Kardinal Schönborn: Schritt für Schritt in die Ehe
Unser Redaktionsleiter
Pater Bernd Hagenkord gehört zu den wenigen Journalisten, die in der vatikanischen
Synodenaula die Beratungen hinter verschlossener Tür mitverfolgen. Er darf keine Geheimnisse
ausplaudern - aber Interviews führen, das darf er. An diesem Mittwoch sprach er mit
dem Wiener Erzbischof, Kardinal Christoph Schönborn, dem Vorsitzenden der Österreichischen
Bischofskonferenz.
Kardinal Schönborn, bei der Pressekonferenz gestern,
aber auch bei den Beratungen ist immer wieder von „Gradualität“ gesprochen worden.
Vielleicht könnten Sie erklären, was damit gemeint ist?
„Wir alle wissen,
dass es das unveränderliche Gesetz Gottes gibt. Die Zehn Gebote stehen nicht zur Disposition,
die kann man nicht verändern. Aber wir erleben im eigenen Leben, dass wir sie nur
zum Teil verwirklichen, nicht zur Gänze. Wir wissen, dass wir sie ganz verwirklichen
sollten, wir schaffen es nicht hundertprozentig. Das Gesetz ist nicht graduell. Es
gibt nicht mehr stehlen oder weniger stehlen. Stehlen ist stehlen – das siebte Gebot
ist das siebte Gebot. Und lügen ist lügen.”
Aber wir in unserem Leben können
uns dem Wort Jesu – dein Ja sei Ja, dein Nein sei Nein – mehr oder weniger annähern.
Das nennt man die Gradualität der Verwirklichung des Gesetzes.
“Wenn man
das auf die Situation von Ehe und Familie anwendet, dann muss man sagen: Die volle
Verwirklichung ist natürlich die im Glauben vor Gott und vor der Kirche geschlossene
sakramentale Ehe, die unauflöslich ist, die für die Lebenszeit der Ehepartner gültig
ist und die offen ist für das neue Leben, für Kinder. Aber wir wissen auch, dass viele
Menschen diese volle Gestalt der Ehe, so wie sie auch im Plan Gottes gesehen ist,
erst allmählich erreichen. Papst Franziskus hat uns erst bei dem Besuch der österreichischen
Bischöfe im Jänner im Gespräch gefragt: ‚Wie ist das bei euch, ist das ähnlich wie
in Argentinien, dass viele junge Menschen zuerst einmal zusammenleben?‘ Er hat damit
nicht gesagt, dass das in Ordnung ist, dass das okay ist. Er hat nur gesagt, dass
es so ist. Und dass, wenn ein Kind unterwegs ist, man sich darüber Gedanken macht:
‚Vielleicht wollen wir doch heiraten, sollten zivil heiraten?‘. Und manche machen
dann auch den weiteren Schritt und sagen: ‚Wir wollen kirchlich heiraten. Wir wollen
unsere Beziehung in die volle Gestalt einer Ehe einbringen‘.
„Die Menschen
Schritt für Schritt in die Gradualität begleiten“
„Der Papst hat uns
gesagt, dass wir diese Menschen begleiten müssen, Schritt für Schritt in diese Gradualität,
damit sie entdecken, was die volle Gestalt des Sakramentes ist. Was die Ehe im Plan
Gottes ist. Natürlich gibt es, Gott sei Dank, mehr und mehr junge Leute, die diesen
Weg bereits in frühen Jahren durch den Glauben, vielleicht auch durch das Vorbild
ihrer eigenen Familien entdecken, und ihn mit ganzem Herzen und mit ganzer Bereitschaft
gehen. Viele andere lernen das erst allmählich kennen. Wichtig ist, dass wir sie begleiten
- und das meint, so glaube ich, die Rede von der Gradualität, nicht des Gebotes Gottes,
sondern der Erfüllung des Gebotes Gottes.“
Heißt das nun, ich kann auch
in nicht-sakramentalen Ehen, also in Beziehungen, das Positive finden?
