Martin Schulz: Papst kann Vorbild für Europäer sein
Papst Franziskus macht
eine „multipolare Welt“ keine Angst, und hier kann er Vorbild für die Europäer sein.
Das hat EU-Parlamentspräsident Martin Schulz im Interview mit Radio Vatikan betont.
Anne Preckel sprach mit ihm an diesem Donnerstag nach der Audienz bei Papst Franziskus.
Er habe mit Franziskus über die „Begleitumstände“ des Papstbesuches im EU-Parlament
gesprochen, so Schulz über seine Audienz beim Papst. Der Papst habe zwar nicht verraten,
was er am 25. November sagen wolle, so der SPD-Politiker. Über eines sei man sich
aber einig gewesen: dass die Visite des lateinamerikanischen Papstes in Straßburg
eine „einmalige Chance“ sei „für beide Seiten“ . Schulz:
„Wir werden vielleicht
die Persönlichkeit im Europaparlament empfangen, die zur Zeit nicht nur für Katholiken,
sondern für viele Menschen ein Referenzpunkt, ein Punkt der Orientierung ist in einer
Zeit, in der viele Menschen desorientiert sind, weil die Welt sich in dramatischer
Schnelligkeit entwickelt, in verschiedene Richtungen, teilweise auch sehr riskante.
Da ist der Papst für viele Menschen einer, der Mut macht mit seiner optimistischen
Gradlinigkeit. Auf der anderen Seite trifft der Papst auf ein Europäisches Parlament,
das an Selbstbewusstsein und Macht gewonnen hat, an Einfluss gewonnen hat, und in
dem 750 Abgeordnete sitzen, die 507 Millionen Menschen in 28 Staaten repräsentieren.
Das heißt, das Auditorium ist auch ein Resonanzboden für Hunderte Millionen Menschen
– also ich glaube, dass das ein sehr bedeutender Moment sein wird.“
Wie
wird es wohl aufgenommen werden, dass der Papst von einem anderen Kontinent stammt?
„Ich
wünschte mir, es hätten mehr Europäer diesen Blick auf Europa, den dieser lateinamerikanische
Papst hat. Papst Franziskus ist, so wie ich ihn verstehe, jemand, der im Zusammenschluss
in Europa und der Völker nicht nur friedenspolitisch – das sowieso – aber auch als
ein Instrument in der multipolaren Welt, in der wir leben, eine große Chance sieht,
und ich wünschte mir, es gäbe mehr Europäer, die diese Meinung teilen!“
Man
hat teilweise den Eindruck, im kriselnden Europa denken viele Länder derzeit nur daran,
die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Jetzt kommt da ein Papst aus Lateinamerika
mit einer Botschaft der Solidarität, der Offenheit, einer Kultur der Begegnung, der
über eine Wirtschaft spricht, die „tötet“. Meinen Sie als erfahrener Politiker, dass
diese Worte in dieser Lage tatsächlich auf fruchtbaren Boden fallen werden und gehört
werden im EU-Parlament?
„Dessen bin ich mir ganz sicher! Wenn Sie sich die
Entschließungen und die Resolutionen des Europäischen Parlaments anschauen, werden
Sie sehen, dass wir das Thema soziale Gerechtigkeit, das Thema der Massenarbeitslosigkeit
vor allem von jungen Menschen, als eine Bedrohung für den sozialen Zusammenhalt in
der Gesellschaft ja häufig thematisieren. Das Europäische Parlament ist auch das Parlament,
in dem die Bankenunion beschlossen wurde – ich nehme das nur mal als kleines Beispiel:
Das heißt, die Aufsicht über Banken zur Verhinderung dieses hemmungslosen Spekulationskapitalismus,
die Begrenzung von Bankerboni – die ist im Europäischen Parlament beschlossen worden,
und zwar quer über alle Fraktionsgrenzen hinweg gibt es schon den Willen, diesen aus
den Fugen geratenen Spekulationskapitalismus zu zügeln, unter dem wir ja teilweise
leiden, vor allem die mittleren und kleinen Unternehmen, die nebenbei bemerkt das
Rückgrat unserer Wirtschaften sind, am meisten leiden. Um das zu zähmen und in den
Griff zu kriegen, gibt es eigentlich eine parteienübergreifende Meinung, dass das
notwendig ist. Insofern sind diese Botschaften ja nicht nur für das Europaparlament
wichtig. Sie finden im Europaparlament sicher eine große Resonanz, aber sie sind wichtig
für unsere Gesellschaften insgesamt!“
Europa braucht ein legales
Einwanderungsrecht
Deutlichste Worte hat der Papst mit Blick auf Europa
bisher beim Thema Flüchtlinge und Migration gefunden. In Punkto Flüchtlingsschutz
und Lebensrettung auf dem Mittelmeer macht Europa dagegen gerade einen Rückzieher:
Die Rettungsmission „Mare Nostrum“ der italienischen Marine soll in diesen Tagen vom
Grenzschutzprogramm „Triton“ abgelöst werden, das heißt Grenzschutz, nicht mehr vorrangig
Lebensrettung. Man bekommt den Eindruck, dass Europa, wenn es um die Sorge um die
eigenen Ränder geht, auch um Lebensrettung, das nicht als eine gemeinsame Aufgabe
versteht.
