wir das. Die Bibel sagt: das Leben des Menschen ist ein Kampf. Das heißt, du musst in Frieden sein und kämpfen. Vorbereitet, nicht zu versagen, immer wachsam sein, und andererseits alle schönen Dinge genießen, die Gott dir im Leben gibt. Wachsam sein, nicht schwarzseherisch, nicht pessimistisch.

Wie kann man konstant im Glauben sein? Wenn du dir nicht versagst, ihn ganz nahe zu spüren, wirst du den Glauben in deinem Herzen finden. An anderen Tagen kann es sein, dass du überhaupt nichts spürst. Und doch ist der Glaube da, richtig? Man muss sich an die Vorstellung gewöhnen, dass der Glaube kein Gefühl ist. Manchmal gibt uns der Herr die Gnaden, ihn zu spüren, aber der Glaube ist mehr als das. Der Glaube ist meine Beziehung mit Jesus Christus, ich glaube, dass Er mich gerettet hat. Das ist der richtige Punkt des Glaubens. Überleg dir einmal selber, in welchen Augenblicken deines Lebens es dir schlecht ging, wo du dich verirrt hast, wo es nicht lief, und beobachte, wie Christus dich gerettet hat. Und halte das fest, das ist die Wurzel deines Glaubens. Und immer das Evangelium in der Hand. Führe immer ein kleines Evangelium in der Tasche mit. Das ist das Wort Gottes. Davon lebt der Glaube. Nach alldem aber: Der Glaube ist ein Geschenk, keine psychologische Haltung. Und wenn du ein Geschenk kriegst, behältst du es doch, oder? Empfange also das Geschenk des Evangeliums und lies es. Lies es und höre das Wort Gottes.“

 

Mein Leben war gar nicht so intensiv und reich

Sie haben ein reiches Leben. Wir wollen auch so ein reiches, intensives Leben. Wie stellt man es an, nicht unnütz zu leben? Und wie kann man wissen, dass man nicht unnütz lebt?

Franziskus: „Naja, ich habe eigentlich ziemlich unnütz gelebt, oder? Mein Leben war gar nicht so intensiv und reich. Ich bin ein Sünder wie jeder. Bloß lässt der Herr mich einfach Dinge machen, die sichtbar sind. Wie oft gibt es Leute, die man nicht sieht, aber das Gute, das sie tun! Intensität lebt man innen, und indem man den Glauben nährt. Wie? Mit fruchtbaren Werken, mit Werken der Liebe für die Leute. Vielleicht ist die schlimmste Sünde gegen die Liebe, einen Menschen zu verleugnen. Da gibt es einen Menschen, der dich liebt, und du verleugnest ihn und tust so, als kennst du ihn nicht. Wer uns am meisten liebt, ist Gott. Gott zu verleugnen ist eine der schlimmsten Sünden, die es gibt. Der Heilige Petrus beging diese Sünde, er verleugnete Jesus… und sie machten ihn zum Papst! Und was bleibt mir da noch übrig? Vorwärts!“

Behalten Sie Menschen in Ihrer Nähe, die nicht mit Ihnen übereinstimmen?

Ja, sicher.

Und wie gehen Sie mit ihnen um?

Franziskus: „Es ist mir nie schlecht ergangen, diesen Menschen zuzuhören. Jedes Mal, wenn ich ihnen zuhöre, ist es gut. Jene Male, wo ich ihnen nicht zuhörte, war es schlecht. Denn selbst wenn du nicht immer einer Meinung bist, geben sie dir immer etwas oder sie bringen dich in eine Lage, dass du so deine eigenen Sachen überdenken musst. Und das hilft dir. Das ist die Art, mit denen umzugehen, die nicht einer Meinung mit uns sind. Also, wenn es da jemanden gibt, der anderer Meinung ist und ich grüße ihn nicht, dann schlage ich ihm die Tür vor der Nase zu und lasse ihn nicht sprechen, ich frage ihn nichts, und dann ist es offensichtlich, dass ich mich selbst erniedrige. Das ist der Reichtum des Dialogs. Man wird reicher, indem man miteinander spricht und einander zuhört.“

Viele Jugendliche leben heute in virtuellen Beziehungen, das ist auch im Armenviertel so. Wie stellt man es an, dass sie aus ihrer Fantasiewelt hinausgehen und echte Beziehungen unterhalten?