„Ich
kann eine unvollkommene Version von zwei Seiten her sehen, und beide Seiten haben
ihre Berechtigung: Ich kann auf das sehen, was noch fehlt, und ich kann auf das sehen,
was bereits da ist. Sicher ist es schon ein großer Schritt, wenn junge oder auch ältere
Menschen nicht nur auf flüchtige Beziehungen setzen, sondern den Wert einer treuen,
stabilen, in gegenseitiger Hilfe gelebten Beziehung finden. Wenn sie das finden und
sich wirklich dafür engagieren - da kann ich sagen, ja, das ist keine sakramentale
Ehe, da fehlt etwas. Aber ich kann auch sagen, da ist schon etwas da! Papst Franziskus
hat uns ermutigt und gesagt, schaut auf das, was schon da ist, und begleitet es, natürlich
hin zu einem „vollkommeneren, vollständigen“.
„Die Lebensumstände helfen
nicht immer”
Und was ganz wichtig ist dabei, sind natürlich auch die
Lebensumstände, in denen sich heute Ehe und Familie finden . Wenn in unserem Land,
in Österreich, das unverheiratete Zusammenleben steuerlich bessergestellt ist als
das verheiratete Zusammenleben, dann ist das natürlich für junge Menschen eine große
Herausforderung, ja auch ein Opfer, den Schritt zu machen, wenigstens zivil zu heiraten
oder auch sakramental zivil zu heiraten.
Es gibt auch äußere Lebensumstände,
die Ehe erschweren! Ich denke an unsere frühere Zeit in Österreich und in vielen
Ländern der Welt - in manchen ist es auch heute noch so -, wo eine Heirat mit gewissen
sozialen und finanziellen Verpflichtungen verbunden ist, die ärmere Leute gar nicht
eingehen können. Ich denke da zum Beispiel an den seligen Franz Jägerstätter, den
ich sehr verehre. Seine Mutter war eine Bauernmagd, die bei einem Bauern als Magd
gearbeitet hatte. Sie konnte gar nicht heiraten. Sie hatte keine Mittel dazu. Als
dann der Franz als lediges Kind geboren wurde, hat sie dann später, als er schon größer
war, das Glück gehabt, dass ein Bauer bereit war sie zu heiraten, und den kleinen
Franz adoptiert hat. Diese Situationen waren sehr, sehr häufig, nicht nur im ländlichen,
sondern auch im städtischen Bereich. Viele konnten sich eine Ehe auch nicht leisten!
Und da müssen wir pastoral hinsehen, nicht mit urteilendem Blick, sondern mit einem
begleitenden und verständnisvollen und ermutigenden Blick.“
Es gibt hier
sehr viele Geschichten, die man hört, die auch aus der Pastoral kommen. Was heißt
es denn, wenn wir hier bei der Synode über diese Hintergründe hören, wenn wir über
Ehe sprechen? Es muss dann auch zu etwas Konkretem kommen oder zu Übereinstimmungen.
Was kann das, im Namen der katholischen Kirche, für die Ehe im Konkreten bedeuten?
„Ich
glaube, das Wichtigste ist, was an dieser Synode schon am Anfang sehr entscheidend
ist. Das kann man schon nach den ersten drei Tagen sagen: Die Familie wird sozusagen
auf ein Podest gestellt, und das in einer Zeit, wo die Familie für viele als ein überholtes
Auslaufmodell gilt. Wir hören Zeugnisse hier aus der ganzen Welt, wie unglaublich
wichtig die Familie für die Gesellschaft, aber vor allem für den Menschen in seiner
Verwirklichung und in seinem Glück ist. Ich erwarte mir von dieser Synode natürlich
auch Impulse für Situationen des Scheiterns – das ist alles wichtig. Aber was weltweit
gesellschaftlich das große Thema ist, wie es der jetzt leider verstorbene deutsche
FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher gesagt hat: ‚Die Familie ist die Überlebensfabrik
der Zukunft.‘
„Wo Familie ist, ist ein Auffangnetz“
Wir
kommen in schwierige Zeiten, in denen es ökonomisch immer schwieriger wird. Wir sehen
schon jetzt in den europäischen Krisenländern: Dort, wo Familie ist, ist ein Auffangnetz.
Es ist ein spontanes und natürliches und selbstverständliches Auffangnetz, und das
sagen uns deutlich heute säkulare Soziologen, die mit Religion wenig am Hut haben.
Wenn die Gesellschaft etwas braucht für die Zukunftstüchtigkeit, dann ist das Familie.
Und ich denke, niemand kann die Familie mehr unterstützen als die Glaubensgemeinschaft.
Ich erwarte mir von dieser Synode vor allem eine intensive Debatte über die Wichtigkeit
der Familie für eine Gesellschaft, die in schwierige Zeiten kommt.“