„Ja, der Eindruck ist richtig. Und ich gehöre zu denjenigen, die
das am meisten kritisieren. Ich war vor wenigen Tagen in Lampedusa, habe mir das vor
Ort angeschaut, habe übrigens auch gesehen, was die Soldaten der italienischen Marine
im Rahmen der Mare Nostrum-Operation leisten, das will ich ausdrücklich unterstreichen:
Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich so viel humane Zuwendung von Soldaten
erlebe, wie ich das von den Offizieren und Mannschaften der italienischen Marine da
gesehen habe, auch der Carabinieri und der Guardia di Finanza, die diese Operation
betreiben. Die Europäer, nicht nur die Institutionen, auch die Mitgliedsstaaten, müssen
sich darüber im Klaren sein: Wir müssen nüchtern sehen, dass die Auflösung ganzer
Staaten in unserer unmittelbaren Nachbarschaft dazu führt, dass wir mit diesen Problemen
konfrontiert sind und dass wir sie in den Griff bekommen müssen. Wir können nicht
in dem Zynismus weiterleben, dass die Menschen auf hoher See sterben, wir betrauern
das und gehen dann zur Tagesordnung über? Wir brauchen eine Kombination aus humanitärer
Hilfe, aber auch humanitärer Hilfe in den Ländern, brauchen auch eine Fluchtursachenbekämpfung,
die diesen Namen verdient. Also ganz klar: Europa wird in seiner Flüchtlingspolitik
deutliche Veränderungen herbeiführen müssen.“
Warum tut man sich in Europa
so schwer, legale Wege für Schutzsuchende in die EU zu erleichtern? Wäre nicht eine
grundlegende Reform des Asylverfahrens Dublin längst überfällig?
„Die EU
ist ja in diesem Fall nicht die handelnde Ebene, seien wir mal ganz ehrlich: Der Flüchtlingsbereich
liegt in den Händen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Deshalb bevorzuge
ich, die Antwort präzise zu fassen: Sie haben Recht – die Mitgliedsstaaten, die unter
dem Dach der Europäischen Union als souveräne Staaten handeln, müssen eine andere
Flüchtlingspolitik entwickeln. Was ich nicht länger akzeptiere, auch als Präsident
einer europäischen Institution, ist, dass die Mitgliedsstaaten der EU schon bei der
Aufteilung von Flüchtlingskontingenten sich nicht einigen können, es aber in der Öffentlichkeit
heißt, die EU...! Nein, es sind ihre Mitglieder, die nicht zu gemeinsamen Ergebnissen
kommen. 50 Prozent, habe ich in einer der letzten Statistiken gesehen, gehen in drei
Staaten: nach Deutschland, Frankreich und Schweden; wir haben aber 28 Mitgliedsstaaten.
Das ist auch völlig klar: Wenn Sie in einem Land von – sagen wir – 60 Millionen Einwohnern
wie in Frankreich 200.000 Flüchtlinge haben, dann ist das etwas anderes, als wenn
Sie 200.000 Flüchtlinge verteilen auf 507 Millionen Menschen in 28 Staaten. Das ist
auch für die einzelnen Kommunen, die einzelnen Regionen viel leichter zu managen.
Und deshalb: Die Dublin-Konvention wird ganz sicher nicht ausreichen, um unsere Flüchtlingsproblematik,
die Migrationsprobleme zu bewältigen.“
Aber dieses Dilemma besteht – dass
man im Grunde kein Druckmittel hat, um eine konstruktive Einigung beim Thema - ja,
auch zu erzwingen, zu fördern.
„Eine Frage, die Sie sicher nicht nur mir
stellen, wie ich denke, sondern vor allem auch den Innenministern und den Regierungschefs
der Mitgliedsstaaten… Aber wir haben ja ein Druckmittel! Das Druckmittel ist das,
was jeden Tag passiert. Seien wir doch mal nüchtern: Diejenigen, die den Menschen
erzählen, man müsse nur die Grenzen dicht machen, dann kämen keine Flüchtlinge mehr,
die erzählen den Leuten ja was Falsches. Es wird weiterhin eine Flüchtlingsproblematik
geben. Und was wir brauchen, ist ein dreigleisiges Vorgehen: Wir brauchen einen effizienten
Schutz für politisch Verfolgte, einen verbesserten temporären Schutz für Menschen,
die nur zeitlich begrenzt Schutz in Europa suchen. Ein Beispiel sind die syrischen
Bürgerkriegsflüchtlinge, und wir hatten in den 80er Jahren libanesische Flüchtlinge,
die sind nach Ende des Krieges wieder zurückgegangen. Und drittens braucht Europa
ein legales Einwanderungsrecht, so wie es alle anderen großen Einwanderungsregionen
der Welt haben, die USA, Kanada, Australien, Neuseeland, Lateinamerika. Der Papst
weist ja immer darauf hin, dass er der Nachkomme italienischer Einwanderer in Argentinien
ist. Zu dem legalen System gehört allerdings eine Aussage: Das bedeutet nicht, dass
alle Menschen kommen können, aber man kann beantragen zu kommen, dann kommt man auf
eine Anwartschaftsliste, und dann hat man eine Chance auf legale Einwanderung. Auch
dazu gehört dann auch eine Verteilung auf die Mitgliedsstaaten - und das ist der beste
Weg, der illegalen Menschenschlepperei den Riegel vorzuschieben!“