2014-12-10 12:22:00

Sierra Leone: „Wir sind hier vergessen“


Alles nicht mehr so schlimm mit Ebola? Die Welle der Neu-Infektionen in Westafrika sei gestoppt worden, hieß es unlängst in der westlichen Presse. Aber Bruder Lothar Wagner glaubt den Zahlen nicht: Der 40-jährige Salesianerbruder lebt seit sechs Jahren in Sierra Leone, kümmert sich dort vor allem um Straßenkinder – und dementiert im Telefoninterview mit dem Kindermissionswerk „Die Sternsinger“, dass die Zahl der Neuinfektionen zurückgehe.

 

„Für Sierra Leone trifft das definitiv nicht zu, zumal wir hier von einer sehr hohen Dunkelziffer ausgehen müssen. Offiziell haben wir jede Woche 400 Neuinfektionen. Landesweit stehen nicht einmal 300 Behandlungsbetten zur Verfügung – und das nach acht Monaten Ebola-Krise in Sierra Leone. Das ist für mich kaum zu fassen! Ich muss hier wirklich von einem Totalversagen der internationalen Gemeinschaft sprechen, und das ist Fakt. Das ist teilweise nur Gerede und kein überzeugendes Handeln. Fatal ist meines Erachtens auch, dass wir kein Medieninteresse mehr hier haben. Es geht wohl nur noch um nationale Sicherheitsinteressen bei den Europäern und den Amerikanern. Und wenn die Medien nicht mehr hierüber berichten, gibt es eine Korrelation zur politischen Willensbildung, habe ich festgestellt. Das bedeutet letztendlich: Ja, wir sind hier momentan vergessen.“

 

Allein im November gab es 7.300 Verdachtsfälle auf Ebola bei Kindern in Sierra Leone. Verdachtsfälle werden, solange es keine freien Betten in einem Behandlungszentrum gibt, in sogenannte Holding-Center gebracht – „geparkt“, sagt Bruder Lothar Wagner.

 

„Allerdings, aufgrund fehlender Behandlungsmöglichkeiten sterben dort die Menschen reihenweise weg, und da sind auch viele Kinder darunter. Daher befindet sich hinter dem Holding-Center, also dem Parkplatz sozusagen, auch ein Friedhof. Und die Toten in diesem Holding-Center tauchen in keiner Statistik auf! Es werden dort keine Blutproben entnommen, weil wir derzeit so damit beschäftigt sind, bei Verdachtsfällen Blutproben zu entnehmen. Wir haben das Gleiche in Häusern und Zonen, die unter Quarantäne stehen. Dort fehlt es einfach an Ärzten und Krankenpflegern, um dort Menschen, die Verdachtssymptome aufzeigen, von den anderen zu trennen. Derzeit sieht es so aus, als würde sich das Virus irgendwann einmal ausbrennen. Im Bild kann man sprechen, dass das Kaminfeuer irgendwann einmal erlischt, wenn es kein Brennholz mehr hat. Und davon sind natürlich die Kinder doppelt betroffen.“

 

Das zeigt sich auch statistisch: So ist die Zahl der Waisenkinder in Sierra Leone dramatisch gestiegen, von 670 Ende Oktober auf jetzt mehr als 4.000 Kinder. Bruder Lothar Wagner sucht den Kontakt mit diesen Waisen.

 

„Sie sind teilweise schwerst traumatisiert, sind initiativlos, haben keinen Appetit, wirken introvertiert, starren nur in eine Ecke, weinen. Viele haben ihre eigenen Eltern in ihrem Haus sterben sehen, haben sich dann selbst infiziert, da sie den Eltern auch nahe sein wollten. Dann konnten sie geheilt werden und werden nun von den eigenen Familienmitgliedern ausgestoßen, die zum Teil sogar ihre Elternhäuser geplündert haben. Hier bedarf es natürlich ganzheitlicher Hilfen. Und das heißt: Neben den primären Grundbedürfnissen - also Essen, medizinische Versorgung - braucht das Kind mit Sicherheit Traumaheilung, Gespräche, Spielen, eine vertraute Umgebung wie eine Schulklasse. Also, der Lehrer ist eine Bezugsperson, er ist bekannt. Und das bieten wir Salesianer Don Boscos in dem landesweit größtem Therapiezentrum am Internationalen Flughafen von Freetown an.“

 

Der Schwerpunkt der Arbeit der Salesianer in Freetown liegt „in der Krisenintervention und in der Traumaheilung eben dieser Kinder“. Schon seit dreißig Jahren sind die Salesianer in Sierra Leone.

 

„Wir haben den Rebellen-Krieg, kann man sagen, überlebt hier, und sind dort ausgebildet – gerade was es betrifft, traumatisierten Kindern zu helfen. Es gibt derzeit direkt betroffene Kinder durch die Ebola-Pandemie. Es gibt aber auch eine Vielzahl an Nebenwirkungen, die auch direkt die Kinder betreffen. Und die rücken derzeit eben nicht in den Fokus. Mädchen werden, empirisch gesehen, vermehrt Opfer sexuellen Missbrauchs. Da haben wir in den letzten Monaten einen großen Anstieg. Das können wir hier sagen, weil wir auch ein Mädchenhaus betreiben, für Mädchen, die Opfer von Gewalt geworden sind. Ermittlungs- und Justizbehörden arbeiten nur noch sehr eingeschränkt, weil sie in der Quarantäne eingespannt sind oder in der Ebola-Bekämpfung.“

 

Die Salesianer im Zentrum Don Bosco Fambul in Freetown haben vor zehn Tagen einen Schock erlebt, als ihr angestellter Hausarzt, Dr. Songu, „positiv getestet“ wurde, berichtet Wagner. Doch der Verdacht auf Ebola hat sich dann doch nicht bestätigt. Und für Wagner hat „diese Situation auch gezeigt, dass unsere Sicherheitsmaßnahmen schon greifen“.

 

(rv/kindermissionswerk die sternsinger 10.12.2014 sk)








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