Franziskus: „Ich würde unterschieden zwischen der Welt und der Fantasie der virtuellen Beziehungen. Manchmal sind die virtuellen Beziehungen nicht bloß Fantasie, sondern konkret, real. Aber klarerweise ist das Wünschenswerte die nicht-virtuelle Beziehung, eine physische Beziehung der Zuneigung. Ich glaube, die Gefahr, die wir heute laufen, ist es, durch viele virtuelle Fertigkeiten zu „Museums-Jugendlichen“ zu werden. Ein „Museums-Jugendlicher“ ist sehr gut informiert, aber was macht er mit all dem? Im Leben fruchtbar zu sein, das geht nicht über den Weg, Information anzusammeln oder einfach virtuell zu kommunizieren, sondern das Konkrete der Existenz zu verändern. Letzten Endes ist es das: lieben.

Du kannst einen anderen Menschen lieben, aber wenn du ihm nicht die Hand gibst, ihn nicht umarmst, ist es nicht Liebe; wenn du jemanden liebst, so wie du ihn heiraten würdest, also mit dem Wunsch, dich diesem Menschen komplett auszuliefern, und ihn nicht umarmst, nicht küsst, ist es nicht echte Liebe. Virtuelle Liebe gibt es nicht. Es gibt eine virtuelle Liebeserklärung, aber in der echten Liebe ist körperlicher, konkreter Kontakt vorgesehen. Gehen wir zur Essenz des Lebens. Ich spreche gern von den drei Sprachen: die Sprache des Kopfes, die Sprache des Herzens und die Sprache der Hände. Diese drei müssen in Harmonie sein. Sodass du denkst, was du fühlst und was du tust, dass du fühlst, was du denkst und tust, und dass du tust, was du fühlst und denkst. Wenn man auf der Eben des Virtuellen leibt, ist das wie in einem Kopf ohne Körper zu leben.“

 

Hoffentlich gibt es einen kostenlosen Wahlkampf

Gibt es etwas, das Sie der argentinischen Regierung im Wahljahr vorschlagen möchten?

Franziskus: „Erstens, ein klarer Wahlkampf. Jeder soll sagen: Wenn wir regieren, machen wir dieses oder jenes. Schön konkret. … Zweitens, Ehrlichkeit in der Darstellung der eigenen Haltung. Und drittens – das ist eines der Dinge, die wir erreichen müssen, hoffentlich schaffen wir es – ein kostenloser Wahlkampf, einer, der nicht gesponsert wird. Denn in der Finanzierung von Wahlkämpfen tauchen viele Interessen auf, die am Ende die Rechnung präsentieren. Man muss unabhängig sein. Die Finanzierung muss öffentlich sein. Sie muss transparent und sauber sein.“

Wann kommen Sie nach Argentinien?

Franziskus: „Im Prinzip 2016, aber Genaueres steht noch nicht fest, weil man das mit anderen Reisen in andere Länder abstimmen muss.“

Wir hören im Fernsehen Berichte, die uns sehr weh tun, dass es Fanatiker gibt, die Sie ermorden wollen. Haben sie keine Angst? Und wir, die wir Sie lieben, was können wir tun?

Franziskus: „Das Leben ist in Gottes Händen. Ich habe zum Herrn gesagt: Schau auf mich. Aber wenn dein Wille ist, dass ich sterbe oder dass sie mir irgendetwas tun, bitte ich dich nur um einen Gefallen: dass es mir nicht weh tut. Denn ich bin sehr feig im Aushalten von körperlichem Schmerz.“

(rv/La Carcova News 10.03.2015 gs)








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